Flussabwärts nach Amerika (eBook)

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2024 | 1. Auflage
256 Seiten
TULIPAN VERLAG
978-3-641-32932-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Flussabwärts nach Amerika -  Petra Postert
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Zwei Außenseiter suchen die Freiheit und das Glück! Allein auf dem Rhein bis Rotterdam und von dort auf einem der riesigen Auswandererschiffe nach Amerika! Im Jahr 1790 ist das ein waghalsiger Plan. Aber Jacob sieht keinen anderen Ausweg. Denn der Schlüssel zur wertvollen Truhe der Fischer ist ihm in den Fluss gefallen. Dass es ein Missgeschick und kein Diebstahl war, wird ihm, dem Findelkind, wohl keiner glauben. Und so will er seinem Stiefbruder folgen, der sich schon vor Jahren aus dem kleinen Dorf am Oberrhein nach Amerika aufgemacht hat. In einem Fischerkahn begibt sich Jacob auf die weite, abenteuerliche Reise. Begleitet nur von seinem Schwein und bald auch vom Gaunermädchen Amie. Werden sie allen Gefahren trotzen und das große Ziel - Amerika - erreichen?

I. Der Schlüssel


FLUSS

Die Aale schlafen, die Hechte haben einen Mordshunger und sind schon seit dem frühen Morgen auf Beutefang, der Fluss hält still und horcht. Er hat die Pfiffe gehört. Ist da der Junge? Jetzt wieder. Die Pfiffe schießen wie Pfeile. Niemand im Dorf kann so durchdringend pfeifen wie der Junge. Aber ist er es auch? Er hat ihn heute noch gar nicht gesehen.

Im engen Bogen umfließt der Fluss das Dorf. Von oben betrachtet könnte man meinen, er halte es schützend in seinem Arm. Die Leute im Dorf aber würden sagen, so ist es nicht. Der Fluss sei launisch, ein furchtbar unberechenbares Wesen. Und immer rechneten sie mit dem Schlimmsten. In manchen Jahren hat er ihre Ernten ertränkt und Häuser zerstört, andernorts, gar nicht weit von hier, hat er gleich die ganze Siedlung samt Mensch und Vieh verschlungen. Sie könnten sich fernhalten vom Fluss, einfach fortgehen von hier. Aber mit seinen Wassern, seinen Fischgründen hält er sie auch am Leben. Sogar wertvolles Gold führt er in seinem sandigen Geschiebe, klein­ste Plättchen, die in den Pfannen der Goldwäscher funkeln wie die Sterne am Himmel. Güte und Grausamkeit. So und nicht anders kennen sie ihren Fluss. Und er kennt sie auch, kennt ihre Gesichter, ihre Stimmen, lauscht ihrem Leben seit eh und je. Und vergisst nichts. Einmal hat er ein Kind hierhergebracht, einen winzigen Jungen. Die alte Hanne meint, der Fluss gebe seither auf ihn acht. Der Fluss heißt Rhein, der Junge Jacob. Und es ist Mitte Mai im Jahr 1790. Im Sonnenlicht glitzernd strömt der Fluss dahin und hält Ausschau nach dem Jungen.

JACOB

Das Schwein ist weg. Es ist ja nicht ungewöhnlich, dass es allein umherstreift, allein nach Futter sucht, dass Jacob nicht dauernd sein Grunzen und Schmatzen hört, während er Holz sammelt, Fische fängt oder am Flussufer am Feuer sitzt. Aber es ist ungewöhnlich, dass es nicht kommt, wenn er nach ihm pfeift. Und Jacob hat gepfiffen, viele Male schon und in alle Himmelsrichtungen. Nun sucht Jacob nach ihm. Ziellos. Ruft. Pfeift. Die Sonne steigt höher, die Zeit verstreicht, das Schwein bleibt verschwunden. Und dann meint er plötzlich ein Grunzen zu hören. Ganz sicher ist er zwar nicht, aber er rennt sofort los, bricht durchs Dickicht, rennt und rennt, stößt sich den Kopf an einem Ast, kurz wird ihm schwarz vor Augen, aber er reibt sich nur die Stirn und rennt weiter. Morsches Holz unter seinen Füßen. Steine. Stämme. Eine tiefe Kuhle. Weiter, weiter. Glitscht über eine fette Schnecke, verliert das Gleichgewicht. Fällt nicht.

Und sieht das Mädchen.

