City of Trees (eBook)
400 Seiten
Thienemann Verlag GmbH
978-3-522-62206-6 (ISBN)
Chantal-Fleur Sandjon wurde 1984 in Berlin geboren, wo sie heute nach Stationen in Johannesburg, London und Frankfurt wieder lebt. Als afrodeutsche Autorin, Lektorin und Spoken-Word-Künstlerin gilt ihr Interesse besonders der vielschichtigen Darstellung Schwarzer Lebenswelten in Deutschland. Sie ist noch immer auf der Suche nach der perfekten Papaya und der schrägsten Metapher. Ihr erster Versroman, 'Die Sonne, so strahlend und Schwarz', wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. 2023 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis.
Unter der Dusche beeile ich mich.
Wir sind bereits viel zu spät dran, weil ich nicht aufhören konnte, ihrer Stimme und der Melodie zu folgen, um sie endlich wiederzufinden. Die Worte des Lieds plätschern aus meinem Mund und fließen mit dem Wasser den Abfluss hinab. Ich verstumme schnell, als es an der Tür klopft.
»Lindiwe, Turbo!« Baba ruft durch die geschlossene Tür. »Du weißt es seit Wochen, heute müssen wir echt mal pünktlich sein …«
»Askies!«, antworte ich als Entschuldigung.
Überall an mir klebt noch der Wald. Beim Einschäumen flattern goldgelbe, herzförmige Blätter und farnähnliches Grün aus meinen Achseln herab, werden vom Duschstrahl niedergedrückt, verlieren ihre Form im matschigen Gemenge zu meinen Füßen. Die Melodie streicht erneut über meine Lippen, noch bevor ich mich stoppen kann. Nicht das erste Mal, dass ich sie im Wald gehört habe. Auch nicht das erste Mal, dass ich sie mit nach Hause bringe, hinter Türen, die geschlossen sind. Es ist der Käfer, sagt das Lied. Er zeigt uns den Weg nach Hause. Er zeigt uns den Weg in die Zukunft.
Nach dem Duschen, ein schneller Blick in den Spiegel: Meine Haare sind mal wieder einen Fingerbreit über Nacht gewachsen. Ich schiebe sie etwas über die Beule an meiner Stirn und rasiere den Undercut nach, so wie ich es seit Wochen fast jeden Morgen tun muss. Mit einer kleinen Schere kürze ich auch den Flaum auf meiner Wange, schmiere etwas von Khanyis Concealer drüber, bis das Grün nicht mehr hervorscheint. Ich mache es nicht gerne, denn Geheimnisse sind wie Wunden, wenn du sie einfach verdeckst, anstatt sie zu reinigen, können sie nicht heilen. Sie brauchen Luft, Sonne, sie wollen gesehen werden. Aber dieses Geheimnis kann ich anderen nicht zumuten, meine Eltern tragen schon so viel, nicht das auch noch. Es wiegt schwer wie ein ganzer Wald, Khanyis letztes Vermächtnis an mich.
Mamas Pulli riecht nach Schweiß. Der Geruch schwappt mit jeder ihrer Bewegungen zu mir herüber, will ankern, direkt in meiner Nase. Ihre Haare hat sie auch seit zwei Wochen nicht mehr gewaschen. Bis jemand in der Tanzschule endlich mal etwas sagt, kann es nicht mehr lange dauern, auch Trauer besitzt ein Verfallsdatum als Entschuldigung.
Zu fünft stehen wir am Flughafen, ganz vorne bei der Ankunft. Meine Brüder, die Zwillinge Mandlenkosi und Bonginkosi, haben ein Schild gemalt
– SANIBONANI, GOGO! –
mit einem gespiegelten S und As, die Spagat üben. Zusammen, sagen sie, obwohl alle wissen: Mandla war’s alleine. Wer sonst kann mit fünf schon schreiben?
