Spiele der Sprache (eBook)

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2023 | 1. Auflage
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490581-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Spiele der Sprache -  Martin Seel
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Ein Buch über Spiele der Sprache darf selbst ein Spiel mit ihr sein: Der Frankfurter Philosoph Martin Seel liefert mit »Spiele der Sprache« ein eindrucksvolles Plädoyer dafür, die Rolle der Sprache innerhalb der menschlichen Welt aus der gleichberechtigten Vielfalt ihrer Gebrauchsweisen zu verstehen. Dieser Maxime folgend bedient er sich auf seiner Reise durch die Landschaft der Sprachphilosophie verschiedener Möglichkeiten, das Spiel der Sprache zu spielen: Argumentation, Erzählung, Improvisation. Dabei lässt er verschiedene Denker und philosophische Traditionen in Dialog miteinander treten - von Herder über Humboldt bis Wittgenstein, von romantischen über analytische, pragmatistische und phänomenologische bis hin zu dekonstruktiven Auffassungen - und nimmt so eine Korrektur ihrer wechselseitigen Blindheiten vor. Ein virtuos komponierter Versuch über die »Spiele der Sprache«, der vergegenwärtigt, was das sprachliche Leben bewegt und wie alle, die es führen, von ihm bewegt werden.

Martin Seel, geboren 1954 in Ludwigshafen am Rhein, ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bei S. FISCHER sind erschienen »Paradoxien der Erfüllung« (2006), »Theorien« (2009), »111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue« (2011), »Die Künste des Kinos« (2013), »Aktive Passivität« (2014) sowie »?Hollywood? ignorieren. Vom Kino« (2017).

Martin Seel, geboren 1954 in Ludwigshafen am Rhein, ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bei S. FISCHER sind erschienen »Paradoxien der Erfüllung« (2006), »Theorien« (2009), »111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue« (2011), »Die Künste des Kinos« (2013), »Aktive Passivität« (2014) sowie »›Hollywood‹ ignorieren. Vom Kino« (2017).

Sätze […], das will der Philosoph Martin Seel in seinem so meisterlichen wie spielerischen Buch "Spiele der Sprache" zeigen, haben Gewicht.

Sein Buch ist vor allem eine Aufforderung, Sprache [...] im Modus der Neugier, der Offenheit und der Freude zu erkunden und zu aktualisieren.

Ein luzides Buch, gründlich durchdacht, brillant formuliert: fröhliche Wissenschaft.

1. Ursprünge


Das schönste Dokument der neu erblühten sprachphilosophischen Leidenschaft im 18. Jahrhundert ist Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache, geschrieben 1770 und erschienen 1772. Der Autor beantwortet darin die 1769 gestellte Preisfrage der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ob – und falls ja, auf welchem Weg – die Menschen kraft ihrer natürlichen Anlagen die Sprache erfinden konnten. Mit großer Verve wirbt Herder dafür, die Sprache als eine durch und durch menschliche Hervorbringung aufzufassen: Es liegt in der Natur des Menschen, sich Sprachen zu erfinden und diese stets fortentwickeln zu müssen. Wie seine Vorläufer nimmt Herder die damals virulenten Gedankenexperimente über die Entstehung der Sprache zum Anlass, deren Rolle innerhalb menschlicher Lebensformen zu umreißen. Er nimmt Stellung zu allen seinerzeit verhandelten Alternativen – ob die Sprache göttlichen oder menschlichen Ursprungs sei, ob ihre Erfindung dialogisch oder monologisch vonstatten ging, ob sie durch die Ausbildung von Konventionen oder auf dem Weg der Nachahmung des Bezeichneten entstand, ob sie ihren Anfang in pragmatischen Regelungen oder im poetischen Ausdruck hatte.

