Alice und die Geister von nebenan (eBook)
272 Seiten
SchneiderBuch (Verlag)
978-3-505-15242-9 (ISBN)
Ein nicht-sehr-gruseliges Geisterabenteuer übers Erinnern und Vergessenwerden, klug und mit viel Herz und Humor erzählt
Die zehnjährige Alice ist ein Umzugsprofi. Sie zieht mit ihren Eltern von Haus zu Haus. Oder besser: von Bruchbude zu Bruchbude. Kein Problem für Alice, denn sie liebt nichts mehr, als Dinge zu reparieren. Nach Umzug Nummer elf kommt ihr das heruntergekommene Nachbarhaus gerade recht. Das perfekte neue Reparaturprojekt! Doch sie ist nicht allein: Gleich drei Geister spuken hier herum - und die brauchen ihre Hilfe genauso dringend wie die bröckeligen Wände ...
<p>Jacqueline Davies ist eine US-amerikanische Kinderbuchautorin, die sich mit ihren Büchern stark für gemeinnützige Projekte einsetzt. In den USA ist ihre The Lemonade War-Reihe ein Bestseller, und sie wurde vielfach für ihre Werke ausgezeichnet. Sie lebt in der Nähe von Boston und verbringt ihre Zeit gern in einer Hütte an der wilden Küste Maines.</p>
KAPITEL 1
Alice’ Mutter besaß ein Rednerpult. Sie besaß noch merkwürdigere Dinge, aber das Pult sprang mit Abstand am meisten ins Auge. Es dominierte das Wohnzimmer – alle anderen Möbel schienen sich vor ihm zu verneigen. Sogar der Kamin, von dem man doch meinen sollte, er könne sich als Herzstück des Hauses behaupten, duckte sich demütig, niedergedrückt von Dutzenden gerahmter Fotos beider Familienzweige. Die Cannolis – Verwandtschaft von Alice’ Mutter – waren allesamt außergewöhnlich groß und dünn und erinnerten an biegsame Strohhalme mit Beinen. Die Potchniks – Angehörige von Alice’ Vater – kamen dagegen ausnahmslos klein und rund und ziemlich haarig daher und glichen zufriedenen Bären, die gerade eine ordentliche Portion Honig verputzt haben.
Alice, die erst zehn und somit noch dabei war, zu werden, wer sie sein würde, hatte aus beiden Genpools das Beste abbekommen: Sie war clever und furchtlos wie ihre Mutter und zugleich freundlich und handwerklich geschickt wie ihr Vater. Ob sie eines Tages allerdings das typische dröhnende Lachen der Potchniks entwickeln oder lernen würde, eine Brücke zu turnen wie alle Cannolis, blieb abzuwarten. Schließlich war sie vor allem eine ganz und gar einzigartige Persönlichkeit, und wie ihre Mutter oft sagte: »Die Zeit wird es zeigen.«
Alice war zu Hause gewesen, als das Rednerpult geliefert wurde. Sie hatte die Haustür geöffnet, und davor stand Dave, der zum Hausmeisterteam des College gehörte.
»Heyho, Alice«, sagte Dave und stützte sich auf das Pult. »Deine Mom hat mich gebeten, das vorbeizubringen. Wir wollten es eigentlich auf den Müll werfen, aber sie meinte, ich solle es stattdessen hier abladen.«
»Was stimmt denn nicht damit?«, erkundigte sich Alice, und ihr Gesicht erstrahlte, während sie das zerkratzte und ramponierte Holz musterte. Sie war ein Mädchen, dessen Neugier nicht von zu vielen Arbeitsblättern im Matheunterricht oder langweiliger Pflichtlektüre abgestumpft war. Ihre Eltern waren leidenschaftliche Verfechter des Freilernens – was bedeutete, dass sie nicht zur Schule ging. Stattdessen war das Leben ihre Schule. Sie hatte den ganzen Tag zur freien Verfügung und durfte ihren Gedanken erlauben, in alle Richtungen zu schweifen. Sie konnte lesen oder durch die Natur streifen oder experimentieren oder vor sich hin träumen. Abends fragten ihre Eltern gespannt und interessiert, was sie tagsüber gelernt habe, und Alice berichtete in sämtlichen Einzelheiten von all ihren Entdeckungen: dass die Planeten um die Sonne kreisen und Monde wiederum um die Planeten; dass Algen und Pilze eine Symbiose eingehen, aus der Flechten entstehen; dass Henry David Thoreau viel zu viele Nägel besorgt hatte, um seine kleine Hütte im Wald zu bauen, weil er ein furchtbar schlechter Zimmermann war. Außerdem brachte er seine Schmutzwäsche zu seiner Mutter, damit sie sie wusch – wieso also gilt er als Paradebeispiel für Eigenverantwortlichkeit?