Mandla hat es sich vor ein paar Monaten mithilfe von Cornflakes-Packungen und Bildwörterbüchern selbst beigebracht. Baba ist sogar in den muffligen Keller gegangen, um unsere alten Schulbücher und Schreibhefte sowie Mamas verstaubte Zulu-Lernbücher hochzuholen.
Alle meine Geschwister sind Genies. Mandla, das Lese- und Schreibwunder. Bongi kann jedes Instrument spielen, das er in die Hände kriegt, seit über einem Jahr nimmt er Klavierunterricht bei Ntate Pitso. Khanyi gehörte schon immer das Tanzstudio. Und mir? Mir gehört nichts, außer etwa 30 bestickten Stück Stoff und dem Black-Futures-Regal in unserer Schulbibliothek, das ich selbst eingerichtet habe. Nichts davon ein Talent, zumindest in meiner Familie.
Heute am Flughafen ist unsere Familien-Reihenfolge von links nach rechts:
Ich Baba Mandla Bongi Mama
und in all den Zwischenräumen
anstelle von Luft zum Atmen:
siesiesiesie
Khanyi
so viel Platz einnehmend
als gäbe es zwei von ihr.
Sie hat uns alle immer verbunden, jetzt verbinden Baba und mich nur unsere Hände in den Hosentaschen, unsere festen Beine auf dem festen Boden, die leicht nach vorn gebeugte Haltung, als würden wir immerzu mit dem Wind kämpfen. Uns trennen ein halber Kopf an Größe, ein paar Jahrzehnte und unterschiedliche Hauttöne, die sich oft in unseren Erfahrungen widerspiegeln und in dem Platz, der uns in dieser Welt zugeschrieben wird. Mein Hellbraun irgendwo zwischen seiner dunklen Haut und Mamas heller zu Hause. Im Dazwischen und doch immer am Rand, ganz anders als Khanyi,
ich.
Neben Baba versuchen die Zwillinge einander auf die Füße zu treten, das Schild schwappt in ihren Händen. Mama zischt sie immer wieder an, aber mit so wenig Energie, dass ihre Worte von den Flughafengeräuschen geschluckt werden, noch bevor sie Mandla und Bongi erreichen.
Links von mir rempelt jemand vorbei, quetscht sich zwischen einem Betonpfeiler und mir hindurch. Alle haben es so eilig in Flughäfen, auch wenn sie schon sicher und gut angekommen sind, als würde die Bewegung des Flugs in ihrem Körper fortleben, ihn vorwärtsdrängen.
»Musste ich wirklich mitkommen?«, grummele ich Baba an.
»Natürlich, meine Liebe. Du weißt, wie viel du ihr bedeutest.«
Baba legt seinen Arm um mich, drückt gegen den blauen Fleck an meinem Oberarm, den er unter meinem schwarzen Hoodie nicht sehen kann. Ich will Gogo ja auch wiedersehen, aber nach diesem Morgen im Wald ist mir der Flughafen zu laut, zu voll, zu hektisch.
Und dann sind da auch noch die Polizist*innen. Waffen über rauem Stoff, von Haut weit entfernt und doch wird Haut nach ihnen greifen, wenn sie es als erforderlich betrachten, werden Körper auf Körper schießen, wenn es ihnen berechtigt erscheint. Wer lebt und wer stirbt, entscheiden oft zwei blasse Finger und ein Kopf, der aufgewachsen ist mit der Angst vorm Schwarzen Mann. Jetzt wimmeln sie nur über den Flughafen wie Kakerlaken, im Wissen, sie wollen uns alle überleben.
Ich bemerke ihre Blicke, die immer wieder bei uns fünf stotternd hängen bleiben und sie sagen sich selbst bestimmt, sie schauen nur zwei, drei, vier Mal hin, weil hier junge Menschen stehen und genau diese gerade das Problem sind. Aber wir sind schon so lange das Problem, dass wir die Wahrheit kennen.
