Pip und seine wilden Freunde in der Stadt (eBook)
160 Seiten
Ravensburger Buchverlag
978-3-473-51111-2 (ISBN)
1. Kapitel
Jetzt oder nie!
Pip und seine neuen Freunde kauerten in einem dunklen Graben. Über ihnen donnerten glänzende Riesentiere vorbei und ließen die Erde beben. Ihr beißender Geruch und ihr pausenloses Gebrüll erfüllten die Luft.
„Autos“, sagte die junge Dächsin Melly grimmig. „Vor denen hat mich meine Mutter immer gewarnt.“ Im Halbdunkel leuchtete das Weiß ihrer Augen. „Statt auf Pfoten bewegen sie sich auf Rädern fort und zerquetschen ihre Opfer. Sie töten grundlos und halten nicht mal an, um ihre Beute zu verzehren.“
Kora flatterte zum Rand des Grabens hoch. Ihr verletzter Flügel machte ihr immer noch zu schaffen, aber sie jammerte nie darüber. Nachdem sie sich umgeschaut hatte, sah sie wieder zu Pip und Melly hinunter. Verunsicherung sprach aus ihren blanken schwarzen Augen.
„Sind wir hier wirklich richtig?“, krächzte sie.
„Ich kann vielleicht über diese Ungeheuer hinwegfliegen, aber ihr beide …“ Sie musterte ihre Gefährten. „Euch machen sie sofort platt.“
Pip stellte sich auf die Hinterbeine, hielt mit dem buschigen Schwanz das Gleichgewicht und spähte über den Grabenrand. Als das nächste Riesentier vorbeibrauste, zerzauste ein heißer Windstoß das Fell des jungen Eichhörnchens und es hagelte Steinchen. Hinter den Autos zeichneten sich die sonderbaren eckigen Baue der Menschen als schwarze Umrisse vor dem Himmel ab.
Pip drehte sich um und betrachtete den Weg, den sie gekommen waren.
Die Sonne stand niedrig über den Wiesen und ließ die Ränder der Wolken orange- und rosafarben leuchten. Der Wald war nur noch als verschwommene dunkle Masse am Horizont zu erkennen.
Auf einmal hatte Pip Heimweh nach seinem Kobel hoch oben in einer Buche, der mit trockenem Laub und Gras weich ausgepolstert war. Allerdings war der Kobel seit dem Tod von Pips Mutter irgendwie nicht mehr derselbe … Und danach war auch noch sein Vater verschwunden und nie mehr aufgetaucht. Seither fühlte sich Pip nirgendwo mehr richtig geborgen.
Wenigstens bin ich jetzt nicht mehr allein, dachte er. Was für ein Glück, dass er Kora und Melly kennengelernt hatte und dass sie ihm halfen, seine schwere Aufgabe zu erfüllen!
Er ließ die kostbare Eichel, die er zwischen den Zähnen hielt, in seine Vorderpfoten fallen. Nach dem Tod des Hüterbaums war die schimmernde Frucht die letzte Hoffnung, die den Bewohnern des Waldes geblieben war.
Die uralte weise Eiche auf einer Lichtung mitten im Wald hatte die Tiere aller vier Völker mit Ratschlägen versorgt und das seit undenklichen Zeiten. Doch sie war gestorben.
Pip und seine Freunde mussten die Eichel an einem geschützten Ort einpflanzen. Dann konnte daraus eine neue Hüterin wachsen und die Waldtiere hätten eine neue Heimat. Doch als Pip nun den Autos nachschaute, kamen ihm nagende Zweifel.
Ich habe den Wald noch nie verlassen, dachte er, und jetzt hängt das Schicksal all seiner Bewohner von mir ab! Bin ich wirklich der Richtige für diese Aufgabe? Oder hat sich die Hüterin in mir getäuscht?
Plötzlich leuchtete über ihnen etwas Weißes auf.
