Mein Leben als lexikalische Lücke (eBook)
448 Seiten
Arctis Verlag
978-3-03880-144-3 (ISBN)
Kyra Groh wurde 1990 in Seligenstadt am Main geboren. Sie begann bereits mit elf Jahren, ihre ersten Kurzgeschichten zu verfassen, und seither ist das Schreiben ihr fester Begleiter. Bisher hat sie fünf Romane veröffentlicht. ?Sicherheit ist eine verdammt fiese Illusion? ist ihr erstes Buch für Jugendliche. Sie lebt mit ihrem Freund in Frankfurt am Main - und in ihren gemeinsamen vier Wänden läuft garantiert immer Musik, ein Hörbuch oder eine Netflix-Serie.
Kyra Groh wurde 1990 in Seligenstadt am Main geboren. Sie begann bereits mit elf Jahren, ihre ersten Kurzgeschichten zu verfassen, und seither ist das Schreiben ihr fester Begleiter. Bisher hat sie fünf Romane veröffentlicht. ›Sicherheit ist eine verdammt fiese Illusion‹ ist ihr erstes Buch für Jugendliche. Sie lebt mit ihrem Freund in Frankfurt am Main – und in ihren gemeinsamen vier Wänden läuft garantiert immer Musik, ein Hörbuch oder eine Netflix-Serie.
Jule
Nach dem Biounterricht gehe ich direkt von der Schule mit zu Kris nach Hause. Ich brauche ein wenig, um darauf klarzukommen, was heute im Supermarkt passiert ist. Kris ist natürlich voll begeistert davon, dass wir ausgerechnet in den Typen reingelaufen sind, von dem ich ihr nur Minuten vorher vorgeschwärmt habe. Weil das in ihrer Welt nämlich kein irrer Zufall ist, sondern »ein Zeichen«. Wenn man mich fragt, ist die ganze Situation bestenfalls ein Zeichen dafür, dass ich nicht mehr alle Latten am Zaun habe.
»Du hättest ihn ansprechen sollen«, sagt sie, als wir mit der U-Bahn nach Bockenheim zur Wohnung ihrer Mutter fahren.
»Klar! Und was hätte ich sagen sollen? ›Du kennst mich noch nicht, aber ich bin die Durchgedrehte, die dich die letzte Woche angeglotzt und sich eine ganze Origin-Story für dich überlegt hat?‹«
»Du hast was?«, ruft sie in ihrer üblichen Lautstärke, die uns prompt ein paar Zuhörer extra einbringt. Für Kris ist das ganze Leben eine Vorführung, und wie jede Künstlerin hat sie lieber mehr Publikum als weniger.
»Wieso bist du nicht noch lauter? Es gibt bestimmt ein paar Leute in Offenbach, die dich noch nicht gehört haben.«
Kris lehnt sich gegen den Haltegriff der U-Bahn und verschränkt abwehrend die Arme. Mit spitzer Schnute protestiert sie: »Ich weiß gar nicht, wieso du so anti bist. Verliebt sein ist etwas Tolles. Und dass dein Kopf so ’ne Megastory um ihn spinnt, ist doch geil! Du solltest einfach hammerstolz auf deine Kreativität sein!«
»Ja, genau«, brumme ich. »Kreativität meint, dass man coole Bilder malen, irgendwas komponieren oder dichten kann. Nicht dass man einem Wildfremden einen Vornamen aus dem achtzehnten Jahrhundert gibt, weil der cooler klingt als Simon oder Tim oder Benni.«
»Vielleicht ist das so ’ne Art Vorzeichen dafür, dass du auf Rollenspiele stehst.«
»Danke, Kris, diesmal haben es auch alle Leute in Offenbach gehört.«
Die Nachmittage bei Kris gehen immer zu schnell rum. Ich weiß, dass Zeit relativ ist, aber manchmal ist sie zusätzlich auch ziemlich fies. Es wäre viel besser, wenn eine Doppelstunde Mathe so schnell verginge wie ein Tag mit meiner besten Freundin. Oder wenn die Ladezeit auf Instagram, wenn man kein Datenvolumen mehr hat, so kurzweilig wäre wie ein Gespräch mit ihr.
