Mauerblümchen (eBook)

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2024 | 1. Auflage
160 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0851-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mauerblümchen -  Holly-Jane Rahlens
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November 1989. Zwei Wochen nach der Maueröffnung betritt Molly, Typ Mauerblümchen, die S-Bahn in Richtung Ostberlin zum Geburtshaus ihrer Mutter. Auf der Strecke zwischen S-Charlottenburg und U-Schönhauser Allee begegnet die junge Deutschamerikanerin dem Ostberliner Schauspielstudenten Mick. Und beide müssen feststellen, dass noch viele unsichtbare Mauern fallen müssen - auch in ihnen selbst. «Mauerblümchen» ist die Geschichte einer Liebe auf den ersten Blick und einer Reise in ein unbekanntes Land, auf der zwei junge Menschen sich selbst, die Magie der Liebe und die Rätsel der deutsch-deutschen Verfremdungen entdecken.

Holly-Jane Rahlens kam Anfang der 70er-Jahre aus ihrer Heimatstadt New York nach Berlin. Mit Funkerzählungen, Hörspielen und Solo-Bühnenshows machte sie sich dort in den 80ern und 90ern einen Namen. Außerdem arbeitete sie als Journalistin, Radiomoderatorin und Fernsehautorin, bis sie sich ganz dem Schreiben widmete.

Holly-Jane Rahlens kam Anfang der 70er-Jahre aus ihrer Heimatstadt New York nach Berlin. Mit Funkerzählungen, Hörspielen und Solo-Bühnenshows machte sie sich dort in den 80ern und 90ern einen Namen. Außerdem arbeitete sie als Journalistin, Radiomoderatorin und Fernsehautorin, bis sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sabine Ludwig, geboren 1954 in Berlin, studierte Literaturwissenschaften und war als Rundfunkredakteurin tätig, bevor sie sich als Autorin und Übersetzerin selbstständig machte. Ihre zahlreichen Kinderbücher wurden mehrfach ausgezeichnet. Literaturpreise: 1993: Bettina-von-Arnim-Preis 2005: Hansjörg-Martin-Preis für den besten deutschsprachigen Kinder- und Jugendkrimi (›Die Nacht, in der Mr Singh verschwand‹) 2010: Lesekünstlerin des Jahres (Börsenverein des Deutschen Buchhandels)

Die Mauer ist offen. Und ich bin zu. Das war schon immer so. Nicht die Mauer, natürlich, die ist erst seit zwei Wochen offen. Sondern ich. Ich war schon immer zu, habe mich hinter einer Wand versteckt, mich dort eingenistet und werde da auch nicht mehr rauskommen. Sollte man jemals einen Film über mein Leben drehen, wird er «Das Mädchen hinter der Wand» heißen. Es ist wie in dieser alten Fernsehserie Twilight Zone. In einer der Folgen verschwindet ein kleines Mädchen auf mysteriöse Weise durch einen Riss in ihrer Schlafzimmerwand. Ihr Vater will sie zurückholen, verschwindet auch in der Wand und findet sich in einer Art fünften Dimension wieder, an einem seltsam verschwommenen Ort voller Schatten und abstrakter Konturen, einem Ort, wo Raum, Form, Ton, einfach alles verzerrt ist. Genau so fühle ich mich manchmal. Als würde ich ziellos und verloren durch fremde Welten gehen.

Kein Wunder, dass ich mich ständig verlaufe. Ich versuche ja aufzupassen, aber dann verfalle ich ins Grübeln, zum Beispiel darüber, warum es so viele Apotheken in Berlin gibt, und ehe ichs mich versehe, stehe ich plötzlich vor der Bundesversicherungsanstalt am Fehrbelliner Platz und habe keinen blassen Schimmer, wie ich da hingekommen bin, geschweige denn, wie ich wieder nach Hause komme. Es heißt ja immer in den Touristenführern, in Berlin gäbe es an jeder Ecke eine Kneipe. Stimmt nicht. Jedenfalls nicht da, wo wir wohnen. Dafür gibt es in einem Umkreis von fünf Minuten von unserer Wohnung nicht weniger als neun Apotheken, drei Reformhäuser, zwei Bioläden und ein Sanitätshaus. Ist das ein Indiz dafür, wie krank die Menschen in dieser Stadt sind? Oder wie gesund? Schwer zu sagen.

Wir wohnen in Charlottenburg. Wir, das bin ich, Molly Beth Lenzfeld, Schülerin der elften Klasse, und mein Vater, Fritz Lenzfeld, theoretischer Chemiker. Und nein, ich möchte nicht erzählen, was ein theoretischer Chemiker macht. Das ist echt kompliziert. Und es versteht sowieso kein normaler Mensch.

