Anton Melbye und das Seestück im 19. Jahrhundert -  Regine Gerhardt

Anton Melbye und das Seestück im 19. Jahrhundert (eBook)

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2023 | 1. Auflage
664 Seiten
Hatje Cantz Verlag
978-3-7757-5522-1 (ISBN)
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Zu Lebzeiten für seine emotional aufgeladenen Meereslandschaften mit Schiffen gefeiert und umworben, geriet Anton Melbye nach seinem Tod allmählich in Vergessenheit und wurde erst in den letzten Jahren wiederentdeckt. Insbesondere in seinen ab 1846 entstandenen Bildern des leeren Ozeans entwickelte der dänische Künstler das Seestück zu einem Spiegel der Seele, der Sehnsüchte und Ambitionen seiner Zeit. Erstmals in der Kunstgeschichte ohne Zeichen von Mensch, Schiff oder Küste zielt die bewegte Meeresoberfläche seiner Meereseinsamkeiten in ihrer Gleichförmigkeit, Undurchdringlichkeit und räumlichen Unendlichkeit auf die Verunsicherung der Betrachtenden und wird zur Projektionsfläche existenzieller Reflexion. Von Regine Gerhardt liegt nun das wissenschaftliche Standardwerk zum Leben und Schaffen dieses einzigartigen Malers vor. ANTON MELBYEs (1818, Kopenhagen-1875, Paris) Lebensstationen in Kopenhagen, Hamburg, Paris und Konstantinopel bilden eine Nord-Süd-Achse, anhand derer die europäische Dimension einer erfolgreichen Künstlerkarriere im 19. Jahrhunderts sichtbar wird. Neben seinen in Öl gemalten Seestücken fand er für seine technisch komplexen Kohle- und Kreidezeichnungen Anerkennung und genoss - wie auch seine Künstlerbrüder Vilhelm und Fritz Melbye - die Wertschätzung privater Kunstsammler. REGINE GERHARDT (1969-2018, Hamburg) studierte Geschichte und Kunstgeschichte in Hamburg und Dublin. Sie wirkte bis zu ihrem Tod als freie Kunsthistorikern zur bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts. Ihre Promotion zu Leben und Werk Anton Melbyes erfährt mit dieser Veröffentlichung eine späte Würdigung.

Cover
Title
Copyright
Contents
Zum Geleit: Zwischen allen Stühlen – Melbyes schwieriger Weg ins Museum – Hendrik Ziegler
Einleitung
I Künstlerische Anfänge 1838–1847 in Dänemarks »Goldenem Zeitalter«
II Auf neuen Wegen – Künstlerische Experimente in Paris 1847–1853
III In Konstantinopel und am Bosporus 1853/54 – Die Orientreise als Karrieremotor
Abbildungen
IV Sturm und Stille – Seestücke und Binnenlandschaften in den späten 1850er und 1860er Jahren
V Fin – Rückblick und Ausblick
Anmerkungen
Künstlerbiographie in Daten
Werkkatalog der behandelten Ölbilder, Handzeichnungen, Druckgraphiken und Daguerreotypien
Abkürzungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis

Zum Geleit: Zwischen allen Stühlen – Melbyes schwieriger Weg ins Museum

Hendrik Ziegler

»Nicht erst seit heute kennen wir die Marinen von Monsieur Melbye und bewundern das transparente und flüssige Wasser, das sich mit aller Wahrheit an den Flanken der Schiffe brechen wird. Monsieur Melbye ist ein geliebter Künstler, der nicht allein zu Dänemark gehört, sondern zu Europa und vor allem zu Frankreich.1 Die versierte Bildhauerin, Kunstkritikerin und feministische Schriftstellerin Marie-Noémi Cadiot (1828–1888), die meist noch unter dem männlichen Pseudonym Claude Vignon publizieren musste, beansprucht in ihrer Besprechung der 1855 in Paris ausgetragenen Weltausstellung den Beitrag Anton Melbyes nicht nur für seine dänische Heimat, sondern für Europa, ja für Frankreich. Dabei hatte sich Melbye auf der Pariser Schau mit einem ansonsten von ihm selten praktizierten Genre – dem historischen Seegefecht – präsentiert: einer monumentalen Darstellung des Siegs der dänischen über die schwedische Flotte in der Schlacht in der Køgebucht, die sich am 11. und 12. Juli 1677 zugetragen hatte (vgl. Abb. 213, S. 330). Das Bild – eine Auftragsarbeit des dänischen Königshauses – erinnerte an einen der größten Seesiege Dänemarks über die Schweden. Obwohl es sich im Aufbau an den etablierten Schemata solcher Seegefechtsdarstellungen auf ruhiger See orientierte, wie sie vor allem die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts bereithielt, traf das Gemälde durch seinen martialisch-patriotischen Gehalt den Nerv des französischen Publikums des Zweiten Kaiserreichs. Denn die Weltausstellung in Paris diente Kaiser Napoleon III. nicht zuletzt als Bühne, den expansiven Großmachtanspruch Frankreichs aller Welt vor Augen zu führen. Melbyes Evokation der militärischen Überlegenheit Dänemarks über seinen einstigen Erzrivalen im Ostseeraum ließ sich leicht in Parallele zu Frankreichs Wettlauf mit den imperialen Bestrebungen Großbritanniens bringen, der gerade an Tempo gewann.

