Goldschnauzer (eBook)
268 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-05662-7 (ISBN)
Teil 2
Staubgold
10
Für einen Moment war alles still.
Dann: Schritte.
Der Lichtschein im Türspalt verdunkelte sich.
Jemand beobachtete uns.
Kurz darauf erklang eine Mädchenstimme: «Sucht ihr was Bestimmtes?»
Schweigen.
«Eure Muttis sind nicht hier, also verschwindet am besten wieder.»
Ich zog Malik am Ärmel. «Komm, lass uns gehen.»
Er schüttelte meinen Griff ab und machte einen Schritt Richtung Tür. «Ja, wir suchen was Bestimmtes. Wir werden verfolgt und brauchen Hilfe. Aber keine Cops!»
«Wie, keine Cops?»
«Weil die verfolgen uns. Obwohl wir nichts getan haben. Wir müssten uns nur für ein paar Tage verstecken, bis sich die Lage wieder beruhigt hat.» Fast klang er ein bisschen stolz, als er das sagte. Ich wollte ihn schon gewaltsam wegziehen – da öffnete sich die Tür.
Das Mädchen, das im Türrahmen erschien, war vielleicht einen Kopf größer als wir und bestimmt auch ein paar Jahre älter. Das Kleid, das sie trug, war zusammengenäht aus bunten Flicken und Stoffresten und reichte fast bis zum Boden. Ihre blonden Rastalocken hatte sie zu einem komplizierten Knoten gebunden, ein tätowierter Hundekopf zierte ihren Unterarm.
«Aha, interessant …», sagte sie. «Nichts getan, aber von der Polizei verfolgt.»
«Ja, wirklich», drängte Malik. Nervös wippte er von einem Bein aufs andere. Das Mädchen überlegte. Schließlich tat es einen Schritt zur Seite. «Okay, aber nur kurz. Ihr könnt hier nicht bleiben.»
Wir betraten den Raum. Es roch angenehm nach Räucherstäbchen und Duftkerzen. Vor einer Nähmaschine, neben einem abgewetzten Sofa, türmte sich ein Kleiderberg. An der gegenüber liegenden Wand, unweit des Waschbeckens, befand sich ein kleiner Kühlschrank, auf dem eine einzelne Herdplatte lag. In einer anderen Ecke des Raumes, zwischen zwei großen Lautsprecherboxen, hatte es sich ein Hund mit schwarzem Fell auf einer Matratze gemütlich gemacht und döste vor sich hin.
Unschlüssig sahen wir uns um.
Auch das Mädchen schien nicht so richtig zu wissen, was es mit uns anfangen soll.
«Also, ich bin Zoey», sagte sie nach einer Weile. «Genau – und das ist Shiva.» Mit einem liebevollen Blick deutete sie auf den Hund; ein Riesenschnauzer, wie wir später erfuhren. «Meine treueste Gefährtin», ergänzte sie stolz.
Als Shiva ihren Namen hörte, spitzte sie die Ohren, hob ihren Kopf und blickte zu uns herüber. Von einem dichten Haarschopf fast vollständig verdeckt, ließen sich ihre wachen Augen nur erahnen. Als von ihr nicht mehr die Rede war, legte Shiva ihre Schnauze mit einem entspannten Seufzer wieder auf der Matratze ab.
Zoey musterte uns mit argwöhnischem Blick. «Und wer seid ihr, wenn ich fragen darf? Außer Hobbygangster auf der Flucht?»
«Wir … wir sind Malik und Simon und wir …», fing ich zu stammeln an. «Wir wollten eigentlich …», ich sah hinüber zu Malik, «also, wir wollten hier nur ein bisschen Urlaub machen … vielleicht auch … eine Hafenrundfahrt … und …», ich wusste nicht weiter. Ich war ziemlich nervös, um ehrlich zu sein. Wegen der ganzen Situation.
«Eigentlich sind wir hier, weil ich abgeschoben werden soll», führte Malik meinen verstümmelten Satz zu Ende. Er brachte es wirklich ganz gut auf den Punkt.