Eine lebendigere Abhandlung über die Sprache ist nie geschrieben worden. Obwohl Herder die Obsession seiner Zeitgenossen in Sachen Sprachursprung teilt, teilt er zugleich mächtig gegen seine Mitstreiter aus. Die poetische Gerechtigkeit, die er der Ausdruckskraft der Sprache mit seinem dramatischen Stil angedeihen lässt, geht mit einer gehörigen Ungerechtigkeit gegenüber seinen Widersachern einher. So wütet Herder gegen die konventionalistische Sprachauffassung Condillacs, dem er vorwirft, sich in einem heillosen Zirkel verrannt zu haben, weil er die Entstehung der Sprache auf eine Verabredung »im gegenseitigen Kommerz« (US 709) der Menschen zurückführe. »Kurz, es entstanden Worte, weil Worte da waren, ehe sie da waren.« (US 710) Aber so muss Condillac gar nicht gelesen werden. Der Prozess der Sprachentstehung, den dieser in seinem Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis aus dem Jahr 1746 skizziert, kann als ein intersubjektives Sicheinspielen signifikativer Lautgestalten aufgefasst werden, worauf Condillacs Betonung eines aus »Gewöhnung« entstehenden »Gebrauchs« dieser Zeichen verweist, der sich »unmerklich« vollzogen habe. (Condillac 2006, 174–177, 216f.) Ein derartiges Übereinkommen setzt keine durch Verabredung zustande gekommene »Übereinkunft« voraus. So gesehen, wäre die »Erfindung« der Sprache keine willkürliche Setzung, sondern ein unwillkürliches Finden.

Der Einwand, den Herder gegen Condillac vorbringt, findet sich fast wortgleich bereits in Rousseaus Essay Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen von 1755 (Rousseau 1971, 155). Während jedoch Condillac, wie Herder sagt, »die Tiere zu Menschen« machte, weil er ihnen bereits Sprachfähigkeit verlieh, bevor sie der Sprache fähig sein konnten, wird Rousseau dafür abgemahnt, dass er »die Menschen zu Tieren machte«, weil er ihnen die Fähigkeit zur Spracherfindung abspricht. (US 711) Tatsächlich aber verhält sich Rousseau lediglich skeptisch gegenüber der Möglichkeit, aus einem »gewaltigen Abstand« das Entstehen einer spezifisch menschlichen Sprache aufklären zu können. (Rousseau 1971, 153, 161) Wenig pfleglich – wir befinden uns in der Epoche des Sturm und Drang – behandelt Herder auch Süßmilchs 1766 veröffentlichten Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe. Mit überzeugenden Argumenten weist er Süßmilchs Annahme eines göttlichen Ursprungs der Schriftsprache zurück (US 702ff.); zugleich wirft er ihm den Glauben an eine Arbitrarität sprachlicher Zeichen vor (US 743). Dies hindert Herder jedoch nicht daran, Süßmilchs These eines inneren Zusammenhangs von Vernunft und Sprache recht ungeniert zu übernehmen – einen Gedanken, der die von Aristoteles bis zu Thomas Hobbes und John Locke vorherrschende instrumentalistische Sprachauffassung verabschiedet. (US 725ff.; Süßmilch 1766, 4f., 33ff.) Diese Auffassung hat bei Condillac ebenso deutliche Spuren hinterlassen wie bei Maupertuis, was sich bereits am Titel seines 1756 erschienenen Essays erkennen lässt: Abhandlung über die verschiedenen Mittel, deren sich die Menschen bedient haben, um ihre Vorstellungen auszudrücken (Maupertuis 1988). Sprache als ein Mittel, dessen sich die Menschen bedienen, um ihren vorsprachlichen Gedanken zum Ausdruck zu bringen: Schon für die allerersten Schritte der Sprachentstehung verwirft Herder diese Auffassung mit einer entschiedenen Geste.

Gegen seine Hauptgegner, Konventionalisten wie Hobbes, Locke und Condillac, mit Abstrichen auch Maupertuis und Süßmilch, die in den Wörtern der Sprache willkürliche Bezeichnungen sehen, legt sich Herder auf einen mimetischen Sprachursprung fest. Unter der Führung des Gehörs lässt er die Sprache aus Akten einer sondierenden Nachahmung der sinnlichen Erscheinungen der Welt entstehen. (US 704f., 740ff.) »Da sang und tönte also die ganze Natur vor.« (US 741) Nicht ein rudimentärer Dialog unter Menschen, sondern ein nachbildender »Dialog« mit der akustisch und anderweitig sinnlich beredten Natur steht für Herder am Anfang der Sprachentwicklung. Die synästhetischen Anmutungen der Natur werden umgewandelt zu einem »anerkennenden« Erkennen (US 722, 726) ihrer Merkmale, festgehalten durch zunächst »innerliche Merkworte« (US 724f.). Sprache soll nicht aus willkürlichen sozialen »Regeln« (US 753), sondern als ein sinnliches und besinnendes Aufnehmen von Eindrücken entstanden sein. Nicht umsonst ist »Besonnenheit« bei Herder ein Deckwort für »Vernunft« (US 719ff.). »O die Gesetze der Natur sind mächtiger als alle Konventionen, die die schlaue Politik schließet und der weise Philosoph aufzählen will.« (US 787) Gott oder die Natur, argumentiert Herder, haben dem Menschen das Potenzial zur Erfindung der Sprache verliehen, das im herausgreifenden Aufmerken auf Lautgestalten der Natur zum ersten Mal aktualisiert wurde. »Am wenigsten ists Einverständnis, willkürliche Konvention der Gesellschaft; der Wilde, der Einsame im Walde hätte Sprache für sich selbst erfinden müssen, hätte er sie auch nie geredet.« (US 725) – »Vernunft und Sprache taten gemeinschaftlich einen furchtsamen Schritt, und die Natur kam ihnen auf halbem Wege entgegen – durchs Gehör. Sie tönte das Merkmal nicht bloß vor, sondern tief in die Seele hinein! Es klang! Die Seele haschte – da hat sie ein tönendes Wort!« (US 734)