Jede Bewegung um mich herum, jede Ansage, jeder hastige Schritt auf dem nackten Boden kratzt sich in mich hinein. Und doch stehe ich hier, bewege mich nicht vom Fleck, bis wir sie erblicken: Gogo. Eine der letzten, die durchs Gate kommen, mit nichts als einer Handtasche bei sich und einer Decke über den Schultern, als wäre sie das erste Mal in Deutschland und würde im Oktober jederzeit einen Schneesturm erwarten.
»Gogo, wo sind deine Koffer?«, rufe ich ihr auf IsiZulu zu, noch bevor sie bei uns angekommen ist, weil es jetzt meine Aufgabe ist, mich um sie zu kümmern, jetzt, wo ich die Älteste bin.
Gogo macht einen Schritt zur Seite, wartet, bis ich sie sehen kann: die Koffer auf einem Gepäckwagen, geschoben von einem Mädchen mit genauso dicken Braids und dunkelrotem, fast schwarzen Lippenstift, wie Khanyi ihn auch gerne getragen hat. Nur ist ihre Haut dunkler, eine tiefere Erdschicht kleidet ihr Fleisch, ihr Körper ist weicher, breiter, mehr Meer als Khanyis, ein Ozean unter einem flatternden Kleid, bereit, jederzeit Wellen zu schlagen und alles zu überschwemmen. Selbst das Tuch um ihren Hals hat fließende Enden, als es von einem Luftstoß erwischt wird.
»Hayi wena, this now how you greeting your grandmother?«, ermahnt mich Gogo mit einem Lächeln in einem Mix aus Englisch und IsiZulu, lenkt meinen Blick zurück zu sich. »Erst diese unsägliche Befragung der Polizei und jetzt das hier – mein Enkelkind hat seine Manieren verloren. Du warst wohl zu lange nicht mehr zu Hause.«
Zuhause nennt sie Südafrika, weil es ihr Zuhause ist, schon immer war und immer sein wird. Zuhause nennt sie Südafrika aber auch, wenn sie über mich spricht, über Baba, über meine Geschwister, so als wären wir alle hier in Deutschland genau wie sie immer nur zu Besuch.
Nachdem wir uns begrüßt haben, nachdem Gogo mein Gesicht in ihre warmen Hände genommen und mich für einen Kuss zu sich heruntergezogen hat, nachdem sie meinen Brüdern und mir selbst gemachte Amagwinya in die offenen Hände gelegt hat, köstliche, golden leuchtende Amagwinya, die zwölf Stunden Flug überstanden haben, nach alledem beantwortet Baba endlich die Frage, die ich nicht zu stellen wage. Die ganze Zeit kann ich meinen Blick nicht von diesem Mädchen abwenden, das bei uns allen steht, als würde es dazugehören.
»Das ist Unathi, eure Cousine«, sagt Baba auf Englisch zu mir und meinen Brüdern.
»Und?« Denn das ist noch nicht Antwort genug.
»Und sie begleitet Gogo, sie wird also auch bei uns wohnen.«
Ich wechsle ins Deutsche: »Wo soll sie denn schlafen? Jetzt wo Gogo da ist, wird’s ziemlich eng.«
Ich verschränke die Arme, das frittierte Hefebällchen noch in meiner Hand. Die Zwillinge haben ihre Amagwinya schon aufgegessen und Mama sucht nach Taschentüchern für die fettglänzenden Gesichter.
Baba spiegelt meine Haltung, legt Muskeln über Muskeln und macht den Rücken gerade gegen...
Erscheint lt. Verlag | 24.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Berlin • Diversität • Familie • Freundschaft • Gefühl • Klimawandel • Lesbisch • LGBTQ • Liebe • Liebesgeschichte • Liebesroman • literarisch • Magischer Realismus • poetisch • Schwarz • Schwester • Sexueller Übergriff • Spannung • Trauer • Vermisst • Vermisste Person • Wald |
ISBN-10 | 3-522-62206-5 / 3522622065 |
ISBN-13 | 978-3-522-62206-6 / 9783522622066 |
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