«Verstehe …», sagte Zoey. Dabei wirkte sie allerdings nicht gerade so, als ob sie uns verstanden hätte. Sie wirkte ja noch nicht einmal so, als ob sie uns für ganz voll nehmen würde.
«Jetzt macht euch erst mal locker und setzt euch. Ich wollte gerade frühstücken, mögt ihr auch was?»
Sie bugsierte die Sachen, die auf dem Sofa herumlagen, mit einer ausladenden Handbewegung auf den Boden, baute einen wackeligen Klapptisch auf, stellte Brot, Marmelade und ein paar Pasten auf den Tisch und goss dampfenden Früchtetee in drei Tassen.
Malik und ich setzten uns auf das Sofa, in das wir sogleich tief versanken. Die Tischkante reichte uns fast bis zum Hals, so durchgesessen war es. Ich kam mir vor wie ein Schiffbrüchiger auf offenem Meer, während Zoey, auf einem alten Bürostuhl thronend, uns wie die Kapitänin des rettenden Schiffes musterte. Noch waren wir nicht an Bord … jedenfalls nicht ganz.
Während wir uns über das Frühstück her machten, erzählten wir ihr unsere bisherigen Erlebnisse.
«Und ihr seid sicher, dass euch niemand bis hierher gefolgt ist?»
«Ganz sicher», erwiderte Malik.
Das Mädchen überlegte, dann schüttelte sie den Kopf.
«Sorry, aber ich kann nichts für euch tun. Ihr könnt hier nicht bleiben, weil –», sie zögerte. «Es passt einfach gerade nicht. Überhaupt wäre es besser gewesen, ihr wärt hier gar nicht erst aufgekreuzt.»
Gedankenverloren wickelte sie eine lose Filzlocke um ihren Zeigefinger und stopfte sie zurück zu den anderen, dann erhob sie sich, durchschritt den Raum und drückte auf eine Taste am Kassettendeck einer alten Stereo-Anlage. Sogleich erklang aus den Boxen wieder dieser fette Beat, den wir vorhin gehört hatten. Ich spürte das Frühstück durch meinen Magen wandern.
Zoey betrachtete uns spöttisch. «Alles klar bei euch? Ihr sitzt ja da wie bestellt und nicht abgeholt … ist euch nicht gut? Oder passt euch Lee Scratch Perry etwa nicht? Ich hätte auch anderes Zeug da …», sie wühlte in einer Kiste herum, «also, wenn ihr mehr auf Punkrock oder so steht, ich hätte zum Beispiel –»
«Äh, nein, vielen Dank, wirklich, das passt schon, cooler Sound, echt fett, wir … also, wir wollten Ihnen, ich meine – wir wollen dir keine Umstände bereiten, wirklich nicht, wir …»
«Klar ist das ein cooler Sound», erwiderte Zoey. «Nennt sich übrigens Dub-Reggae, die schnellste Verbindung zum Kosmos, wenn ihr’s genau wissen wollt.»
Ich nickte bedächtig zum gleichmäßigen, schweren Rhythmus der Bässe, während die Melodien der Bläser immer wieder von Echo-Effekten unterbrochen wurden. Ich versuchte, die Verbindung zum Kosmos herzustellen, was aber gar nicht so einfach war.
«Wie meinst du das genau?», fragte ich nach einer Weile.
Zoey sah mich an. «Wie soll ich was meinen?»
«Das mit dem Kosmos … also, mit der Verbindung.»
