»es gibt im Moment keine besseren Künstler als uns in Deutschland« (eBook)
248 Seiten
Hatje Cantz Verlag
978-3-7757-5076-9 (ISBN)
Cover
Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort - Matthias Mühling und Nina Zimmer
»Es geht auch anders, aber so geht es auch …« Editorische Anmerkung zu HP Zimmers »Tagebuch« - Barbara Hess
Vorwort (1984) - HP Zimmer
Tagebuch 1957–1965
Anmerkungen
Personenverzeichnis
Bildnachweis
1957
München, 15.3.1957
Sehr unbequem fuhr ich die Nacht durch und ging in München gleich zur Akademie, ein alter, verfallener Palast, innen modern. Wenn ich eine Bescheinigung, aus der hervorgeht, dass ich in Hamburg die Probezeit bestanden habe, beibringe, brauche ich die Aufnahmeprüfung nicht zu machen. Ich schreibe heute noch deswegen.
26.4.57 München
Ankunft in München um halb elf. Diesmal hatte ich Liegewagen. Warmer, sonniger Frühlingstag. Bei der Vermieterin Enttäuschung: Sie hatte die Bude, die ich vor 6 Wochen gemietet hatte, noch mal vermietet. Die Alte ist vielleicht geschäftstüchtig. Ein Kitschmaler mit einem blauen Auge wohnt da jetzt drin, sie gab mir aber was anderes. Spaziergang im Englischen Garten. Es dämmerte, der Bach rauschte, während am Himmel ein von der Abendsonne beschienenes Flugzeug kreiste. Am nächsten Tag in einigen Galerien, Riemenschneider, Manzù, Fuhr. Abends in den »Fahrraddieben«1, später durch Schwabing gebummelt.
30.4.57
Erster Tag der Aufnahmeprüfung. Aktzeichnen. Der Professor sah mir über die Schulter und sagte: Das ist zu barock.
Nachmittags Besuch bei Dr. Graßmann, dem Freund meiner Eltern, um meine Hemden abzuholen. Er spricht von der bayerischen Monarchie, erst durch die Heirat mit preußischen Prinzessinnen sei sie dekadent geworden. Später ging’s um Michelangelo. Ich sagte, ja, ja, aber der war auch mal Avantgardist, und wer die alte Kunst wirklich schätzt, versteht auch die neue, weil er darin vieles wiederentdeckt.
Sonnabend, 4.5.57
Prüfung bestanden.
HP Zimmer
Entkleidung Christi nach El Greco 1957
Öl auf Leinwand 50 × 33 cm
7.5.57
Zum ersten Mal in der Malklasse von Glette, einem noblen Mann mit grauen Schläfen. Sehr missgestimmt, als ich die zu malenden Töpfe, Krüge und Schüsseln mit Orangen sah. Die Schüler hatten die Orangen aufgegessen und nur die verschrumpelten Schalen übriggelassen.
Abends Klee gelesen, das Pädagogische Skizzenbuch.
Morgens mache ich mir in der Küche etwas Wasser heiß zum Rasieren und für den Kaffee. Mittags esse ich in der Mensa für 80 Pf. Meine Socken und Hemden wasche ich auch von Zeit zu Zeit, worüber sich die Wirtin totlachen will. Die paar Mini-Bilder, die ich aufgehängt habe, findet sie »pfundig«.
Ich bin bei Glette in einer typischen Malklasse gelandet. Die Staffeleien sind mit dicken Farbkrusten überzogen, der Fußboden ist bunt marmoriert und es stinkt nach Öl und Terpentin. Überall stehen Bierflaschen und vollgeschmierte Leinwände … Etwas beklommen angesichts meiner zukünftigen Wirkungsstätte … Klee, das merkte ich bald, hält man hier für zu intellektuell und das Wort »Kandinsky« spricht man besser nur hinter vorgehaltener Hand aus … Vom Professor ist wohl doch nicht allzu viel zu lernen. Es stellt sich raus, dass er so ’ne Art Spätimpressionist ist. Man malt aber so wie er, also impressionistisch, nur müssen die Farben verdreckt sein durch ständige Übermalungen und mit einem feinen Schlepper muss man zum Schluss dünne Linien drüber zeichnen. Glette plaudert gern über dies und das und versichert mir, meine Sachen seien ganz hübsch.