Es war eine Eule. Sie segelte mit ausgebreiteten Schwingen in Richtung der Menschenbaue, dann wandte sie den Kopf und sah Pip an. Er erkannte sie sofort wieder, denn sie hatte ihm schon öfter beigestanden.
Im nächsten Augenblick war der große Vogel außer Sichtweite, aber Pip war sich jetzt ganz sicher, dass sie hier richtig waren.
„Wir müssen auf die andere Seite“, sagte er mit fester Stimme.
Als er die Autos beobachtete, fiel ihm auf, dass alle in die gleiche Richtung sausten und Abstand zueinander hielten. Keines kam auf ihn und seine Freunde zu.
„Die Autos wollen uns nichts tun!“, rief er über die Schulter. „Sie achten gar nicht auf uns. Wenn wir schnell machen, schaffen wir es!“
Doch da donnerte ein besonders großes, hohes Ungeheuer mit riesigen Rädern vorbei. Melly wich erschrocken zurück, und auch Pip bekam es mit der Angst zu tun, als ihn der kräftige Windstoß beinahe umwarf.
Schätzte er die Lage etwa doch falsch ein? Aber nein – das konnte nicht sein!
„Vielleicht ist es das Beste, wenn Kora mit der Eichel vorausfliegt“, meinte Melly. „Wenn es dann einen von uns beiden erwischt, kann sie wenigstens –“
„Kommt nicht infrage!“, schnitt ihr Pip energisch das Wort ab. „Wir bleiben zusammen.“ Um seine eigenen Zweifel zu verdrängen, atmete er ein paarmal tief durch, dann setzte er hinzu: „Ich sage euch, wann der richtige Augenblick ist.“
Er nahm die Eichel wieder zwischen die Zähne und wartete angespannt. Trotzdem verpasste er die nächste und übernächste Lücke zwischen den Autos. Seine Pfoten waren auf einmal wie im Boden verwurzelt und das Kommando „Los!“ blieb ihm im Halse stecken.
Reiß dich zusammen, Pip!, ermahnte er sich.
Sonst gibt es nie eine neue Hüterin. Nie einen neuen Wald.
Ein niedriges rotes Auto raste so schnell an ihnen vorbei, dass der Abstand zu dem weißen dahinter ungewöhnlich groß war. Jetzt oder nie!
„Los!“, rief Pip so laut, wie er mit der Eichel im Maul konnte, und sprang mit einem großen Satz aus dem Graben.
Kora und Melly folgten ihm. Pips Krallen klackerten über den harten, glatten Boden. Das Gebrüll der Autos war ohrenbetäubend, aus dem Augenwinkel sah er die gefährlichen Räder. Das weiße Auto kam immer näher … Pip rannte um sein Leben. Geschafft! Er spürte weiches Gras unter den Pfoten.
Rasch duckte er sich hinter ein Büschel welker Mohnblumen und sah sich nach seinen Freunden um. Als Melly keuchend angetrabt kam, fiel ihm ein Stein vom Herzen, und auch Kora landete wohlbehalten neben ihnen. Alle drei mussten erst einmal wieder zu Atem kommen. Dann schüttelte sich Melly und Kora legte die zerzausten Federn wieder an.
„Wir leben noch“, stellte die Krähe fest.
Als Pip klar wurde, wie knapp sie dem Tod entronnen waren, drohten seine Beine nachzugeben, aber er durfte sich jetzt nichts anmerken lassen.
„Ein guter Anfang!“, sagte er. „Und jetzt müssen wir weiter.“
„Aber wohin?“, fragte Melly.
Pip schaute sich um und sah weiter vorn noch mehr Autos, aber sie hockten reglos auf einem großen grauen Feld, das von weißen Linien durchzogen war. Schliefen sie? Oder waren sie tot?
Hinter ihnen erhoben sich dicht gedrängt gewaltige Baue, deren Vorderseiten mit bunten Mustern bedeckt waren. Und überall waren Menschen. Sie kamen aus den Bauen oder liefen hinein, trugen irgendetwas in den Pfoten und hasteten scheinbar ziellos umher.
