Genial normal (eBook)
304 Seiten
arsEdition GmbH (Verlag)
978-3-8458-5589-9 (ISBN)
William Sutcliffe ist der Autor von zwölf Romanen, darunter der internationale Bestseller 'Are You Experienced?' Seine Bücher wurden in 28 Sprachen übersetzt und sein Roman 'Whatever Makes You Happy'wurde 2019 von Netflix unter dem Titel 'Otherhood' als Feelgood-Komödie mit Starbesetzung (Patricia Arquette, Felicity Huffman und Angela Bassett) verfilmt. Sein vielbeachteter Jugendroman 'Auf der richtigen Seite' war 2015 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und stand auf der Shortlist für die die renommierte Carnegie Medal. Er lebt mit seiner Familie in Edinburgh.
WEIL WIR ES KÖNNEN
»ALLE RUNTERKOMMEN! FAMILIENRAT!«
Auch wenn ich mich ein bisschen wunderte, warum Dad so früh von der Arbeit zurück war und was »Familienrat« zu bedeuten hatte, blieb ich in meinem Zimmer.
»PIZZA!«, rief er hinterher. »Der Letzte, der kommt, kriegt die Hawaii!«
Türen schlugen, Schritte donnerten die Treppe runter und ich sprang auf. Nach einer kurzen Rangelei mit Ethan in der Küchentür, bei der Freya es irgendwie schaffte, zwischen unseren Beinen hindurchzukrabbeln und sich das erste Pizzastück zu schnappen, versammelten wir uns alle am Tisch und aßen direkt aus den Kartons, die kreuz und quer über gemalten Bildern, unfertigen Hausaufgaben, ungeöffneten Briefumschlägen und ungelesenen Zeitschriften lagen.
Ethan, der mit seinen siebzehn in den vergangenen drei Jahren nichts anderes getragen hatte als Schwarz, verkündete mit vollem Mund: »Mir egal, wer das Sorgerecht kriegt, aber mein Zimmer gebe ich nicht her.«
»Sorgerecht?«, wiederholte Mum.
»Ja. Ich ziehe nicht aus und ich pendle am Wochenende auch nirgends hin.«
»Das hast du falsch verstanden, mein Schatz«, sagte Mum. »Wir lassen uns nicht scheiden.«
»Oh. Weshalb dann Familienrat?«
Freya, die in der ausschließlich von Feen, Einhörnern und Katzen bevölkerten Traumwelt einer Siebenjährigen lebte, schaltete vorübergehend auf Wirklichkeit und heulte los. »Ihr lasst euch scheiden?«
Mum sprang auf, stürmte um den Tisch herum und nahm Freya in die Arme. »Wir lassen uns nicht scheiden. Mach dir keine Sorgen.«
»Aber das hat Ethan doch gerade gesagt!«
»Das hat Ethan falsch verstanden.«
»Und wie soll ich wissen, dass du die Wahrheit sagst? Woher weiß ich, dass du mir das nicht nur einredest, um mich zu schonen?«
»Ethan!«, schimpfte Mum. »Jetzt schau dir an, was du angerichtet hast. Sag Freya, dass du dir das nur ausgedacht hast!«
»Ich hab’s mir aber nicht ausgedacht.«
»Hast du wohl! Von Scheidung war nie die Rede, bis du damit angefangen hast.«
»Dann bin ich wohl von allein daraufgekommen.«
»FÄLSCHLICHERWEISE! WIR LASSEN UNS NICHT SCHEIDEN!«
»Und warum nicht?«
»Wie bitte? Hast du mich gerade gefragt, warum wir uns nicht scheiden lassen?«
»Wenn dir darauf nicht mal eine Antwort einfällt, sollten wir uns vielleicht Gedanken machen.«
»AUFHÖREN!«, rief Dad. »Noch mal von vorn. Ganz ruhig bleiben. Es gibt keine Scheidung. Ich habe euch zusammengerufen, weil wir euch etwas mitteilen wollen.«
»Trennung auf Probe?«, mutmaßte Ethan.
