Baumschläfer -  Christian Duda

Baumschläfer (eBook)

Roman
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2022 | 1. Auflage
196 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-75686-2 (ISBN)
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Der 24. Januar wird für Marius zum Wendepunkt in seinem Leben. Blutüberströmt stürmt er in die Versicherungsagentur Konstadidis und bricht zusammen: Muss Mama helfen! An diesem Tag beginnt für Marius der freie Fall, durch alle Maschen des sozialen Netzes hindurch. Er lebt auf der Straße, baut sich zwischen Mülltonnen eine Bleibe aus Kartons, erfährt Hilfsbereitschaft und wütende Tritte. Bis eine kristallklare Winternacht sich auf ihn legt wie eine warme Decke. Duda erzählt fiktiv nach einer wahren Begebenheit und wirft unbequeme Fragen auf. Ein intensiver Roman, der lange nachhallt.

Christian Duda heißt eigentlich Christian Achmed Gad Elkarim, früher hieß er sogar Ahmet Ibrahim el Said Gad Elkarim. Er war Österreicher, Ägypter und ist jetzt Deutscher, war Katholik, Muslim und ist schon seit sehr langer Zeit ein glücklicher Atheist. Er ist Autor, Regisseur und Vater, lebt in Berlin und träumt vom Snowboarden.

1

Anklage


1.1


Freitag, der 24. Januar 2014 ist für Marius Kohlstetter ein besonderer Tag. Es ist der Tag, an dem seine Mutter stirbt, der Tag, an dem er sein Blut, ihr Blut über die Straße trägt, quer über die Fahrbahn, auf die andere Seite in das Büro, vorbei an aufgerissenen Augen und Mündern, direkt zu der Tür mit dem Zeichen, das sogar die kleinen Kinder verstehen.

Er setzt sich vorsichtig auf den Toilettendeckel

Ich will nicht alles schmutzig machen.

und malt rote Kleckse ins Weiß.

»Junge! Was ist passiert?«

Fabian, der Fabi für seine Kollegen, stürzt zu ihm, fragt komisches Zeug, doch Marius Kohlstetter sieht Fabian nur verwundert an.

Es geht nicht um mich.

»Musst Mama helfen. Er bringt sie sonst um.«

Fabian wiederholt seine Frage: »Was ist passiert?«

Sieht er es nicht?

»Musst Mama helfen!«, bittet Marius.

An diesem 24. Januar 2014 verstreicht wertvolle Zeit auf der Toilette der Konstadidis Versicherungsagentur, wo Fabian Schmidt, Auszubildender in seinem letzten Lehrjahr, nach Hilfe schreit.

Mama braucht Hilfe. Nicht ich.

Über Fabians Schulter hinweg wird ein Handtuch gereicht. Marius starrt aufs Handtuch. Er sieht das saubere, adrette Gesicht des Lehrjungen und weißes Frottee, dahinter verschwimmt das Bild.

»Du wirst jetzt nicht ohnmächtig! Ja? Bitte nicht!«

Wieso hilft er ihr nicht? Sieht er denn nicht, wie dringend es ist?

Hinter Fabian, keine 20 Meter entfernt, auf der anderen Straßenseite im Erdgeschoss, rechts, dort irgendwo unter diesem grau-blauen Himmel eines windstillen 24. Januar 2014 liegt Mama und braucht Hilfe.

Das Handtuch ist weiß.

Er merkt, wie lächerlich diese Feststellung ist.

Die Flecken kriegst du nie wieder raus.

Er lacht nicht.

Er hilft nicht.

»Du musst Mama helfen.«

Hab ich das nicht gerade gesagt? Hab ich es vergessen zu sagen? Reiß dich zusammen, Marius! Hast du etwa wieder nur geträumt? Hast du dich etwa wieder mal nicht konzentriert? Mach endlich den Mund auf, Junge! Tu! Was!

Noch am 23. Januar 2014,

Gestern

als seine Mutter noch lebte, lamentierte Vater: »Was soll nur aus dir werden, Junge, wenn du immer nur träumst?«, und seine damals noch lebendige Mama

Gestern

setzte ernst hinzu: »Konzentrier dich bitte, Marius!«

Noch ist sie nicht tot.

Er schreckt hoch. Er versucht aufzuspringen. Er will dem blutigen Stillstand entkommen, hin zu »Muss Mama helfen!«, dorthin, wo, wie er weiß – und nur er weiß das im Moment –, noch mehr Blut ist, sehr viel mehr Blut, alles voller Blut!

Und bald wissen es alle.

Es fehlt die Kraft, und was von seinem Wunsch übrigbleibt, sieht für Fabian wie ein Krampf oder Anfall aus. Fabian schreit. Sein blankes, junges Gesicht ist schreckweiß und diese hilflose Verzweiflung in Fabians Gesicht

Wieso hilft er nicht?

lässt wiederum Marius brüllen:

»Du musst Mama helfen!«

Brüllt er? Marius glaubt, dass er brüllt. Zum Brüllen aber fehlt ihm längst die Kraft. Da ist ein Sirren neben seinen Ohren. Zuerst links, aber dann verliert »links« seine Bedeutung und das Sirren ist überall. Oder ist es links so laut, dass man es auch rechts hören kann?

Gerade sagt Fabian etwas.

Konzentriere dich!

»Die Polizei ist da«, sagt Fabian.

Siehste? Brüllen hilft!