Und bleibt stehen.

Der Wald hier ist nicht mehr so dicht, der Farn wächst hoch. Das Licht fällt in breiten Streifen durch die Bäume. Wie ein himmlisches Wesen erstrahlt das Mädchen im hellsten Schein. Moosbewachsene Hügelchen, die sich wie grüne Wellen unter seinen Füßen über den Erdboden ziehen. Insekten, die es surrend umtanzen. Und vor dem Mädchen sitzt wie gebannt das Schwein. Es wendet noch nicht mal den Kopf, als Jacob jetzt langsam näher kommt, auch dann nicht, als es seine Stimme hört. »Das ist mein Schwein!«, ruft Jacob lauter als nötig. Als das Mädchen zu ihm hersieht, bleibt er wieder stehen und stützt sich mit einer Hand am Baum neben sich ab. Vom schnellen Laufen und dem Stoß am Kopf ist ihm etwas schwindelig.

Das Mädchen scheint gar nicht überrascht, dass da plötzlich ein Junge ist, es verzieht nur spöttisch seinen Mund. »Dein Schwein«, sagt es mit erwachsener Stimme, dabei ist es sicher nicht älter als Jacob. Es trägt gute Schuhe, lederne Schuhe, sie sind geschnürt und halbhoch.

Jacob sieht die Schuhe sofort, denn gute Schuhe hat nicht jeder. Diese aber passen gar nicht zu dem, was das Mädchen sonst anhat. Alles andere an ihm wirkt verwahrlost. Die Jacke ist löchrig und viel zu groß, der Rock fleckig und zu kurz, man sieht die knochigen, schmutzigen Knie. Das Mädchen greift in den Korb an seinem Arm und streckt dem Schwein etwas hin. Aber bevor Jacob erkennen kann, was es ist, hat das Tier es verschlungen. Er schnalzt mit der Zunge und sieht, wie dem Schwein ein Zucken über den Rücken läuft. Aber es bleibt sitzen. Wenigstens blickt es jetzt mal zu ihm hin. Und dann gleich wieder zu dem Mädchen. Ungeduldig schnalzt Jacob noch mal, pfeift leise. Vergeblich. Was ist los mit dem Schwein? Hat das Mädchen es verhext? Entschlossen geht er auf die beiden zu.

»Wo hast du die anderen?«, fragt das Mädchen.

»Welche anderen?«

»Schweine.«

Jacob braucht einen Moment, bis er versteht, was das Mädchen meint. »Ich bin kein Schweinehirte«, sagt er.

»Was bist du dann?«

Jacob weiß nicht, was er darauf antworten soll, und so schweigt er.

»Von wo bist du?«, fragt das Mädchen weiter.

Jacob sagt noch immer nichts. Die forsche Art, wie es ihn ansieht, verwirrt ihn.

»Bist von Weisweil?«

»Nein«, sagt er.

»Rheinhausen?«

Er schüttelt den Kopf.

»Nonnenweier?«

»Woher bist du denn?«, fragt er.

»Das geht dich nichts an«, kommt es zurück.

Jacob beugt sich zum Schwein hinunter, schrappt mit den Fingern über die festen Borsten an seiner Flanke und ärgert sich. Im Augenwinkel sieht er, dass der Korb des Mädchens halb mit Pilzen gefüllt ist, und jetzt ist ihm auch manches klar. Pilze zeigen gelegentlich erstaunliche Wirkung, bestimmt auch bei Schweinen. Vielleicht war ihm deshalb sein Pfeifen egal. Manche Pilzsorten verwirren einem die Sinne für eine Zeit, schicken einem gemeine Träume am helllichten Tag. Und wieder andere bringen den Tod. Und noch etwas fällt Jacob ein. Die ersten drei Pilze, die du findest, lege in einen hohlen Baumstumpf, sonst … sonst … Ja, was blühte einem sonst? Regeln sind meist dazu da, ein Unheil abzuwenden. Drei Pilze im Baumstumpf. Jacob hat die Regel vergessen. Die Frauen im Dorf, sie könnten es sagen.

»Bist von Friesenheim?«, fragt das Mädchen. »Bist von da? Von Friesenheim?«

Warum lässt es nicht locker? Jacob richtet sich wieder auf und blickt das Mädchen fest an. Sein Gesicht ist schmal, der Mund energisch und die Augen haben die Farbe des Flusses kurz vor dem Sturm. ›Dieses Mädchen schert sich nicht um Regeln‹, denkt Jacob. Es ist anders als die Mädchen, die er kennt, die Mädchen im Dorf. Unbändig. Verwildert.