Diese Episode beleuchtet schlaglichtartig eines der Leitthemen der vorliegenden Studie: Basierend auf eingehenden Bildanalysen und einer genauen Rekonstruktion der jeweiligen Entstehungs- und Rezeptionszusammenhänge gelingt es Regine Gerhardt, den Drahtseilakt nachvollziehbar zu machen, den es für den in Kopenhagen, Hamburg und Paris arbeitenden und agierenden Marinemaler bedeutet haben muss, seiner kosmopolitischen Grundhaltung gemäß zu leben, ohne dabei seine aufrichtige Anhänglichkeit zu seiner Heimat zu verleugnen.

Seit 1847 hatte Melbye seine Geburtsstadt Kopenhagen gegen die französische Metropole als Lebens- und Arbeitsort eingetauscht. In nur wenigen Jahren hatte er sich von einem Sympathisanten der Revolution von 1848 zu einem hochdekorierten offiziellen Marinemaler Napoleons III. gewandelt. In Paris sollte er bis 1858 bleiben, allerdings unterbrochen durch einen längeren Aufenthalt in Hamburg und vor allem durch eine für ihn prägende Reise an den Bosporus 1853/54. Das Pariser Jahrzehnt brachte Melbye den künstlerischen Durchbruch und den gesellschaftlichen Aufstieg, wodurch er sich in seinem Heimatland allerdings keineswegs nur Freunde machte. 1857 vermählte er sich mit einer Französin, Alice Dupré (1830–1913), mit der er im Jahr darauf zunächst versuchte, wieder in Kopenhagen Fuß zu fassen, um schließlich 1860 Hamburg zu seinen Lebensmittelpunkt zu wählen – frustriert von dem Kopenhagener Zwischenspiel. Selbst wenn er sich in den Folgejahren rege am dänischen Ausstellungsgeschehen beteiligte, blieb Melbye in Hamburg wohnen, um nach dem Deutsch-Französischen Krieg, im Herbst 1871, nach Paris zurückzukehren, wo er 1875 starb.

Trotz aller Nähe zu Frankreich ist das Werk des einst so gefeierten Marinemalers aber erstaunlicherweise in den Museen des Nachbarlandes nicht präsent. Wenn man die Räume des Pariser Musée d’Orsay durchstreift, wird man vergebens nach Gemälden von Anton Melbye Ausschau halten. Auch das Musée national de la Marine in Paris und das Musée national du château de Versailles besitzen keine Arbeiten Melbyes – beides Museen, die bereits zu Lebzeiten des Künstlers vornehmlich auf Darstellungen historischer Ereignisse spezialisiert waren. Selbst außerhalb Frankreichs befinden sich nur wenige Werke in öffentlichem Besitz: zum einen natürlich in Kopenhagen, der Geburtsstadt des Künstlers (u. a. im Statens Museum for Kunst, in der Den Hirschsprungske Samling und im Thorvaldsens Museum), zum anderen in der Hamburger Kunsthalle und im dortigen Altonaer Museum.

Diese spärliche Präsenz in den großen Schausammlungen der Gegenwart bestätigt die Einschätzung von Regine Gerhardt in der Einleitung zu ihrer Studie, nämlich dass Anton Melbye zu den heute zu Unrecht vergessenen »Wegbereitern der Moderne« gehöre, selbst wenn er nicht »zu den großen Namen der Avantgarde zu zählen« sei (S. 18). Zu der bis heute anhaltenden partiellen damnatio memoriae des Malers haben aber auch zeitspezifische Gründe beigetragen, wie die Autorin überzeugend herausarbeiten kann: Zwar hat der Däne sein Leben lang die offiziellen Salons und Weltausstellungen als Schaufenster und Verkaufsplattformen genutzt; daneben setzte er seit der zweiten Hälfte der 1850er Jahren aber auch in progressiver Weise gezielt den Kunsthandel und sein Atelier als Orte der Kommerzialisierung seiner Kunst ein. Seine Bilder waren fast nie Auftragsarbeiten, sondern meist gehobene Sammlerstücke, die für Privatkunden oder Galeristen gedacht waren. In Hamburg kooperierte er eng mit dem Kunstsalon Louis Bock & Sohn. Daher zirkulieren seine Arbeiten bis heute im Kunsthandel und befinden sich meist in Privatsammlungen. Es kann somit nicht genug gewürdigt werden, dass die Autorin in mühseliger Kleinarbeit einen Katalog zusammengetragen hat, der dem zerstreuten und schwer zugänglichen Œuvre des Künstlers überhaupt erst wieder Kontur verleiht.