Das Wichtigste ist, dass ich lerne, mit Farbe umzugehen, kompositionell und formal. Es gibt in der Klasse auch einen Meisterschüler mit schwarzer Hornbrille und Vollbart. Der malt mit großer Wucht, dass die Staffelei fast umfällt. Wenn er fertig ist, kneift er die Augen zusammen und murmelt: »Scheiße!«
Kurzerhand stellt er das Bild auf den Kopf und malt was anderes drüber, bis er auch das wieder abkratzt. Er heißt Helmut Sturm. Er ist der Einzige, mit dem man sich unterhalten kann.
Wir sprachen über Gotik. Er ergriff eine Terpentinflasche, schwang sie hin und her und sagte, die Gotiker sind abschtrackt [sic!], Klee dagegen ist absstrakd [sic!] und so intellektuell, dass einem die Haare zu Berge stehn … Bei den Gotikern kommt z. B. ein und dasselbe Rot mehrfach vor, im Mantel, im Dach, in der Landschaft usw. Die Eigengesetzlichkeit des Bildes … Man darf die Natur nicht vergewaltigen … Der Rhythmus, der Malprozess ist das Wichtigste!
Ich versuche, meiner überquellenden Fantasie mit schwarzen Liniengerüsten und grellen Farben zu Leibe zu rücken. Mir gehen Léger und seine Formen, seine lustige Geometrie im Kopf herum (im Haus der Kunst die große Ausstellung). Wie soll ich das mit Glettes Stillleben in Übereinstimmung bringen?
Man hat Formen, die man zusammensetzen kann, Bausteine, die zusammen ein Bild ergeben … Seit Cézanne haben sich die Formen verselbstständigt. Alle Formen, die es gibt, malen … Sich nicht einengen lassen, eine Art abstrakter Realismus.
Stimmung gleich null, nichts zustande gebracht. Sehe nur wie im Nebel Léger, Beckmann, Klee und andere Malgötter. Im Kopf. Was ich vor mir sehe, sind lediglich Töpfe und Krüge, Krüge und Töpfe. Dazwischen ist nichts. Ich glaube, ich höre doch auf und schreibe mich lieber für Geografie oder Archäologie ein.
16.6.57
Erst beim Zahnarzt, danach mit Dieter Rempt zum Schliersee. Wir badeten und wanderten im Wald und stritten uns über alles Mögliche. Nächster Tag: Ausstellung Schmidt-Rottluff. Ich zeigte Sturm meine Zeichnungen. Du willst genau dasselbe wie ich, Du bringst es nur nicht zamm [sic!], sagte er. Drei Stunden über Kubismus geredet. Was ist mit der Farbe?
1.7.57
Die Ausbildungsbeihilfe beträgt 50,– Mark. Ich lege sie gleich in Farben, Gründen und Pinseln an. Ich male sowohl vor der Natur als auch frei, um die Mittel in den Griff zu kriegen, aber nur kleine Formate, wegen der drangvollen Enge in der Malklasse. Zwischendurch diskutiere ich mit Sturm über Kunst, was bei Glette und den anderen Studenten übel vermerkt wird (Ihr redet zu viel und malt zu wenig).
HP Zimmer
Amrum 1956
4.7.57
Man kann ja vor der Natur abstrakt malen. Man behält den Ausschnitt bei und verändert die Details so, wie sie aus dem Pinsel kommen, ohne lange hinzusehen. Der Gegenstand ist nur der malerische Anlass, wichtig ist die Gesamtstruktur des Bildes.
Kleine Skizzen auf Hartfaser.
Bei glühender Hitze zur Alten Pinakothek. Danach Lenbachmuseum, Andacht beim heiligen Wassily.