Ich liebe an Kris vor allem, dass sie neben ihrer total rationalen und knallharten Art einen Hang zur Esoterik hat. Wissenschaftliche Fakten scheinen Kris nämlich völlig egal zu sein, sobald ihre beste Freundin das sprichwörtliche Auge auf jemanden geworfen hat. Jemanden, der ihr seit dem Beinahecrash noch vehementer in der Birne herumgeistert. So philosophiert sie zum Beispiel darüber, wieso ich mich mit Jungs »in eine Traumwelt flüchte« (ihre Worte, nicht meine), dass sie »zwischen Amadeus und mir eine spirituelle Verbindung gespürt« habe (definitiv ihre Worte, nicht meine) und dass meine Angewohnheit, Typen nur in meinen Gedanken zu daten, vielleicht eine besonders konsequente Form des Feminismus sei (so was von auf gar keinen Fall meine Worte).
Den Rest des Nachmittages haben wir mit dem Design eines neuen Jutebeutels in dem Künstleratelier ihrer Mutter verbracht und heiße Schokolade getrunken.
Auf dem Weg mit der U-Bahn nach Hause breite ich einen unserer frisch bemalten Beutel vor mir auf den Knien aus. Darauf sind zwei Dinosaurier in grellem Pink zu sehen, ein großer, langhalsiger und ein T-Rex mit angewinkelten Stummelarmen und offenem Maul. In der gezackten Sprechblase über dem fleischfressenden T-Rex steht: »Hey! Do you get enough protein?«, und der Pflanzenfresser sagt: »Oh no, not you again!« Ich streiche stolz über die Konturen des Siebdrucks und die Sprechblasen, die wir per Hand mit einem Textilstift auf den Stoff abgepaust haben. Kris will die Beutel und T-Shirts verkaufen. Beim nächsten Schulfest, auf einem Weihnachtsmarkt und natürlich auf Etsy. Ihre Mutter würde uns dabei helfen, sagt sie. Und das würde sie wirklich, das weiß ich. Doch schon bei dem Gedanken daran, auf einem Weihnachtsmarkt, den womöglich meine Eltern besuchen könnten, solche Statement-Beutel zu verkaufen, schnürt sich in meinem Hals etwas zu.
Der Fernseher läuft, als ich daheim ankomme. Meine Eltern sitzen im Wohnzimmer und sehen sich eine Comedyshow an. Ich lege meine Schultasche im Flur ab und gehe hinein, um ihnen zu zeigen, dass ich da bin.
Papa hat sich ganz auf einem der beiden durchgesessenen Sofas ausgebreitet. Mama sitzt im Sessel daneben, ihre Lesebrille auf der Nase und im Schoß eine Packung Flips.
»Hey«, sage ich.
»Julia, Mensch, leise, wir gucken das doch!«
»Das ist der Bechtling, Julia, weißt doch, der Papa hört den so gern!«
Konrad Bechtling. Kris hasst diesen Comedian mit Leib und Seele. Ab und an schickt sie mir Tweets, in denen sein Programm auseinandergenommen wird. Zu jeder Liveshow von diesem Typen kommen Tausende Gäste und im TV hat er sogar seine eigene Sendung, mit der er seit Jahren eine ganz gute Quote erzielt. Niemand hindert ihn daran, fiese Sprüche über jeden zu machen, der nicht seine engstirnige Weltansicht teilt. Erst vor ein paar Wochen hat Kris mir ein Video gezeigt, in dem Bechtling fast fünf Minuten lang darüber zetert, dass er sich von »irgendwelchen neumodischen Ökos« gar nichts vorschreiben lasse. Seine unoriginellen und rassistischen Anekdoten darüber, wie er Schnitzel mit Paprikasoße oder Schokoküsse »nun mal schon immer genannt hat«, klingen mir noch in den Ohren nach.
Mein Vater wedelt wild mit den Händen herum, um sowohl Mama als auch mir das Wort abzuschneiden.
»Wissen Sie, das nennt man ja heutzutage Politik. Nicht zur Schule gehen! Das nennen diese Kinder Politik. Das ist kein Schwänzen oder Faulheit, das ist … ein Statement!«
Der sogenannte Komiker weiß ganz genau, wo er eine Kunstpause machen muss, um sein Publikum vor der Mattscheibe zu reizen. Er läuft vor seinem Bühnenbild von links nach rechts wie ein hungriger Panther. Die Kamera schwenkt auf die Besucher im Fernsehstudio, die wie auf Kommando in Gelächter ausbrechen. Erst dann lachen auch meine Eltern. Irritiert blicke ich von den beiden Menschen, von denen ich abstamme, zu dem dünnen Mann im Kabelfernsehen, der wie immer eine Schiebermütze trägt und die Hände zwischen seinen Pointen in die Hosentaschen gleiten lässt.