»Das hätte er in seinem Buch schreiben sollen«, hatte Alice sich beim Abendessen – es gab scharfen Reis und Bohnen – empört. »Ich wette, dann hätte es sich nicht so gut verkauft!« Anschließend erklärte Alice ihren Eltern, dass sie sich im Garten ein eigenes Haus bauen wolle, und beide ermutigten sie voller Begeisterung und Liebe, genau das zu tun. Allerdings war sie bisher nicht dazu gekommen, denn es gab noch so viel zu lernen über Schwarze Löcher (mysteriös!) und Bakterien (allgegenwärtig!) und den Satz des Pythagoras (nützlich!). Tatsächlich lernte Alice manchmal an einem einzigen Tag so viel, dass sie ihrer Mutter und ihrem Vater sogar abends, wenn die beiden sie ins Bett brachten und ihr einen Gutenachtkuss gaben, immer noch mehr zu erzählen hatte.
Als nun Dave vor ihrer Haustür stand, starrte Alice gierig auf das lädierte Pult. Es war klar, dass es zum nächsten Reparaturprojekt für sie und ihren Vater werden würde. Ihr gingen bereits all die Dinge durch den Kopf, die sie lernen könnte, während sie es gemeinsam instand setzten: Elektrotechnik, Chemie, Geometrie – und Geduld.
»Was damit nicht stimmt?«, fragte Dave und wiederholte damit Alice’ Worte. »Was stimmt denn noch damit? Das habe ich auch deiner Mom gesagt: ›Professor Cannoli‹, habe ich gesagt, ›die Lampen sind kaputt, und das Mikrofon funktioniert auch nicht mehr. Das Ding ist Schrott. Außerdem sind die Räder unten komplett abgebrochen.‹ Aber sie meinte: ›Dave, mein Mann nimmt etwas Kaputtes in die Hand, ganz gleich, was es ist – und im Nu wird es wieder wie neu.‹ Also: Hier ist es, bitte sehr. Wo soll ich es hinstellen?«
Alice deutete in die Mitte des Wohnzimmers.
Sowie Dave sich verabschiedet hatte, nahm Alice das Stehpult von oben bis unten genau unter die Lupe. Die Verkabelung war nicht besonders kompliziert – Alice hatte unter den wachsamen Augen ihres Vaters schon Dutzende von Lampen neu verkabelt – und sie war ziemlich sicher, dass man ein funktionierendes Mikrofon in dem Gebrauchtwarenladen bekam, den sie häufiger besuchten. Danach galt es bloß noch, die tiefen Kratzer mit Holzkitt zu verspachteln, alles neu zu beizen, eine doppelte Lackierung Polyurethan aufzutragen, damit es schön glänzte, und neue Räder anzuschrauben. Nichts leichter als das!
Bis ihr Vater von seiner Arbeit als städtischer Bauinspektor nach Hause kam, hatte Alice bereits eine Abdeckplane über den Wohnzimmerteppich gebreitet und das schwere Pult in die Mitte gewuchtet.
»Oh, was für ein Prachtstück!«, sagte Alice’ Vater, fuhr mit den Händen über die abgeschrägten Holzkanten und lächelte das berühmte Potchnik-Lächeln.
»Ich habe schon eine Liste geschrieben mit allem, was wir tun müssen – in der richtigen Reihenfolge«, erklärte Alice und reichte ihrem Vater einen Zettel mit einer Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie sie das Pult wieder auf Vordermann bringen wollte.
»Und du spürst das Potchnik-Kribbeln, nicht wahr?« Wann immer sich ihnen die Gelegenheit bot, etwas zu reparieren, fingen bei Alice und ihrem Vater die Handflächen zu jucken an – so lange, bis sie ein Werkzeug in die Hand nahmen und an die Arbeit gingen. Eine Eigenheit, die in der Familie lag und von Generation zu Generation weitergegeben wurde.
Alice nickte. Sogar unter ihren Fußsohlen kitzelte es.