Der Arm da, neben Fabians Schulter, wo eben noch das Handtuch war, der ist neu, der war da bis gerade eben nicht. Er steckt in einem blauen Ärmel. Die Farbe kennt Marius und diese Handschuhe kennt er auch.

Polizei! Endlich!

Er bricht zusammen und Fabian denkt: So sieht Sterben aus!

Doch da hat Fabian falsch gedacht.

Polizei Mama Rettung

Aber auch das ist falsch gedacht.

Ein Sanitäter stößt Fabian grob beiseite und kniet neben dem ohnmächtigen Jungen. Ein anderer fragt laut in den panischen Raum: »Wie heißt der?«

Und weil niemand seinen Namen kennt, schreit der Sanitäter jetzt nur noch: »Du? Du? Nicht einschlafen! Du!«, während der andere Sanitäter das Sweatshirt aufschneidet und Stichwunden zählt.

»Lunge«, sagt er leise und der Kollege antwortet: »Bahre. Schnell.«

Die wissen, was sie tun.

1.1.1


Auf der Straße steht Jürgen Kohlstetter, Marius’ Vater und der Bösewicht dieser Geschichte, die nicht nur irgendeine Geschichte sein will. Er hebt das blutige Messer in Richtung – schwer zu sagen, welche Richtung, die Meinungen gehen auseinander. Wahrscheinlich hat er gefuchtelt.

Die Axt in der anderen Hand ist blutbeschmiert oder: Diese Axt ist überhaupt nicht da.

Einige Augenzeugen beschreiben die Axt, andere haben nirgends eine Axt gesehen.

»Echt nicht.«

Aber Jürgen Kohlstetter steht auf der Straße, blutig mit einem blutigen Messer und eventuell eben auch einer Axt, während sein Sohn Marius im Eiltempo in den Rettungswagen getragen wird.

»Nein, der war da schon längst weg.«

War er?

»Ich bin mir sicher!«

»Ich aber auch.«

Tatsächlich wird Marius im raschen Schritt zum Krankenwagen gebracht, die Türen hastig zugeschlagen. All die gezückten Handys kamen zu spät.

»So schnell waren die …«

Und die Augenzeugen nicken traurig, weil sie alle zu spät kamen.

Der Rettungswagen fuhr in rasanter Kehrtwende an, das erinnern alle, das Tempo und das Manöver. Das Blaulicht springt noch auf den ersten Metern an. Die Sirene kommt erst, als der Wagen ganz am Ende der Straße die Kurve nimmt. Das bestreitet niemand.

»Stimmt, da hast du recht.«

Und dass ein Schuss fällt, Jürgen Kohlstetter zu Boden stürzt. Das weiß man auch.

»Beinschuss, das Arschloch.«

Ob er sich den Beinschuss wegen des Messers oder doch der Axt wegen gefangen hat, darüber wird man sich nicht mehr einig. Im Gegenteil ist man sich sogar lange böse, weil …

Wieso eigentlich?

»Weil die nicht recht haben! Stimmt einfach nicht!«

Immerhin sind sie beim »Arschloch« wieder einer Meinung.

Der Kohlstetter, ein Arschloch! Das weiß ein jeder hier in der Straße. Denn Jürgen Kohlstetter, der Täter einer bösen Tat, die diese Art Geschichte braucht, um erzählt zu werden, er war »bekannt wie ein bunter Hund«.

Dass mit dem was nicht stimmt, dass der irgendwann mal durchdrehen, dass der gefährlich – ein Arschloch eben.

Mutter Kohlstetter findet man erst danach, lange nach dem Schuss aufs Arschloch, lange nachdem der Krankenwagen »Lüü lala und um die Ecke …«

»Nein, ab und davon ist er!«, erklärt eine Sie.

»Mein ich doch!«, schreit Lüü lala und dann schreit er weiter: »Bei der Kohlstetter …«

»Die Tote meint er«, pflichtet ihm eine ganz andere bei.

»… kam jede Hilfe zu spät.«

»Aber das wissen die ja schon!«, ist das wütende Resümee empörter Mitbürger.

Dann gehen die Aussagen wieder durcheinander, aber das interessiert niemanden. Die Kugel hat sich dieses Arschloch verdient, sagt ein Publikum, das Schießereien bisher nur aus dem Fernseher kannte, denn in der Verwunderung sind sich alle wieder und sogar wortwörtlich einig:

»Schüsse klingen in echt ganz anders!«

1.1.2


Der Auszubildende Fabian will nicht über das Erlebte sprechen. Der 24. Januar 2014 bleibt auch ihm unvergessen. Er sieht Marius ins Büro kommen. Die Szene verfolgt Fabian, doch mal stürzt Marius, mal taumelt er herein oder er steht plötzlich da. Die blutigen Auftritte ändern sich in seinem Kopfkino ständig. Die Kacheln in der Toilette hingegen bleiben für ewig rot. Das Blut kann Fabian nicht vergessen. Und seine eigene Hilflosigkeit, die seither an ihm wie Teer klebt, die er in seinen Träumen immer wieder durchleidet und streng verhandelt.

»Warum hast du denn nicht mehr getan?«, wirft er sich im Schlaf vor und trägt diesen Vorwurf durch die folgenden Tage und Wochen. Durch sein weiteres Leben.

Sein Lehrherr Konstadidis gibt an Fabians Stelle die Interviews, spricht von »wir« und wiederholt mit präzisen Worten diesen Schreckensmoment...

Erscheint lt. Verlag 20.7.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-407-75686-0 / 3407756860
ISBN-13 978-3-407-75686-2 / 9783407756862
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