»Jaja, so ist das. Sechzehnjährige machen heutzutage Politik. Indem sie nicht zur Schule gehen. Politik. Wissen Sie was? Wenn das, was ich mit sechzehn am allerliebsten gemacht habe, als politisches Statement gegolten hätte, dann hätten wir mittlerweile ein Ministerium für Pornoheftchen und internationale Wichs-Angelegenheiten und ICH … wäre Ministerpräsident. In diesem Sinne – macht schön Politik und gute Nacht!« Er verabschiedet sich mit einer eindeutigen Handbewegung, die ich von dreizehnjährigen Hormonschleudern aus der Schule kenne, und unter Applaus beginnen die Credits seiner Sendung.
Mein Vater lacht immer noch, als Mama einwirft: »Aaah, da hat er mir schon mal besser gefallen. Ich mag’s nicht, wenn er so schweinisch wird.«
»Ach, komm, das kapierst du halt nicht. Als Mann lacht man darüber!«
»Neeeeeein«, insistiert Mama, »letzte Woche, die Nummer über die Veganerin – das fand ich lustiger.«
»Was hat er denn da erzählt?«, bricht es aus mir heraus, bevor ich mich stoppen kann.
Mama, die meine Frage für ehrliches Interesse an Konrad Bechtlings Show hält, gerät ins Kichern und versucht den Witz zu rekonstruieren: »Ach, ich kann das ja nicht so gut erzählen wie der Bechtling, aber es ging quasi darum, dass diese Veganerin sich für was Besseres gehalten hat, weil sie keine Tiere isst, aber im Endeffekt sorgt ihr Essverhalten dafür, dass der Amazonas stirbt oder so.«
»Wegen dem Soja«, wirft Papa zur Hilfestellung ein, »wegen dem Soja!«
»Ja, genau, irgendetwas mit Soja, ich kann das nicht so gut erzählen, aber es war jedenfalls sehr lustig.« Sie steckt sich eine Handvoll Flips in den Mund und ergänzt: »Hättest du sehen müssen, Julia.«
»Ich glaube, ich bin nicht traurig, dass ich es verpasst habe.« Auch dieser Satz rutscht mir raus. Obwohl meine Eltern die letzten Menschen sind, mit denen ich weiter über diese Themen diskutieren möchte. Nach der Einlage von gerade ist es ja mehr als offensichtlich, dass sie nichts von meinen Ansichten halten, geschweige denn sie verstehen.
Ich weiß, ich sollte nicht zickig sein, sondern stattdessen erklären, wieso sie und Konrad Bechtling falschliegen. Ich kenne alle nötigen Argumente, um diesen Stuss zu widerlegen. Es wäre meine Pflicht, meinen Eltern zu erklären, dass das im Amazonas angebaute Soja zum Großteil für Nutztierfutter gebraucht und gar nicht wirklich zu Tofu verarbeitet wird. So könnten sie langfristig etwas lernen und Verständnis aufbauen. Aber die Art, wie meine Eltern über diesen Unfug lachen, sorgt dafür, dass die Erwiderung in meiner Kehle festfriert. Ich will nicht rechthaberisch klingen. Ich will keinen Streit mit meinen Eltern. Ich will das alles so unbedingt vermeiden, dass ich sogar Konrad Bechtling und seine doofen Witze gewinnen lasse.
Als ich vom Wohnzimmer über den Flur auf mein Zimmer zugehe, öffnet sich die Eingangstür und Dustin torkelt herein. Er ist breit wie eine achtspurige Autobahn.
»Was willsu?«, lallt er mir zu, nur weil ich ihn anscheinend eine Millisekunde zu lange angesehen habe.
»Du bist voll«, sage ich nur.
»Und du bissss … ach ja, du bisss – wie war das noch? Vegan, Feminist,...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2021 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre |
Schlagworte | Eltern-Kind-Konflikt • Erste Liebe • Ideale • Jugendbuch • Klimastreik • Krankenhaus • Rechtsruck • Teenager • Wörterliebe • Zerrissenheit |
ISBN-10 | 3-03880-144-5 / 3038801445 |
ISBN-13 | 978-3-03880-144-3 / 9783038801443 |
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