»Was ist?«, fragt es misstrauisch.

Jacob antwortet wieder nicht, aber er hält dem strengen Blick stand. Einen langen Moment sehen sie sich schweigend an. Dann streicht das Mädchen eine der zahllosen Haarsträhnen, die sich aus seinem Zopf gelöst haben, langsam hinters Ohr. Eine Amsel trällert über ihnen im Baum. Die Stelle an Jacobs Stirn, die er sich gestoßen hat, pocht und tut weh. Die Hand des Mädchens ist wieder im Korb. Das Schwein reckt die Schnauze. Aber dann schnuppert es nur an dem Pilz, den das Mädchen ihm anbietet, fressen mag es ihn nicht.

»Nimm«, sagt das Mädchen und wedelt mit dem Pilz.

»Nein«, erwidert Jacob und nimmt den Pilz selbst. Es ist ein gedrungenes, kräftiges, fast weißes Gewächs. Jacob streicht erst über die feinen Lamellen an der Hutunterseite, dann bricht er den Pilz entzwei. Er riecht daran, lässt ihn zu Boden fallen und zertritt ihn.

»Nein!«, ruft das Mädchen empört.

»Willst du mein Schwein vergiften?«, entgegnet Jacob, greift nach dem Korb und geht dann mit seinen Fingern sacht und sehr konzentriert durch die Pilze. »Der ist gut, der ist gut«, murmelt er, während er die Pilze in einer Ecke des Korbes türmt. Einen nimmt er heraus. »Schau mal, der ist gut.« Er nimmt einen zweiten, riecht daran. »Der nicht.« Wirft ihn hinter sich. Prüft weiter. Noch zwei Pilze landen im Moos. Und ein dritter. Da entreißt ihm das Mädchen den Korb und presst ihn an seine Brust. »Bist du dumm?«, regt Jacob sich auf. »Die sind doch giftig! Gut möglich, dass du verreckst, wenn du die isst.«

»Du kannst mir viel erzählen!«, zischt das Mädchen. »Und überhaupt: Was kümmert’s dich?«

Jacob schnauft verächtlich. Ja, dieses Mädchen ist wirklich dumm. Er bückt sich nach dem Pilz, den er gerade weggeworfen hat, und hält ihn dem Mädchen dicht vors Gesicht. »Dann probier ihn doch!«, sagt er herausfordernd.

»Jetzt?«

»Jetzt.«

Das Mädchen starrt ihn an.

»Stirbst du, habe ich recht gehabt. Bleibst du am Leben, lag ich falsch.«

Das Mädchen bewegt die Lippen, als wolle es etwas sagen, bleibt aber stumm. Jacob muss sich zusammenreißen, dass er nicht lacht. Überlegt es gerade wirklich, den giftigen Pilz zu essen? Dem Mädchen ist das Blut in den Kopf geschossen, seine Nasenflügel beben. Und dann holt es aus, schlägt Jacob den Pilz aus der Hand, dreht sich um und rennt davon. Jacob ist so verdutzt, dass er sich erst nicht rühren kann, aber dann läuft er dem Mädchen hinterher und ruft nach ihm. Ruft, dass es zurückkommen soll. Aber das Mädchen reagiert nicht, es dreht sich nicht mal mehr um. Jacob bleibt stehen. Einen Pilz noch in seiner Hand, einen guten. Er betrachtet ihn, er schmeckt ihn schon. Das Schwein neben ihm blickt erwartungsvoll an ihm hoch. Der Pilz heißt Maipilz. Täuscht er sich auch nicht? Jacob mag den leisen Nervenkitzel. Dann beißt er hinein. Das mürbe, feste Pilzfleisch, es zerfällt auf seiner Zunge. Köstlich. Das Schwein bekommt den Rest. Zwischen den Bäumen sieht Jacob das Mädchen immer noch. Sein geflochtener Zopf schwingt auf seinem Rücken...

Erscheint lt. Verlag 1.8.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte 2024 • ab 12 • Abenteuer • Abenteuerreise • Auswandern • Coming-of-age • eBooks • Freiheit • Glück • Neuerscheinung • Suche
ISBN-10 3-641-32932-9 / 3641329329
ISBN-13 978-3-641-32932-7 / 9783641329327
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