Philosophie des Jazz (eBook)

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2014 | 1., Originalausgabe
142 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73652-4 (ISBN)

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Philosophie des Jazz - Daniel Martin Feige
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Was ist Jazz? Wie unterscheidet er sich von anderen Arten von Musik? Und inwieweit handelt es sich bei ihm um einen besonders interessanten Gegenstand für das Nachdenken über ästhetische Fragen? Das vorliegende Buch stellt die erste philosophische Auseinandersetzung dar, die sich dem Jazz widmet. Daniel Martin Feige geht darin der Frage des Verhältnisses zwischen Jazz und europäischer Kunstmusik nach und untersucht den Zusammenhang zwischen Musiker und Tradition sowie zwischen Werk und Improvisation. Dabei lässt er sich von der originellen These leiten, dass erst im Jazz zentrale Aspekte musikalischer Praxis überhaupt explizit gemacht werden, die in der Tradition europäischer Kunstmusik implizit bleiben.

<p>Daniel Martin Feige ist Professor f&uuml;r Philosophie und &Auml;sthetik an der Staatlichen Akademie der Bildenden K&uuml;nste Stuttgart.</p>

[Cover] 1
[Informationen zum Buch / zum Autor] 2
[Impressum] 4
Widmung 4
Danksagung 7
Inhalt 5
Kapitel 1: Einleitung »Was ist eine Philosophie des Jazz?« 9
Kapitel 2: Jazz und die Tradition europäischer Kunstmusik 33
Kapitel 3: Werk und Improvisation 56
Kapitel 4: Musiker und Tradition 90
Kapitel 5: Schluss »Die philosophische Relevanz des Jazz« 124
Literaturverzeichnis 133
Namenregister 141

33Kapitel 2
Jazz und die Tradition europäischer Kunstmusik


Beginnen wir mit einer These, die einen deutlichen Unterschied markiert: Im Jazz wird improvisiert, wohingegen in der Tradition europäischer Kunstmusik komponiert wird. So lautet zumindest ein weitverbreitetes Vorverständnis, das einen wesentlichen Unterschied zwischen Jazz und der Tradition europäischer Kunstmusik ausdrücken soll. Es ist hilfreich, die in dieser Unterscheidung investierten Begriffe zu klären. Was Improvisation ist, kann man vorläufig so charakterisieren, dass Musik in der Performance selbst, verstanden als das jeweilige konkrete raumzeitliche musikalische Ereignis, geschaffen wird. Das, was gespielt wird, ist nicht im Vorhinein festgelegt worden. Was Komposition ist, lässt sich demgegenüber vorläufig so erläutern, dass hier etwas geschaffen wird, wodurch Momente dessen, was in einzelnen Performances gespielt wird, bereits vor diesen Performances festgelegt worden sind. Sie sind vorgängig in einer Weise festgelegt worden, dass verschiedene Performances als Darbietungen eines einzigen Werks identifizierbar sind. Der Unterschied zwischen Improvisation und Komposition beträfe dann den Prozess des musikalischen Schaffens, wohingegen der Unterschied zwischen Performance und Werk das Produkt von Improvisation und Komposition kennzeichnen würde. Ersteres meint die Art der Hervorbringung, Letzteres das, was hervorgebracht worden ist. Gemäß dieser Unterscheidung gibt es also zwei unterschiedliche Arten von Performances – solche, die improvisiert sind, und solche, die Aufführungen von Werken sind.[1] Im philosophischen Fachjargon sagt man mit Blick auf den letzteren Fall, dass Werke von Performances instanziiert werden. Man kann den dahinterstehenden Gedanken dadurch erläutern, dass man Folgendes festhält: Das Verhältnis von einem 34Werk zu seiner Aufführung in und durch eine Performance ist ein anderes als das Verhältnis von Improvisation zu der Performance. Die Improvisation ist sozusagen nichts weiter als die Performance, so dass es dieselbe Improvisation nicht zweimal geben kann. Spielt man eine Improvisation, die auf einer Schallplatte oder CD festgehalten worden ist, Ton für Ton nach, so handelt es sich dabei nicht wiederum um eine Improvisation. Das Werk ist hingegen nicht mit einer Performance identisch, da verschiedene Performances Darbietungen desselben Werks sein können. Wie genau das Verhältnis von Performance und Werk hier zu verstehen ist und ob unser Vorverständnis es tatsächlich notwendig macht, improvisierte Performances und Performances, die Aufführungen von Werken sind, so strikt einander gegenüberzustellen, wird Gegenstand des nächsten Kapitels sein. In diesem Kapitel geht es zunächst einmal darum, zu fragen, ob und inwieweit man den Gedanken tatsächlich verständlich machen kann, dass sich Jazz und die Tradition europäi­scher Kunstmusik anhand der Aspekte der Improvisation und der Komposition eindeutig voneinander abgrenzen lassen. Dafür reicht es erst einmal, wenn man von diesem minimalen Vorverständnis ausgeht.