Ihr Vater überflog die detaillierte Liste und nickte. »Alice, mein Meißelchen, du bist ein cleveres und gründliches Mädchen. An alles hast du gedacht. Und ich glaube, dieses Projekt schaffst du ganz allein.«
»Wirklich?«, fragte Alice. Sie hatte ihrem Vater bei Hunderten von Ausbesserungsarbeiten rund ums Haus geholfen – vom Verputzen der Wände über das Fliesen des Badezimmers bis hin zum Ersetzen morscher Deckenbalken. Ganz allein jedoch hatte sie sich noch nie an ein solches Unterfangen gewagt. Doch jetzt war sie da: ihre Chance. Die Chance, sich einer kaputten Sache anzunehmen und sie wieder heil zu machen.
»Jep«, sagte ihr Vater und schloss sie in eine seiner struppigen Bärenumarmungen. »Außerdem muss ich noch oben den neuen Duschkopf installieren, damit deine arme Mom sich nicht immer so bücken und verrenken muss, wenn sie sich das Shampoo aus den Haaren spült.« Er tänzelte die Stufen hinauf (denn obwohl die Potchniks ein untersetztes Völkchen waren, bewegten sie sich erstaunlich leichtfüßig), pfiff dabei vor sich hin und trommelte den Rhythmus auf dem Handlauf des Geländers mit, das er gemeinsam mit Alice gleich als Erstes restauriert hatte, als sie knapp ein Jahr zuvor in das alte, alte Haus gezogen waren.
Mein ganz eigenes Projekt, dachte Alice und betrachtete liebevoll das Pult. Sie griff nach der Liste und marschierte zielstrebig in die Werkstatt ihres Vaters im Keller, um alles zusammenzusuchen, was sie brauchte.
Nach zwei Wochen harter und stetiger Arbeit war Alice fertig und das tadellos polierte Stehpult bekam einen Ehrenplatz im Wohnzimmer. Und das gerade rechtzeitig, wie Alice’ Mutter befand.
»Schnell, ruf deinen Vater!«, sagte Professor Cannoli, während sie durch die Eingangstür platzte, ihre Aktentasche im Flur einfach fallen ließ und ihre Tochter stürmisch in die Arme schloss. (Alice’ Mutter war ungewöhnlich knochig und drückte ihr Kind manchmal so fest, dass sie dabei versehentlich Alice’ Vagusnerv erwischte. Woraufhin Alice, als sie noch kleiner gewesen war, einmal prompt ohnmächtig zusammengesackt war.) »Ich muss einen sehr wichtigen Vortrag halten«, erklärte Alice’ Mutter und eilte zum Pult. »Den wichtigsten Vortrag meines Lebens!«
Alice war immer noch taumelig und benommen von der Umarmung ihrer Mutter, hastete jedoch sofort zur Kellertreppe. Den wichtigsten Vortrag überhaupt?, dachte sie. Wie kann das sein? Professor Cannoli hatte schon so viele wichtige Vorträge gehalten – in ihrem Hörsaal und im Wohnzimmer. Wie konnte das nun der allerwichtigste von allen sein?
Etwa wichtiger als »Die Anthropologie des modernen menschlichen Gebisses in Relation zu Praktiken der Kindererziehung auf der Nordhalbkugel«?
Wichtiger als »Eine anthropologische Betrachtung der Bestecknutzung im Cannoli-Potchnik-Haushalt«? (Fazit: zu viele Suppenlöffel, zu wenige Teelöffel.)
Professor Cannolis Vorträge waren fesselnd, und sie galt als unangefochten beste Dozentin des kleinen College, an dem sie lehrte.
»Dad!«, rief Alice die Stufen hinunter. »Mom hat einen neuen Vortrag!«
»Bin in einer Sekunde da!«, brüllte ihr...
Erscheint lt. Verlag | 23.7.2024 |
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Illustrationen | Julia Castaño |
Übersetzer | Fabienne Pfeiffer |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The International House of Dereliction |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Abenteuer • Bibliothek • Bücherei • Coraline • Das Hotel der Magier • Eigenwillige Heldin • Emily Bones • Gänsehaut • Geister • Geistergeschichte • Geisterhaus • Gespenster • Grusel • Gruselspaß • Halloween • Heldin • Herbstlektüre • Horror • Horror für Kinder • Kinder • Kinderbuch 10 Jahre • kinderbuch 4. klasse • KInderbuch Herbst • Kinderbuch witzig • Mitternachtsstunde • Polidoris • Starke Mädchenfigur • starkes Mädchen • Tod |
ISBN-10 | 3-505-15242-0 / 3505152420 |
ISBN-13 | 978-3-505-15242-9 / 9783505152429 |
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