Insecta – Das Institut der Unsichtbaren (eBook)
Als Eden entdeckt, dass sie eine Wespenflüsterin ist, will sie ihre Gabe nutzen, um auch anderen Insekten eine Stimme zu geben. Doch am unterirdischen Institut der Unsichtbaren trifft sie ausgerechnet auf August. Der erklärte Insektenfeind hat nur ein Ziel: Das »Ungeziefer« zu vernichten, das ihm das Leben zur Hölle macht. Er weiß, was in den Tunneln verborgen ist und setzt alles daran, es an die Oberfläche zu bringen.
Als Eden seine Pläne durchschaut, beginnt ein atemloser Wettlauf. Doch kann sie die Katastrophe noch rechtzeitig abwenden? Oder kommt für die Insekten jede Hilfe zu spät?
Gail Lerner ist Regisseurin und Drehbuchautorin für Film und Fernsehen. Mit ihrer Arbeit hat sie einen Peabody Award und sechs NAACP Image Awards gewonnen und wurde mehrmals für den Emmy und den Golden Globe nominiert. »Insecta - Das Institut der Unsichtbaren« ist ihr erster Roman.
Hinter den Kulissen
August stand backstage und murmelte im Dunkeln Zungenbrecher vor sich hin.
»Fischers Fritz fischt frische Fische. Frische Fische fischt Fischers Fritz. Zehn zahme Ziegen zogen zehn Zentner Zucker zum Zoo. Zehn Zentner Zucker zogen zehn zahme Ziegen zum Zoo.«
Der Bereich, in dem er sich gerade befand, wurde Seitenbühne oder Seitenflügel genannt. Als Miss Batra, die Leiterin der Theater-AG, seiner Klasse zum ersten Mal erklärt hatte, dass sich links und rechts von der Hauptbühne Seitenflügel befanden, war in Augusts Vorstellung die breite Holzbühne direkt abgehoben, als wäre sie ein riesiger Vogel oder ein Flugzeug, und hatte über den Klappstühlen ihre Kreise gezogen. August war überrascht und auch ein wenig enttäuscht gewesen, dass die zwei Seitenflügel nicht wirklich wie Flügel aussahen, sondern nur die verstaubten Ecken waren, wo während der Aufführung die Vorhänge hingen.
August spähte auf die hell beleuchtete Bühne hinaus und bewunderte die drei Kartonwände, die wie das Innere eines Hauses dekoriert waren. Im Gegensatz zu einem echten Haus, das eine vierte Wand hatte, um es drinnen warm und gemütlich zu halten und fremde Blicke abzuwehren, hatte ein Bühnenbild absichtlich nur drei Wände, damit das Publikum alles darin sehen konnte: die drei Stühle, die drei Betten und die drei Schüsseln mit Porridge.
August wippte auf den Fußballen vor und zurück. Er wartete ungeduldig auf seinen ersten Auftritt als Vater Bär. Er war nicht nervös, nur aufgeregt. Er hatte sich so auf diesen Moment gefreut, dass er die Seiten seines Wort-des-Tages-Kalenders einfach abgerissen hatte, ohne die täglichen Wörter zu lesen. Er hatte schon befürchtet, dass Donnerstag, der 29. April, nie kommen würde, aber jetzt war er endlich da: der Tag, an dem sie das Stück zum ersten Mal vor der ganzen Schule spielten. Die richtige Aufführung für ihre Eltern war erst am Samstag, aber der Gedanke, vor all ihren Mitschülern zu stehen, war sogar noch aufregender. Das jährliche Theaterstück war das einzige Mal, wo August in der Schule zum Star wurde. Kinder und Lehrer aus allen Stufen würden ihn nach den Aufführungen mindestens eine Woche lang immer wieder im Gang aufhalten und ihm sagen, wie gut er war.