Schon die einleitende Charakterisierung, dass die Improvisation im Moment der Performance geschaffen wird, wohingegen die Komposition Aspekte von Performances im Vorhinein festlegt, ist in verschiedenen Hinsichten erläuterungsbedürftig. Zunächst muss erläutert werden, was genau es heißt, dass etwas vor der Performance durch eine Komposition festgelegt worden ist. Das zu erläutern heißt auch, genauer zu klären, was vor der Performance durch die Komposition festgelegt worden ist. Denken wir zum Beispiel an eine Klaviersonate von Ludwig van Beethoven, etwa die Pathétique. Es gibt hier einen Notentext, der definiert, welche Noten zu spielen sind und von welcher relativen Dauer die jeweiligen Noten, die gespielt werden, zu sein haben. Die Partitur beginnt mit einem siebenstimmigen C-Moll-Akkord, der von der Länge her eine Viertel- und eine punktierte Sechzehntelnote gehalten wird. Das abendländische Tonsystem kennt seit der Ende des 17. Jahrhunderts eingeführten temperierten Stimmung eine gleichmäßige Unterteilung der Oktave in 12 Halbtonschritte;[2] ein 35Ton, der dazwischen liegt und der auf dem Klavier anders als etwa auf Streichinstrumenten gar nicht ohne Präparation des Instruments oder eine andere Stimmung desselben gespielt werden kann, kommt hier nicht vor. Sind Tonhöherelation und Rhythmus somit eindeutig festgelegt,[3] so lässt sich dasselbe nicht für die Dynamik und das Tempo sagen.[4] Zwar finden sich auch hierzu Angaben in der Partitur. Der erste Akkord der Pathétique wird »Fortepiano« gespielt, das Tempo ist mit »Grave« angegeben – Letzteres hat bereits schon den Charakter einer spezifischen Interpretationsanweisung des Notentextes und ist nicht bloß eine Angabe des Tempos, wenn man dieses als bloß mechanische Angabe verstehen würde. Die Anschlagsstärke der einzelnen Töne, die Hervorhebung einzelner Noten im Akkord, die Lautstärke bestimmter Passagen und die genaue Geschwindigkeit des Stücks – diese Angaben gehen aus der Partitur nicht so eindeutig hervor wie die Angaben zur Tonhöherelation und zum Rhythmus. Ist das Spielen eines falschen Tons eindeutig als Fehler identifizierbar, so sind ein etwas leichterer Anschlag oder ein minimal schnelleres Tempo nicht so ohne weiteres als Fehler zu sehen. Über den Anschlag und das Tempo kann man nur im Zusammenhang mit der Frage diskutieren, wie das Werk von der jeweiligen Aufführung interpretiert wird. Und diese Frage ist nicht bloß eine Frage dessen, was sich eindeutig aus der Partitur als Kriterium ablesen lässt, sondern vielmehr eine Frage des ästhetischen Gelingens. Was eine Komposition dieser Beschreibung nach also festlegt, sind bestimmte Parameter der Musik: Einige werden eindeutig festgelegt wie die Tonhöherelation, andere wie das Tempo in weniger eindeutiger Weise. Mit dieser Unterscheidung können 36wir hier zunächst einmal arbeiten, um zu verstehen, was es heißt, dass etwas von der Komposition festgelegt worden ist. Ich möchte gleichwohl schon an dieser Stelle festhalten, dass wir im dritten Kapitel feststellen werden, dass diese Unterscheidung keineswegs so einleuchtend ist, wie sie zunächst zu sein scheint.

