Jetzt ist alles, was wir haben (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018
400 Seiten
cbj (Verlag)
978-3-641-19720-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jetzt ist alles, was wir haben - Amy Giles
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Sei die Beste. Und wenn nötig, sei unsichtbar.
Mit diesem Credo hat Hadley McCauley in ihrer Familie gelernt zu überleben. Perfekte Schülerin, perfekte Sportlerin, perfekte Tochter: Nur so kann sie ihren Vater bei Laune halten. Denn hinter der makellosen Fassade der McCauleys verbirgt sich ein hässliches Geheimnis. Um ihre kleine Schwester Lila vor dem unberechenbaren Vater zu schützen, tut Hadley alles. Doch dann tritt Charlie Simmons in ihr Leben und zwischen den beiden entwickelt sich eine verzweifelt-intensive Beziehung. Unterdessen eskaliert daheim die Gewalt, und Hadleys Strategie, nichts preiszugeben, greift nicht mehr. Doch auch als es zur Katastrophe kommt, schweigt sie ...

Amy Giles ist Werbetexterin und hat so ziemlich alles betextet, was man sich vorstellen kann, darunter Frühstücksflocken-Spots, animierte Webisoden und Katalogtexte für Anglerprodukte. Ihre wahre Leidenschaft gilt jedoch dem Schreiben von Romanen für Jugendliche. Sie lebt auf Long Island mit ihrem Mann, ihren zwei Töchtern im Teenageralter und einem Rettungshund. Ihr erster Roman, »Jetzt ist alles, was wir haben«, wurde mit dem Buxtehuder Bullen ausgezeichnet.

damals

Der Himmel vor meinem Schlafzimmerfenster ist schwarz und unfreundlich. Er befiehlt meinem Körper, weiterzuschlafen, aber leider haben auf unser Haus selbst die himmlischen Gesetze keinen Einfluss.

Unten scheppert der Metalllöffel gegen den Glasbehälter, in dem sich Dads kostbare Gourmetbohnen befinden. Es folgt das nervenzerfetzende Knirschen der Kaffeemühle, das mir wie eine Kreissäge ins Trommelfell schneidet. Whirr, whirr. So klingt mein Wecker, fünf Tage die Woche.

Die Schwerkraft presst sich auf meinen schläfrigen Körper und drückt mich tiefer in meine Matratze. Aber mich für das bisschen Schlummern wieder den Schlaf zu kämpfen, lohnt sich nicht. Ich schlüpfe unter der warmen Bettdecke hervor, streife meinen Schlafanzug ab, zwänge mich in die schwarzen Lauftights mit den Reflexstreifen, dann in den Sport-BH und ins Top. Ich schnüre mir gerade die Schuhe zu, als er gegen die Tür bollert.

»Ich komm ja schon«, flüstere ich. Ich beuge mich vor und drehe zum Öffnen den Türknauf.

Dad schlürft geräuschvoll seinen Kaffee. Es erstaunt mich immer wieder, wie er mit diesem ganzen Kaffeegeschwappe in seinem Bauch laufen kann.

»Wir sind spät dran.« Er versucht nicht mal, seine Stimme für das schlafende Haus zu dämpfen.

Ich beeile mich, um ihn wenigstens von Lilas Tür fernzuhalten. Als ich in ihrem Alter war, hätte ich problemlos vierzehn Stunden am Stück durchschlafen können, wenn mich jemals irgendwer gelassen hätte. Hat aber niemand. Ob’s Lila glaubt oder nicht: Die Erstgeborene zu sein, hat nicht den geringsten Vorteil.

Mit ihren zehn Jahren hält Lila mein Leben für aufregend. Ich gehe zu feierlichen Preisverleihungen mit meinem Lacrosse-Team. Ich nehme Flugstunden am McKinley-Flughafen. Ihr ist noch immer nicht bewusst, wie viel von meinem Leben mir in Wirklichkeit gar nicht gehört.