Ich befürchtete erst, dass sie mich für komplett behämmert halten würde, doch ihre ernste Miene verriet, dass sie überlegte. «Hm, wie soll ich das erklären …», seufzte sie. «Den Kosmos müsst ihr euch vorstellen wie – also, das ist echt schwer zu beschreiben. Ihr müsst ihn fühlen. Mit eurer Seele. Die ist ja auch unendlich, wie der Kosmos. Die Musik führt euch direkt dahin, also ich meine, in eure Seele – falls ihr überhaupt noch eine habt. Die meisten haben ja keine mehr, sie haben sie längst verloren – verkauft an das Geld, an den Egoismus und an den Konsum, an diese ganzen Internetkonzerne, die die Gedanken und Gefühle der Menschen beherrschen …»
Zoey griff erneut in die Kiste, aus der sie nun abwechselnd alte Musikkassetten und CDs zog.
«Die gehörten alle mal meinem Dad … er hat sie mir irgendwann geschenkt, weil er jetzt auch nur noch streamt, wie alle anderen. Echt schlimm. Diese Internetfirmen kontrollieren inzwischen alles, das ist der helle Wahnsinn. Jeden eurer Schritte im Netz können die verfolgen. Jeden. Nicht nur, welchen Song ihr wann und wie oft hört oder welches Spiel ihr mit wem spielt oder welchem Idioten ihr auf seinem Kanal folgt – sondern auch, wie die Leute so ticken, die zum Beispiel einen bestimmten Film streamen, also was weiß ich, welche Partei sie wählen, wohin sie in den Urlaub fahren, welche Krankheiten sie haben, und ob sie Hunde mögen oder nicht. Weil alle Daten gesammelt werden. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs! Der übrigens auch bald weg ist. Und irgendwann ergreifen die richtigen Faschos die Macht und bekommen von diesen ganzen Firmen alle Daten auf dem Silbertablett serviert …»
Wir saßen da, versunken im Sofa, und wussten nicht, was wir sagen sollten. Ich fühlte mich leicht überfordert, um ehrlich zu sein.
«Ja, habe ich auch schon gehört, klingt ziemlich krass», murmelte Malik.
Zoeys Wut steigerte sich immer mehr. «Mein Vater ist inzwischen genauso ein Spießer wie alle anderen. Mit seinem dicken, hässlichen SUV und den dummen Angebersprüchen, von wegen, dass er früher mal ein Rebell gewesen sei und so ein Bullshit. Wen interessiert’s, wo er heute auch nur ein ignoranter Idiot ist wie alle anderen. Und sich bei ihm auch alles nur noch um die Kohle dreht, nach dem Motto: nach mir die Sintflut … Und meine Mutter hat auch von nichts eine Ahnung, trotzdem weiß sie alles besser. Ich hab einfach keinen Bock mehr auf den Scheiß. Und wenn ihr es genau wissen wollt – der Kosmos auch nicht.»
Ich nickte zustimmend, obwohl ich das mit dem Kosmos nicht so ganz begriffen hatte. Nur tendenziell.
Zoey stellte sich an ein kleines Fenster. Sie schien uns für einen Moment vergessen zu haben. Während sie an einer verfilzten Haarsträhne knibbelte, sah sie versonnen hinaus. «Neulich träumte ich, alle Autos dieser Welt würden zu einem riesigen Klumpen verschmelzen, die Erde verlassen und weit draußen im Weltall einen neuen Planeten gründen, um uns hier ein für alle mal in Ruhe zu lassen mit ihrem Lärm und Gestank.»
Die Kassette war inzwischen zu Ende, eine eigentümliche Stille legte sich über den Raum. Man hörte nur den Wasserhahn tropfen, und ab und zu quietschte eine Sofafeder, wenn Malik oder ich uns ein wenig bewegten.
«Wissen deine...
Erscheint lt. Verlag | 24.3.2024 |
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Mitarbeit |
Cover Design: Annette Granados Hughes |
Verlagsort | Ahrensburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Vorlesebücher / Märchen |
Schlagworte | Abenteuer • Coming-of-age • Flucht • Freundschaft • Gentrifizierung • Großstadt • Hamburg • Hunde • Krimi • Kunst • Musik |
ISBN-10 | 3-384-05662-0 / 3384056620 |
ISBN-13 | 978-3-384-05662-7 / 9783384056627 |
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