Heute war die Kantine-Schrägstrich-Schulversammlungshalle-Schrägstrich-Theater voll mit Kindern von der ersten bis zur vierten Klasse, die alle ganz begeistert waren, dass der Unterricht ausfiel und sie sich stattdessen ein Theaterstück anschauten. August war in der vierten Klasse, hatte aber schon in einigen Stücken mitgespielt. Er hatte gemerkt, dass er gern schauspielerte, als sie in der ersten Klasse beim Frühjahrsfest der Schule einen Tanz aufgeführt hatten. August war damals eine Sonnenblume gewesen. Der Tanz hatte nur etwa eine Minute gedauert, aber als er sich in einem filzigen grünen Ganzkörperoverall von seiner zusammengerollten Position auf dem Boden aufgerichtet hatte, auf die Füße gekommen war und schließlich auf Zehenspitzen stand, während er seine Hände, die in gelben Handschuhen steckten, der Pappmaschee-Sonne entgegenreckte, war August klar geworden, dass er jede Minute seines Lebens auf der Bühne verbringen wollte. Wenn er in eine Rolle schlüpfte, war er nicht länger der nervöse, pausbäckige, kleine Neunjährige, der im Sportunterricht als Letztes in ein Team gewählt wurde. Er konnte jeder und alles Mögliche sein, sogar die größte und anmutigste Blume auf dem Feld. Er träumte von dem Tag, an dem er endlich ein echter Schauspieler auf einer echten Bühne war, statt in diesem Mehrzweckraum aufzutreten, in dem es nach Fleischbällchen roch.
August war begeistert gewesen, als Miss Batra verkündet hatte, dass die Viertklässler dieses Jahr Goldlöckchen und die drei Bären aufführen würden und dass das Stück länger dauern würde als alles, was sie bisher einstudiert hatten: zwanzig volle Minuten. Als August fragte, ob es nicht eine halbe Stunde dauern könnte, erklärte Miss Batra, dass ein Viertklässler-Stück nicht länger als zwanzig Minuten sein darf – da sie sonst »das Publikum verlieren« würden. Zuerst stellte August sich vor, dass sie das gesamte Publikum voller Eltern verlieren würden wie Hänsel und Gretel ihre im Wald. Aber dann erklärte Miss Batra, dass »das Publikum zu verlieren« bedeutete, dass die Zuschauer irgendwann nicht mehr aufpassten und dass es die Aufgabe der Schauspieler war, diese zwanzig Minuten für sie so spannend und angenehm wie möglich zu machen. August musste daraufhin an seine Eltern denken und daran, wie sie oft müde und genervt von der Arbeit heimkamen, und ihm hatte der Gedanke gefallen, dass er ihr Leben spannender und angenehmer machen konnte – auch wenn es nur für zwanzig Minuten war. Er musste nur eine gute Leistung erbringen.
August richtete seine Bärenohren und sah auf seine braunen Fellhandschuhe und Schuhe hinab, die unter den Ärmeln und Beinen seines blauen Sonntagsanzugs hervorschauten. Miss Batra hatte Krallen angeklebt, und August war so glücklich darüber gewesen, wie toll sie aussahen, dass Miss Batra ihn fünfmal hatte ermahnen müssen, nicht darin herumzuhüpfen, solange der Kleber noch nicht getrocknet war. Miss Batra war so weise und talentiert. Und freundlich und hübsch. Sie war definitiv die beste Lehrerin an der Madison Privatschule. Vielleicht sogar in ganz Rhode Island. Vielleicht sogar im ganzen Land. August liebte das Kostüm, das sie für ihn gemacht hatte, über alles. Es war die perfekte Kombination aus Bär und Mensch, weshalb es darin nicht nur einfach war, sondern auch Spaß machte, ein wildes Tier zu spielen, das gleichzeitig die besten Eigenschaften eines menschlichen Vaters hatte. In seiner Rolle als Vater Bär konnte August die Art von Dad sein, die er selbst gern gehabt hätte.
Augusts Vater musste wegen der Arbeit ständig verreisen. Jetzt gerade war er für zwei Wochen in Los Angeles, weshalb er nicht zur Aufführung kommen konnte. August wusste, dass es seinem Dad wirklich leidtat, dass er das Stück verpasste, und dass seine Mom den gesamten Auftritt auf Video aufnehmen und ihm schicken würde. Augusts Dad würde es sich wie immer sofort ansehen und ihn dann anrufen, um mit ihm darüber zu reden. August liebte es, seinem Dad von den besten Momenten während der Proben und von den verrückten Verwechslungen hinter der Bühne zu erzählen, aber es war nicht ganz so schön, wie wenn sein Dad tatsächlich da gewesen wäre. Nicht mal annähernd. Vater Bär verreiste nie wegen der Arbeit. Er blieb zu Hause und machte etwas mit seiner Familie zusammen. Er, Mutter Bär und Baby Bär suchten den ganzen Tag im Wald nach Beeren, dann gingen sie heim und aßen jeden Abend gemeinsam Porridge.