HP Zimmer
Tagebuchzeichnung 1957
Faltblatt zur ersten gemeinsamen Ausstellung im Botanischen Garten, München 1957
13.7.57
Sauferei in Sturms Atelier. Ein Bildhauer namens Lothar Fischer kommt kurz vorbei und Sturm, Rembrandt2 und er beraten über eine Ausstellung junger Künstler, die am 16. Sept. im Alten Botanischen Garten eröffnet werden soll. Eventuell wollen sie mich dazu einladen, wenn ich Bilder habe, ich weiß aber noch nicht, ob ich mitmache. R. erzählt, dass Fischer sehr geschäftstüchtig ist. Eine Putzfrau von der Akademie hat ihm eine kleine Bronze abgekauft und zahlt monatliche Raten à DM 15,–.
Am nächsten Vormittag weiter über die Ausstellung diskutiert. Das geht so seit Tagen. Der Plan ist aufgetaucht, nicht nur einfach eine Ausstellung zu machen, sondern eine Gruppe zu gründen wie der Blaue Reiter oder die Brücke.
20.7.57
Im Akademiegarten. Mit Sturm und Rembrandt (er hat sehr originelle Ansichten) stundenlang über den Raum diskutiert. Das Programm für die blödsinnige Gruppe soll aufgesetzt werden. Sie meinen, ich soll die Texte schreiben, als Preuße könnte ich das. Sturm sagt, unser Ziel ist, dass wir keins haben. Kaum habe ich das notiert, sagt er: »Durchstreichen! Es muss genau andersherum heißen …« Nach einer Stunde habe ich die Nase voll.
Anschließend von Lokal zu Lokal gezogen. Im Hofbräuhaus Gespräche über Frauen und den Fortschritt. Rembrandt hat Schopenhauer gelesen und sagt, er hasst die Frauen. Ich hab aber nicht das Gefühl. Morgens noch in Sturms Wohnung Aquarelle von beiden angesehen und Strawinsky-Platten gehört.
Sonntag: Wieder Morgenandacht bei Kandinsky. Sturm hält einen Vortrag über die Fläche: Wie eine Ameise durchs Gras krabbelt, so bewegt sich der Maler von den kleinsten Einheiten ausgehend über die Fläche. Der Kosmos von Klein, Größer und Groß. Tachismus, kein metrisches Gerüst vorher, Seiltanz ohne Netz. »Was wir eben besprochen haben, ist ganz wichtig, ist die Grundlage der kommenden Kunst. Wir müssen sofort zu Rembrandt und ihm das erzählen.« Ich bin müde, aber Sturm besteht darauf. Wir klingeln. R. öffnet. »Gerade haben wir das Wesentliche in der Kunst des 20. Jahrhunderts entdeckt«, ruft er, noch in der Tür.
Wir marschieren ins nächste Gasthaus und reden weiter über die kommende Malerei. R. ist hungrig und bestellt 2mal Lüngerl … Wie jede Diskussion endet auch diese mit dem Thema Frauen. Zum Schluss bei Sturm eine Oper von Hindemith angehört. Wir schliefen beide ein.
Am nächsten Morgen schimpft Sturm auf die Preußen.
27.7.57
Sturm spielte mir Platten von Bach, Strawinsky und anderen vor. Dann gingen wir essen und redeten über Transparenz. Nachts um 3 wurden wir aus dem Lokal geschmissen. Viel Ärger. Draußen weitergeredet. Über das Organische und das Technische. Nicht analytische Zerstückelung, sondern organische Auflösung in Bewegung. Bewegung ist alles, es gibt keine Form, wenigstens keine vereinzelte, alles hängt zusammen. Es gibt nur Struktur. Sturm ist...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2023 |
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Reihe/Serie | Hatje Cantz Text |
Mitarbeit |
Designer: Neil Holt |
Vorwort | Matthias Mühling, Nina Zimmer |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Malerei / Plastik |
Schlagworte | Kulturgeschichte • Malerei • Zeitgenösische Kunst |
ISBN-10 | 3-7757-5076-2 / 3775750762 |
ISBN-13 | 978-3-7757-5076-9 / 9783775750769 |
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