Fazit: Ich bin etwas versponnen, verlaufe mich oft und wohne zurzeit in Berlin-Charlottenburg. Aber nicht mehr lange! Heute Abend feiern wir ganz groß Thanksgiving, und zwar zusammen mit unserem amerikanischen Nachbarn Bo Brody und seiner deutschen Frau Edda, morgen packe ich meine Sachen, und am Samstag fliege ich nach Hause, nach New York. Auf Wiedersehen, Bundesversicherungsanstalt!

Fritz, mein Vater, bleibt noch bis Juli in Berlin. Wir sind im letzten August für ein Jahr aus New York gekommen. Als ich ihm vor ein paar Wochen gesagt habe, dass ich wieder nach Hause möchte, hat er mich gebeten, Berlin noch eine Chance zu geben und wenigstens bis Weihnachten zu bleiben. Thanks, but no thanks. Ich will nach Hause.

Meine Schwester Gwendolyn wird in New York ein Auge auf mich haben. Sie ist einunddreißig und arbeitet als Kellnerin in einem mexikanischen Restaurant nahe Burlington, Vermont. Praktischerweise hat sie sich gerade von ihrem Freund getrennt – dem dreizehnten in diesem Jahr – und freut sich auf einen Tapetenwechsel. Außerdem ist sie der Meinung, dass man die Great American Novel überall schreiben kann, auch in Manhattan. Fritz, der manchmal direkt witzig sein kann, frotzelt, dass der große amerikanische Roman schon längst von einigen Autoren vor ihr geschrieben worden ist, von Melville beispielsweise, von Twain, Salinger und Shakespeare. Aber Gwen hört ihm gar nicht zu, sondern fragt nur, ob er ihr was pumpen kann, bis ihr Roman fertig ist. Ich muss lachen. Gwen guckt mich verdutzt an.

«Shakespeare?», sage ich. «Ein Amerikaner? Und seit wann schreibt er Romane?»

Gwen stöhnt auf und knufft Fritz in die Seite.

Ich hab kein Problem damit, wenn Gwen sich um mich kümmert. Sie ist schon in Ordnung, und vielleicht wird sie ja wirklich eines Tages ihren Roman zu Ende schreiben, aber um ganz ehrlich zu sein: Wir passen nicht zusammen. Wenn sie zum Beispiel in Berlin wäre, würde sie bestimmt nicht herumlaufen und die Apotheken zählen. Dann schon eher die Eckkneipen. Ich bin eigentlich ein Stubenhocker, sie will mich aber immer an Orte schleppen, wo ich nun ganz und gar nicht hinwill, zu verqualmten Vernissagen oder in ein Tattoo-Studio, wo sie sich den Namen ihres fünfzehnten Freundes in diesem Jahr in den Oberarm ritzen lässt. Oder auf die Spitze des World Trade Center, um mit Freund Nummer achtzehn und mir essen zu gehen.

Ich komme mehr nach Fritz, und Gwen kommt nach Leonora. Leonora Sophia Lenzfeld. Ein wundervoller Name, oder? Das ist meine Mutter. Unsere Mutter. Eine atemberaubend schöne Person. Gwen ähnelt ihr sehr, und nicht nur in puncto Schönheit. Genau wie unsere Mutter findet Gwen überall Freunde, rezitiert gern Gedichte und macht leckeres Kartoffelpüree. Und genau wie Leonora Sophia Lenzfeld kann Gwen in sage und schreibe einer Sekunde ihren BH schließen. Nicht vorn, sondern hinten – auf dem Rücken! Wie macht sie das bloß? Natürlich hat sie bei all den Lovers und mit dem ständigen Aus- und wieder Anziehen viel Übung. Ich jedenfalls hake meinen BH vorn ein und ziehe ihn dann um den Bauch nach hinten. Dann erst schlüpfe ich durch die Träger. Na ja. Wenn ich sie darum bitte, bringt Gwen mir sicher bei, wie es richtig geht. Meine Mutter, eine leidenschaftliche Highschool-Lehrerin, hätte das bestimmt getan, wenn sie nicht gestorben wäre. Ich war gerade elf geworden und trug noch keinen BH. Es war sehr traumatisch. Ihr Tod natürlich, nicht dass ich noch keinen BH trug.

Eines Morgens ging meine Mutter mit Bauchschmerzen zum Arzt. Am Abend kam sie mit Krebs zurück. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Vier Wochen später war sie tot. Sie war so damit beschäftigt, sich mit Leuten anzufreunden, Gedichte zu rezitieren und Kartoffeln zu pürieren, dass sie die Warnzeichen übersehen hat – wenn es denn bei Bauchspeicheldrüsenkrebs überhaupt welche gibt.