Am Rand des Feldes mit den Autos standen in Reihen noch mehr Baue. Allerdings waren sie niedriger und mit blanken Flecken übersät, die wachsamen Augen glichen. Aber vor allem waren dort viel weniger Menschen unterwegs.
Pip entdeckte zwischen den Bauen einen schmalen Pfad. Er war von Gestrüpp überwuchert, das Schutz vor feindlichen Blicken bot.
„Kommt!“, sagte er entschlossen.
Der harte Boden war dort, wo die Sonne drauffiel, unangenehm heiß. Melly hielt sich dicht hinter Pip, Kora flog über ihnen. Zu ihrer Erleichterung würdigten die Autos sie keines Blickes, nur eines gab ein leises Ticken von sich. Pip bekam einen Schreck, doch das Auto rührte sich nicht.
Die drei setzten ihren Weg fort.
Hinter den Autos kam erst ein Streifen mit verdorrtem Gras, dann hatten sie den Pfad zwischen den niedrigen Bauen erreicht. Im kühlen Schatten hielt Pip an. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Der Pfad war leer, aber in der Luft hing Tiergeruch.
„Wer ist da?“, schnurrte es plötzlich über ihnen.
Pip duckte sich instinktiv, bereit zur Flucht oder zum Angriff, und Kora krächzte warnend. Doch als Pip den Kopf hob, verschlug es ihm die Sprache.
Auf einem niedrigen Bau aus Holz saß ein fremdartiges Geschöpf und schaute zu ihnen herab. Es hatte flauschiges weiß-braunes Fell, runde gelbe Augen und so spitze Zähne wie ein Fuchs. Doch das flache Gesicht und die hängenden Barthaare sahen gar nicht nach einem Fuchs aus. War das vielleicht ein Hund?
Am Rand des Hüterwaldes gab es auch einen kleinen Menschenbau. Von einem Streifzug dorthin kannte Pip Hunde, aber dieses Geschöpf hier roch anders. Trotzdem, wer solche krummen Reißzähne und blitzenden Krallen hatte, musste ein Räuber sein.
Hilfe!, dachte er.
„Verzieh dich!“, krächzte Kora und schlug drohend mit den Flügeln. „Sonst machst du Bekanntschaft mit meinem Schnabel, und der ist ganz schön spitz!“
Melly knurrte dumpf.
Der Fremde peitschte mit dem buschigen Schwanz. „Wie unhöflich“, sagte er. „Schließlich seid ihr in mein Revier eingedrungen. Außerdem will ich euch gar nichts tun.“
Kora wich zurück, Melly sträubte das Fell und Pip machte sich bereit loszuflitzen. War der Fremde wirklich friedfertig oder würde er sich gleich auf sie stürzen?
„Meine Menschin versorgt mich mit allem, was ich brauche“, fuhr der Fremde fort. „Wenn ich ihr mal einen Vogel mitbringe, wird sie böse. Das wäre bei einem Eichhörnchen bestimmt nicht anders.“
Melly knurrte wieder und fletschte die Zähne.
„Oder bei einem Dachs“, schob der Fremde daraufhin rasch nach. „Obwohl – wer will schon einen Dachs...
Erscheint lt. Verlag | 28.2.2022 |
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Illustrationen | Nina Dulleck |
Mitarbeit |
Cover Design: Nina Dulleck |
Übersetzer | Katharina Orgaß |
Verlagsort | Ravensburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | ab 8 Jahren • Abenteuer • Antolin • Baum-Sterben • Buch • Bücher • Dachs • Eiche • Eichhörnchen • Freundschaft • Geschenk • Geschenkidee • Kinder-Buch • Krähe • Lesen • Literatur • Mut • Natur • Peter Wohlleben • Prophezeiung • Stadt • Umwelt • Vorlesen • Wald • Wald-Sterben • Wilde Tiere |
ISBN-10 | 3-473-51111-0 / 3473511110 |
ISBN-13 | 978-3-473-51111-2 / 9783473511112 |
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Größe: 5,9 MB
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