Vater Bär war auch nicht die ganze Zeit so unfassbar vernünftig. Wenn August sich bei ihren abendlichen Telefongesprächen bei seinem Dad darüber beschwerte, dass Sheila ihn schon wieder geärgert hatte, sagte er meistens etwas wie: Mein Junge, es ist traurig, dass sie sich nur dann gut fühlt, wenn sie andere Kinder dazu bringt, sich schlecht zu fühlen. Du solltest dir mal Gedanken darüber machen, was der Grund dafür sein könnte. Was natürlich überhaupt nicht hilfreich war. Vater Bär hingegen stellte sich immer auf Baby Bärs Seite. Als er zum Beispiel herausgefunden hatte, dass ein ungezogenes Mädchen in ihr Haus eingebrochen war und den Stuhl seines Babys kaputt gemacht hatte, verjagte er es mit einem Furcht einflößenden Brüllen und ausgefahrenen Krallen. Vater Bär verschwendete keine Zeit damit, zu fragen: Warum bist du in unser Haus eingebrochen, kleines Mädchen? Hast du Hunger? Brauchst du einen sicheren Ort zum Schlafen? Stattdessen machte Vater Bär kurzen Prozess und sorgte dafür, dass sie nie wieder zurückkam.
Aber das Beste an Augusts Rolle als Vater Bär war, dass Sheila, das Mädchen, das ihn im echten Leben ärgerte, Goldlöckchen spielte. Niemand war überrascht gewesen, als sie die Rolle bekommen hatte. Sheila war genau wie Goldlöckchen ein gieriges, ungezogenes Mädchen, das alles nur für sich allein haben wollte und alles tat, um es auch zu bekommen. Der einzige Unterschied zwischen Sheila und Goldlöckchen war, dass Sheila keine goldenen Locken hatte. Sie hatte glatte braune Haare, die sie in einem schlaff geflochtenen Zopf trug. Tatsächlich war August das einzige Kind, das goldlöckchengoldene Locken hatte. Seine Mutter ließ ihm die Haare an den Seiten kurz schneiden, genauso wie all die anderen Jungs es hatten, aber sie bestand darauf, dass die vorderen Haare lang blieben, und jeden Morgen zupfte sie an seinen Locken herum, bis sie sich um seine hellblauen Augen kräuselten wie schäumendes Meerwasser um einen Gezeitentümpel. Wenn August ehrlich war, gefielen ihm seine Haare, aber er hasste es, dass Erwachsene immer meinten, sie könnten einfach durch die Locken wuscheln, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen.
»Vielleicht«, hatte Miss Batra gesagt, als die Rollen verteilt wurden, »sollte August Goldlöckchen spielen. Immerhin steht nirgends, dass Goldlöckchen ein Mädchen sein muss.«
Bei der Vorstellung, dass August Goldlöckchen spielen sollte, hatten alle gekichert, alle außer Sheila, die stinksauer war.
»Denk nicht mal dran, Null«, hatte sie ihm ins Ohr geflüstert und sich dabei so weit über den Tisch gebeugt, dass er die Fruchtgummis riechen konnte, die sie in der Mittagspause gegessen hatte. Sheila Morton nannte ihn seit über einem Jahr Null, genau genommen seitdem sie sein Zeugnis und die vielen N gesehen hatte, die für »Noch verbesserungswürdig« standen. Sheila hatte es seit dem Kindergarten auf ihn abgesehen, als er sich bei Erzähl eine Geschichte...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2023 |
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Übersetzer | Tamara Reisinger |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The big dreams of small creatures |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | 2023 • ab 10 • Abenteuer-Fantasy • Abenteuerthriller Kinder • Das große Krabbeln • eBooks • Fantasy Bücher Jugendliche • Freundschaft Kind und Tier • Insekten • Institut • Kinderbuch • Kinderbücher • Kinderbücher ab 10 jahre • Kinderkrimi • Naturschutz • Neuerscheinung • Spannung • Tiere retten • Tiersprache sprechen • Ungeziefer |
ISBN-10 | 3-641-28995-5 / 3641289955 |
ISBN-13 | 978-3-641-28995-9 / 9783641289959 |
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