Man kann sich kaum vorstellen, wie viele Leute zu der Trauerfeier kamen. In der Kapelle war nicht Platz genug für alle, sodass die Trauergäste bis auf den Bürgersteig hinaus standen und sich mit den zwielichtigen Gestalten mischten, die vor dem Wettbüro zwei Häuser weiter herumlungerten.

Alle 35Schüler ihrer zehnten Klasse kamen, der koreanische Gemüsehändler vom Broadway war da, ihre russische Maniküre und sämtliche Freunde meiner Schwester Gwen aus den Jahren 1975 bis 1984.Es waren viele. Alle haben meine Mutter verehrt. Alle. Aber niemand mehr als ich. Außer Fritz vielleicht. Und Gwen. Aber ich war erst elf. Für mich war der Verlust am schlimmsten.

 

Heute ist ein grauer Tag, wie fast alle Novembertage in Berlin. Es erinnert mich an die Schwarzweißfotos aus den 30er Jahren im alten Fotoalbum meiner Mutter. Düsterer Himmel, nackte Bäume, Kopfsteinpflaster in der Farbe von Bimsstein und Kohle. Alte Damen mit dicken braunen Fellmützen auf dem Kopf und eingepackt in schwere graue Wollmäntel wandern durch die Straßen. Manchmal taucht inmitten all des Graus ein Farbklecks auf: ein hellgelber Mohairstrickmantel an einer stattlichen Afrikanerin, eine himmelblaue Pudelmütze auf dem Kopf eines Kleinkinds im Buggy, eine Explosion von Pink. Das ist das Heidekraut in der Auslage des Blumenladens die Straße hoch. Das Gelb und Blau und Pink wirken fehl am Platz, irgendwie unecht, so als ob man kleine Bereiche der Schwarzweißfotos nachträglich koloriert hätte.

Grau, düster, nackte Bäume. So hatte ich mir Berlin an jenem sonnigen Juninachmittag in New York vorgestellt, als Fritz mir beichtete, er sei für ein Jahr zu einer Gastprofessur an der Freien Universität nach Berlin eingeladen. Wir saßen in unserem Lieblings-Sushi-Restaurant in der Amsterdam Avenue, als er mit der Neuigkeit herausrückte. Ich hatte mich fast an meinen Stäbchen verschluckt! Genauso gut hätte er sagen können, dass wir auf die dunkle Seite des Mondes ziehen, auf den Mars oder noch ein Stückchen weiter.

Fritz ist ein gutmütiger Vater. Er hatte gehofft, ich würde das Jahr in Berlin als Abenteuer betrachten, würde mich in einer neuen Umgebung wieder neu erfinden, würde Berlin wie ein großes Experiment angehen. Er hatte gehofft, Berlin würde mich entflammen wie ein Streichholz den Bunsenbrenner. Irrtum. Mein Vater ist Chemiker, aber wenn es um mich geht, ist er nicht in seinem Element. Es macht ihm Sorgen, dass ich mich seit Leonoras Tod abgekapselt habe. Er kapiert einfach nicht, dass ich nichts dagegen machen kann. Ich war schon immer so. Ich stecke fest. Fest, fest, fest.

Das Experiment Berlin war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

 

Ich muss mich beeilen. Ein grauer Brei aus Schnee und Regen fällt vom Himmel, als ich am Imbissstand vorbeihusche und in den S-Bahn-Tunnel eintauche.

Im Tunnel ist es eisig kalt. Ich bin froh, dass ich meine gefütterten Stiefel, warmen Hosen, wollenen Kniestrümpfe und meinen Lammfellmantel angezogen habe. Ich schlage trotzdem die Kapuze zurück, damit meine Haare nicht platt gedrückt werden. Ich habe einen neuen Haarschnitt. Einen lockigen Bob. Sieht nicht schlecht aus.

Mein Atem dampft. Wenn ich ausatme, kann ich ganz schwach den Kaffee riechen, den ich getrunken habe, bevor ich losgegangen bin. Hoffentlich bin ich hier richtig. Ich war noch nie hier. Zu meiner Schule, der deutsch-amerikanischen Schule in Zehlendorf, fahre ich mit dem Bus. Und manchmal nehme ich die U-Bahn, um zu Fritz an die Uni in Dahlem zu fahren. Aber ich habe noch nie die S-Bahn genommen. Fritz hat mir erzählt, dass die Westberliner sie jahrelang boykottierten, weil sie von den Ostdeutschen, den Kommunisten, betrieben...

Erscheint lt. Verlag 1.6.2024
Übersetzer Sabine Ludwig
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte Berlin • Berliner Mauer • Herkunft • Liebe • Mauer-Blümchen • Ostberlin • Suche • Verfremdung • Westberlin
ISBN-10 3-7336-0851-8 / 3733608518
ISBN-13 978-3-7336-0851-4 / 9783733608514
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