»Nein. Es sind gute Nachrichten.«
Schlagartig waren wir still. Gute Nachrichten waren uns gar nicht in den Sinn gekommen.
»Ich habe meine Firma verkauft.« Dad lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.
Ethan, Freya und ich starrten ihn verdattert an.
»Du hast eine Firma?«, platzte es aus mir heraus.
»Na klar habe ich eine! Was glaubst du denn, was ich in den letzten sechs Jahren tagaus, tagein gemacht habe?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Also, ich hatte eine Firma, bis letzte Woche. Aber die habe ich jetzt verkauft.«
Er strahlte uns an und wartete eindeutig auf eine Reaktion, nur dass keiner von uns eine Ahnung hatte, wovon er redete oder weshalb er so eine große Sache aus dieser unfassbar langweiligen Info machte. Freya, die bereits wieder das Interesse verlor, streckte sich nach ihrem Notizbuch aus, um zu malen.
»Für viel Geld«, legte Dad nach.
Ethan riss den Blick von seiner Pizza los.
»Wenn du ›viel‹ sagst … dann heißt das …?«
»Wir sind reich!« Mitsamt Freya im Arm machte Mum einen Hüpfer und fing an, in der Küche auf und ab zu tänzeln. »Wir sind reich! Wir sind reich! Auf Wiedersehen, Stevenage! Auf Wiedersehen, kleines, beengtes Schuhkartonhaus! Wir fangen ein neues Leben an! Keiner hat es ihm zugetraut, aber er hat es hingekriegt und es allen gezeigt! Er hat es geschafft – wir sind reich!«
»Wie reich?«, wollte Ethan wissen.
»Auskömmlich«, antwortete Dad.
»Stinkreich«, ergänzte Mum.
»Doch nicht stinkreich«, wandte Dad ein. »Vielleicht eher … muffelig reich.«
»Kriege ich ein neues Handy?«, fragte Ethan.
Der einzige Hinweis darauf, dass so was in der Art hätte passieren können, war Dads Job. Oder besser: sein nicht vorhandener Job.
Als Freya noch ein Baby war, hatte er das, was er damals gemacht hatte, gekündigt – was immer das gewesen war. Irgendwas, was mit Krawatten zu tun hatte und damit, dass er immer erst nach Hause kam, wenn ich schon im Bett lag.
Dann bezog er den Schuppen im rückwärtigen Garten. Dort verbrachte er Monate, schraubte an irgendwas rum und sah immer aus, als hätte er sich eben erst durch einen Schrotthaufen gewühlt (was oftmals wirklich der Fall war). Jedes Mal, wenn Leute ihn fragten, was er beruflich mache, antwortete er: »Unternehmer.« Wenn er spannender klingen wollte, sagte er auch mal: »Erfinder.«
Hin und wieder tauchte er im Anzug in der Küche auf, und dann sagten wir Sachen wie: »He, wer sind Sie? Wie sind Sie denn hier reingekommen?«
Doch nach ein paar Scherzen darüber, dass er aussehe wie ein Erwachsener, der einen echten Job haben könnte, vergaßen wir regelmäßig zu fragen, wohin er in diesem Aufzug eigentlich wollte.
Bei einem seiner Termine musste er eine Geldquelle aufgetan haben, weil er irgendwann aufhörte, im Schuppen herumzuwerkeln, seine Garderobe von Schrottplatztaucher gegen Blinder-hat-sich-durch-Kleiderbasar-gewühlt eintauschte und anfing, in irgend so einem Lager zu arbeiten. Oder vielleicht war es auch ein Büro.
Ich habe nie darüber nachgedacht, ihn zu fragen. Er war einfach mein Dad, der wie andere Dads irgendwohin zur Arbeit ging. Was er genau machte, war nicht wichtig. Solange er morgens und an den Wochenenden anwesend war und mich hinfuhr, wo immer ich hinmusste, kam mir gar nicht in den Sinn zu fragen, was er den lieben langen Tag machte.