Zunächst drängt sich aber ein anderer Einwand gegen diese Charakterisierung auf. Orientiert man sich bei der Frage der Komposition an einer Sonate von Beethoven, so besteht die Gefahr, einen etwas einseitigen Begriff des Komponierens zugrunde zu legen. Nicht allein in der Kunstphilosophie ist es von entscheidender Bedeutung, dass die paradigmatischen Fälle, wenn man denn mit als paradigmatisch ausgewiesenen Fällen argumentiert, tatsächlich konsensfähig sind. Wahrscheinlich handelt es sich bei der Pathétique um einen konsensfähigen paradigmatischen Fall dessen, was unter den Begriff einer Komposition der europäischen Kunstmusik fällt. Aber mit Blick auf die Entwicklungen, die sich ausgehend von der Neuen Musik im 20. Jahrhundert vollzogen haben, kann er in dieser Weise nicht mehr generalisiert werden.[5] Die Neue Musik ist nicht allein durch eine Überschreitung vormals verbindlicher harmonischer und melodischer Strukturen der Musik gekennzeichnet, sondern auch durch vielfältige Versuche, neue Arten musikalischer Notation zu entwickeln. Dazu gehört etwa auch die graphische Notation.[6] Bei der graphischen Notation handelt es sich um Arten der Notation von Musik, bei welchen nur wenige oder sogar keine Elemente der konventionellen musikalischen Notation verwendet werden. Wenn als paradigmatischer Fall also eine Klaviersonate von Beethoven verwendet wird, so muss man einschränkend geltend machen, dass das nur für die konventionelle Notation in der europäischen Kunstmusik gilt. Für Beethovens Klaviersonate gilt aber ebenso wie für in graphischer Notation notierte Werke von Karlheinz Stockhausen oder John Cage, dass das Komponieren als 37das vorgängige Festlegen von Aspekten von Performances an irgendeine Form der notationalen Praxis gebunden ist. Dabei zeigen nicht erst die Entwicklungen der Neuen Musik, dass diese Praxis keineswegs ahistorisch ist.[7]

Kommen wir nun zur Erläuterung der zweiten einleitenden Charakterisierung, dass nämlich Improvisation als das Schaffen von Musik im Akt der Performance selbst zu verstehen sei. Diese Charakterisierung lässt sich leicht missverstehen. So könnte man sie etwa so verstehen, dass ein Performer sich auf die Bühne begibt und einfach losspielt, ohne dass er das Instrument, das er in der Hand hält oder das er im Fall seiner Stimme sozusagen selbst ist, überhaupt beherrscht. Man könnte sie auch dahingehend missverstehen, dass man glaubt, dass der Performer kein Wissen vom Aufbau von Melodien oder üblichen Abfolgen von Harmonien mitbringt. Durch die Zurückweisung dieser Missverständnisse lässt sich zeigen, dass die These, dass es in der Improvisation keine der Performance vorausgehende Festlegung dessen, was gespielt wird, gibt, nicht so zu verstehen ist, dass die musikalische Improvisation selbst keinerlei Voraussetzungen hätte. Zunächst (i) zum ersten Missverständnis, dass der Improvisierende das Instrument, das er in der Hand hält, überhaupt nicht spielen kann. Zwar gibt es durchaus Fälle, in denen Musiker ein Instrument in den Händen halten, das sie faktisch gar nicht spielen können, ohne dass deshalb die in Frage stehenden Performances misslungen wären. So hat etwa der amerikanische Saxophonist und Komponist John Zorn sich an solchen ästhetischen Experimenten als Ensembleleiter versucht. Aber in diesen Fällen handelte es sich um professionelle Musiker, die mit einem Instrument hantieren...

Erscheint lt. Verlag 19.5.2014
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Musik Allgemeines / Lexika
Schlagworte Jazz • Musik • Musikphilosophie • STW 2096 • STW2096 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2096
ISBN-10 3-518-73652-3 / 3518736523
ISBN-13 978-3-518-73652-4 / 9783518736524
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