Herder konzipiert die Entstehung der Sprache monologisch: An ihrem Ursprung steht ein »inwendig sprechender Mensch« (US 731), der noch gar nicht in der üblichen Weise spricht. Trotz dieser solitären Genese ist die Sprache auch für Herder wesentlich intersubjektives Medium. Das soziale Phänomen der Sprache aber will er aus der individuellen Befähigung des Gattungswesens Mensch zum sprachlichen Denken und Handeln erklären. Für Herder ist Sprache erst im zweiten Schritt ihrer Entstehung eine stimmliche Artikulation relevanter Aspekte der Welt. Vor der stimmlichen Kommunikation kommt die mimetische Konzentration. Für einen rabiaten Antikonventionalisten ist das nur konsequent. Diese Konsequenz allerdings hat ihren Preis. Gegen die Annahme einer willkürlichen Gestalt sprachlicher Zeichen schreibt Herder dem Vokabular der frühen menschlichen Sprachen einen durchweg onomatopoetischen Charakter zu, der sich erst nach und nach abgeschwächt habe. Aus der Beobachtung, dass sich vielen Wörtern der gegenwärtigen Sprachen – insbesondere in ihrem poetischen Gebrauch – eine lautmalerische oder bildliche Bedeutung abgewinnen lässt, folgert Herder, dies müsse die ursprüngliche Art ihrer Bedeutungshaftigkeit gewesen sein. Herder übersieht dabei, dass auch und gerade arbiträren Zeichen ein mimetischer Charakter zukommen oder an ihnen entdeckt werden kann. Dass »Blitz« und »Donner« willkürliche Zeichen sind, hindert ihre Verwender nicht daran, ihre lautmalerischen Qualitäten zu vernehmen. Sprachliche Konventionen schließen mimetische Konnotationen keineswegs aus. Nicht ohne Grund kam die Frage, welches Vermögen der Sprache, das nachbildende oder das aus beliebiger Konvention gebildete, für ihre Verfassung grundlegend sei, schon in Platons Dialog Kratylos zu keiner eindeutigen Entscheidung. Herder hingegen schließt sich der Vorstellung an, Sprache sei zunächst »Poesie« gewesen und erst später zur »Prosa« geworden. »Was so viele Alten sagen und so viel Neuere ohne Sinn nachgesagt, nimmt hieraus sein sinnliches Leben: ›daß nemlich Poesie älter gewesen als Prosa!‹ – Denn was war diese erste Sprache als eine Sammlung von Elementen der Poesie? Eine Nachahmung der tönenden, handelnden, sich regenden Natur!« (US 740)

Im 18. und 19. Jahrhundert ist dies ein wirkmächtiger Topos. In seinen Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker von 1744 möchte Vico »die Irrtümer der Philologen« zu Fall bringen, »daß die Sprache der Prosaiker die eigentliche, die der Dichter die uneigentliche sei; und daß man zunächst in Prosa, später in...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Schlagworte Condillac • Davidson • Demokratie • Gedanken • Herder • Humboldt • Philosophische Untersuchungen • Poesie • Pragmatik • Prosa • Regelfolgen • Sprache und Denken • Sprachphilosophie • Sprachtheorie • Übersetzung • Verstehen • Wittgenstein
ISBN-10 3-10-490581-9 / 3104905819
ISBN-13 978-3-10-490581-5 / 9783104905815
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