Dann flog er eines Tages in die USA, mitsamt einem brandneuen Koffer und einem schlabbrigen Kleidersack, den ich noch nie gesehen hatte. Diesmal fragte ich ihn, was er denn vorhabe, aber er sagte bloß: »Meetings.«
Die Art und Weise, wie Mum ihm beim Abschied viel Glück wünschte, war zwar komisch – so als würde sie es todernst meinen –, aber ein paar Minuten später hatte ich das Ganze auch schon wieder vergessen.
Kurz nachdem er aus den USA wiederkam, wurde unser allererster Familienrat einberufen.
»Moment mal«, unterbrach ich Mums Freudentänzchen. »Was soll das heißen – auf Wiedersehen, Stevenage?«
»Du glaubst doch wohl nicht, dass wir hierbleiben?«, entgegnete Mum. »Reiche Leute wohnen nicht in Stevenage. Die wohnen in London! Dad hat die Firma verkauft, ich habe gekündigt und endlich kommen wir aus diesem Kaff raus und ziehen nach London!«
»Aber ich mag Stevenage«, wandte ich ein.
»Die Einzigen, die Stevenage mögen, sind Leute, die nie woanders waren«, sagte Ethan.
»Ich war überall, wo du auch warst.«
»Warst du nicht. Außerdem hast du im Leben ja wohl kein einziges Buch gelesen. Deine Vorstellung von Kultur ist die Bowlingbahn.«
»Was hat das denn damit zu tun, ob man Stevenage mag?«
»Siehst du? Du hast keine Ahnung.«
Ich sah Hilfe suchend zu Mum, die hoffentlich für mich Partei ergreifen würde, aber es sah ganz so aus, als hätte sie gar nicht zugehört. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte mich an diese Sache, die man in Trickfilmen sieht, wenn Zeichentrickfiguren Dollarzeichen in den Augen haben.
»Dann ziehen wir also um?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete Mum. »So schnell wie möglich. An einen Ort, von dem ich mein Leben lang geträumt habe. Dort gibt es schöne viktorianische Häuser und es ist in der Nähe einer riesigen Parkanlage, und obwohl es dort teuer ist, wohnen da Maler und Musiker und Verlagsleute und lauter Kreative. Es ist ein Vorort von London und er heißt …« Und dann flüsterte sie ehrfurchtsvoll: »… Hampstead.«
»Da ziehen wir hin?«, hakte Ethan nach.
»Ja, und es gibt dort eine fantastische Schule, wohin die Maler und Musiker und Verlagsleute ihre Kinder schicken. Sie heißt ›Die Nord-London-Akademie für Begabte und Talentierte‹. Ich habe schon Kontakt dorthin aufgenommen und wir haben euch alle drei anmelden können. Freya, du darfst dort so viel malen, wie du nur willst, und hast echte Künstler als Lehrer! Ethan, du kannst dich auf deine Musik konzentrieren und vielleicht eine Band gründen. Und Sam, du … äh … Du hast dort eine tolle Zeit und lernst spannende neue Freunde kennen.«
»Ich will keine neuen Freunde. Ich mag die, die ich schon habe.«
»Deine Freunde sind wahnsinnig nett, ich weiß, aber die Welt dort draußen ist so viel aufregender! Du wirst es lieben!«
»Willst du damit sagen, dass meine Freunde langweilig sind?«
»Nein. Das sind ganz bezaubernde Kinder.«
»Bezaubernde Kinder?! Ich bin fünfzehn und keine fünf mehr!«
»Ich rede davon, dass wir hier in Stevenage festhängen. Dieses Dorf ist langweilig. London ist eine Weltstadt. Dort leben Leute aus aller Herren Länder. Das wird fantastisch!«
»Du sagst doch immer, dass es dort laut und dreckig ist.«
»Wirklich?«
»Ja. Und vermüllt und viel zu voll.«
»Ach, daran gewöhnen wir uns. Wenn man erst echter Londoner ist, fällt einem das kaum noch auf.«
»Und was soll überhaupt eine Akademie für Begabte und...
Erscheint lt. Verlag | 23.10.2023 |
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Übersetzer | Leena Flegler |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-8458-5589-4 / 3845855894 |
ISBN-13 | 978-3-8458-5589-9 / 9783845855899 |
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