Ein anderer Umstand, der schon seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer zurückhaltenden Integration der Werke Melbyes in öffentlichen Museen beigetragen haben wird, kommt allerdings noch hinzu – wie Regine Gerhardt überzeugend zeigen kann: Melbye hatte nicht zuletzt seinen künstlerischen und sozialen Aufstieg Napoleon III. zu verdanken. Er verherrlichte die Mittelmeerflotte, die im Krimkrieg zum Einsatz kam, durch »wenige – wenn auch entscheidende – Gemälde«, die »als Propagandabilder für die politischen Ambitionen des französischen Kaisers« gelten können (S. 249). Im Deutsch-Dänischen Krieg, 1864, hatte sich der Kaiser der Franzosen nicht hinter Dänemark gestellt, sondern die aggressive Annexionspolitik Preußens unterstützt – in der Hoffnung auf entsprechende territoriale Kompensationen. Die Autorin thematisiert die zwiespältige Rezeption, der sich Melbye in den 1860er Jahren gegenübersah: Während man in Dänemark seiner Kunst mit Skepsis begegnete, traf sie in Berlin und Hamburg auf Euphorie. Die Zurückhaltung im Heimatland lässt sich vornehmlich damit erklären, dass dort noch immer der nationalromantisch gesinnte Kunsthistoriker Niels Lauritz Høyen die Kunstkritik bestimmte. In dessen Augen hatte sich Anton Melbye von einer auf nüchterner Naturbeobachtung und korrekter Perspektivkonstruktion basierenden Malerei entfernt, wie sie dessen Lehrer Christoffer Wilhelm Eckersberg in der ersten Jahrhunderthälfte an der Kopenhagener Akademie betrieben hatte. Während Eckersberg die dänische Malerei zu ihrem Höhepunkt – einem »goldenen Zeitalter« – geführt habe, habe sich Melbye, nach Ansicht Høyens, in Frankreich zu einer gefühlsbetonten und effektsuchenden Kunst hinreißen lassen. Umfassend zeichnet Regine Gerhardt diesen nationalistisch gefärbten Kunstdiskurs nach, der maßgeblich zur ambivalenten Bewertung von Melbyes Kunst in Dänemark beigetragen hat.

Darüber hinaus deutet die Autorin allerdings noch einen weiteren – hochbrisanten – Umstand an, der dazu geführt hat, dass sich Melbye als offizieller Marinemaler des Second Empire in den Augen seiner Landsleute kompromittiert, wenn nicht sogar in den Verdacht des Landesverrats gebracht hatte. Sein Gemälde der Seeschlacht vor Helgoland – einer der wenigen Seesiege, die die dänische Flotte im Verlauf des Deutsch-Dänischen Krieges im Mai 1864 über die alliierten Flottenverbände der Österreicher und Preußen davontragen konnte – ist dafür ein sprechendes Zeugnis (Abb. 731, S. 331). Wie die Autorin herausarbeitet, hatte Melbye seine Bildversion der Seeschlacht gezielt als »‚unparteiischen‘ Kriegsbericht« abgefasst, »ohne vordringlich patriotische oder propagandistische Funktion« (S. 422–429). Das Gemälde zeigt, wie sich eine österreichische Fregatte zwischen eine bereits angeschossene weitere österreichische Fregatte und eines der feuernden dänischen Kriegsschiffe schiebt, um der angeschlagenen Fregatte den Abzug zu erleichtern. Das großformatige Gemälde gelangte denn auch nicht in eine dänische Sammlung, sondern in die eines Hamburger Bürgerschaftsabgeordneten. Die Hansestadt hatte während des Krieges auf Österreichs Seite gestanden. Melbye war klug genug, sich seine deutsche Käuferschaft nicht durch eine zu lautstarke patriotische Parteinahme für sein Heimatland zu verprellen – ein...

Erscheint lt. Verlag 4.10.2023
Reihe/Serie Hatje Cantz Text
Hatje Cantz Text
Mitarbeit Designer: Neil Holt
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Schlagworte 19. Jahrhundert • Dänemark • Hamburg • Kunstgeschichte • Küste • Landschaft • Landschaftsmalerei • maritime Malerei • Meer • Seemalerei • seestück
ISBN-10 3-7757-5522-5 / 3775755225
ISBN-13 978-3-7757-5522-1 / 9783775755221
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