»Mach schon, wir wollen los«, sagt Dad mit einem Blick auf die Uhr. Wenn wir eine Stunde laufen, hat er Zeit für eine kurze Dusche und kriegt noch den Zug um 6:17 Uhr. Das Aufstehen um diese gottlose Zeit von 4:30 Uhr passt in seinen Tagesplan. Ich komme nach Hause, gehe duschen, frühstücke, dann helfe ich Lila bei der täglichen Kleiderfrage. Ginge es nach Mom, würde Lila wie ein erbärmliches Barbiepüppchen rumlaufen. Hätte Lila das Sagen, würde sie aus der Haustür marschieren, als wäre sie die Moderatorin der MTV-Music-Awards. Sie fährt total auf Musik und Tanzen ab, deshalb habe ich sie damals angebettelt, mich zu ihrer Stylistin zu ernennen.

»Jede Diva, die etwas auf sich hält, hat eine«, klärte ich sie auf.

Es macht Spaß, Modenschau mit ihr zu spielen. Bevor sie geboren wurde, war ich sieben Jahre lang ein Einzelkind. An dem Tag, als Mom aus dem Krankenhaus kam, setzte sie Lila in ihrer Babywippe auf dem Boden ab.

Ich saß vor ihr und beobachtete sie stundenlang, um sicherzugehen, dass sie nicht einfach aufhörte zu atmen. Der Gedanke, ihre Lungen könnten aufgeben, weil es zu anstrengend war, machte mich schier wahnsinnig. Wer glaubte, Leben und Atmen sei selbstverständlich, überschätzte die ganze Sache total. Indem ich Lila keine Sekunde aus den Augen ließ, rief ich sie durch meine eigene Willenskraft ins Dasein.

Und dann durfte ich sie auf den Arm nehmen. Hell und blond wie meine Mutter, mit großen, blauen Augen – anders als Dad und ich mit unseren langweiligen braunen Haaren und tristen Braunaugen – sah Lila aus wie meine höchstpersönliche Babypuppe.

»Jetzt bist du eine große Schwester«, sagte meine Mutter und lächelte auf mich herab, als spräche das pinkfarbene ICH BIN EINE GROSSE SCHWESTER-T-Shirt, das sie mir im Krankenhaus gekauft hatten, nicht für sich selbst.

»Du musst sie beschützen und dich wirklich gut um sie kümmern.«

Von allem, was meine Mutter jemals von sich gegeben hat, ist diese Aufforderung wahrscheinlich das Einzige, was ich todernst genommen habe.

Dad und ich dehnen uns in der Auffahrt, und auf der nachtschwarzen Straße übernimmt er die Führung. Vor jeder Whopper-Villa, an der wir vorbeikommen, gehen die Bewegungsmelder an und erhellen den Weg hinter uns. Unser Block ist eine Neubausiedlung, die auf dem Gelände einer ehemaligen Kartoffelfarm errichtet wurde, weshalb wir Imidacloprid, DDT und andere Pestizide im Grundwasser fürchten müssen, die für die erhöhte Krebsrate rund um Long Island verantwortlich sind. Daher gehört der Poland Spring-Wassertankwagen hier zum festen Inventar.

Unser Eigenheim-Modell hat die obligatorischen fünf Schlafzimmer, viereinhalb Badezimmer, Luxusküche, Granit-Arbeitsplatten und dreieinhalb Meter hohen Kassettendecken. Anstelle des Heimkinos, das alle anderen Häuser haben, beauftragte Dad die Bauunternehmer, unseren Keller in ein Fitnessstudio umzuwandeln. Dad trainiert, als ginge es zu den Olympischen Spielen. Und das bedeutet: Ich tue dasselbe.

Ein paar Hunde bellen, als wir an ihren Häusern vorbeilaufen. Die Nachbarn sind sicher hellauf begeistert. Niemand sollte um diese Zeit wach sein. Nicht wir. Nicht die Hunde. Ich hechle zum Rhythmus meiner auf das Straßenpflaster eintrommelnden Füße. Ich schätze mal, so ähnlich läuft das auch beim Meditieren. Meine Aufmerksamkeit auf das Atmen zu lenken, hilft mir, den stechenden Schmerz in meiner Hüfte zu ignorieren. Die Oktoberluft ist schon so frostig, dass ich meinen Atem sehen kann. Bald wird es richtig kalt, aber unsere Joggingrunden sind über jedes Wetter erhaben.

»Die Deadline zur Vorab-Registrierung steht an«, schnauft Dad, während eine weiße Atemfahne seine Worte unterstreicht. Ich nicke. Er schaut mich abwartend an, aber ich tue so, als würde ich mich auf das Laufen konzentrieren.

»Erster November.«

»Jep.« Ich keuche.

»Cornells Lacrosse-Team hat letztes Jahr extrem gut abgeschnitten. Die von Brown waren ein bisschen besser, aber …« Er bricht ab.

»Ich weiß.« Du hast es mir erklärt. Die präzise Wahl meiner Worte ist für mich eine wichtige Überlebenstechnik, so wie man in der Wildnis das Feuermachen oder das Sammeln essbarer Pflanzen beherrschen muss.

»Wir sollten an einem der nächsten Wochenenden mal hochfliegen. Uns noch mal umschauen. Und dann auch mit dem Trainer reden.«

Ich nicke.

Er keucht. »Zieh das Tempo an, du hinkst hinterher.«

Keine Ahnung, wie ich hinterherhinken kann, wenn wir Kopf an Kopf sind, aber ich ziehe an, gerade so viel, dass er sich jetzt anstrengen muss, mit mir Schritt zu halten.

Plötzlich hält er inne, krümmt sich, greift sich an die Brust. Er hustet und schnappt nach Luft.

»Dad, bist du okay?« Angst und Panik und irgendetwas unfassbar Leuchtendes an den Rändern meines Sichtfeldes nageln mich am Boden fest. Er antwortet nicht. Endlich richtet er sich auf und spuckt einen Rotzflatschen auf die Straße.

»Mir ist was in den Rachen geflogen«, schnauft er mit tränenden Augen. »Ich bin okay.«

Er rennt weiter und ich folge ihm.

Vor der dritten Stunde erwarten mich Meaghan und Noah an unseren Spinden.

»Na, Muscles?«

Meaghan beugt sich vor und zwickt mir zur Begrüßung in den Bizeps.

Noah lehnt mit verschränkten Armen und abschätzig heruntergezogenem Mundwinkel an seiner Spindtür. Als er mich sieht, weiten sich seine Augen.

»Du läufst wie meine Nana kurz vor ihrer Hüft-OP«, sagt er.

Ich hinke leicht, aber von dem schlurfenden Taumeln, das Noahs Großmutter draufhatte, bin ich ja wohl weit entfernt. Allerdings fühlt sich mein Körper trotz der zwei Ibuprofen so alt und verknarzt an wie ihrer.

Ich drehe an meinem Spindschloss und vergewissere mich, dass ich die richtigen Zahlen treffe. Mein Schloss ist so widerspenstig und unflexibel wie der gesamte Rest meines Lebens.

»Ich hab Ärger mit der Hüfte.« Ich durchwühle den Spind nach meinem Spanischbuch.

»Schon wieder?« Noah seufzt. Er zieht sein Handy aus der Tasche und tippt darauf herum. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck dreht er das Display zu mir und zeigt mir eine Fitness-Website. »Das solltest du mal deinem Vater zeigen.«

»Drillmeister«, hustet Meaghan in ihre Faust.

Noah lächelt zustimmend, bevor er fortfährt. »Zehn Warnzeichen für ein Übertraining. Anhaltende Muskelschmerzen stehen ganz oben auf der Liste.« Noah wirft einen vielsagenden Blick auf meine schmerzende Hüfte.

Hinter ihm sehe ich Charlie Simmons auf dem Schulflur. Er läuft auf uns zu, das Spanischbuch unter den Arm geklemmt. Unsere Blicke treffen sich. Wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein, aber ich hab das Gefühl, als würde Charlie seinen Kurs um ein paar Grad in meine Richtung korrigieren. Beschwören kann ich’s nicht, weil ich die Gelegenheit nutze, herumzuwirbeln und in den Spiegel meiner Spindtür zu schauen, vorgeblich um mir durch die Haare zu wuscheln, bis ich sein Spiegelbild hinter mir weggehen sehe.

Sein hochgewachsenes, wunderschönes Spiegelbild.

Als ich sicher bin, dass ich mich wieder umdrehen kann, studiert Noah noch immer stirnrunzelnd die Liste. »Nummer fünf ist interessant. Wie steht es mit deiner Periode?«

»Das geht dich nichts an.« Ich knalle die Spindtür zu.

Als hätte ich ihm gerade das entscheidende Stichwort geliefert, reckt Noah den Finger in die Luft. »Reizbarkeit. Nummer sieben.« Er lässt das Handy wieder in der Hosentasche verschwinden.

Mrs. Marino steckt den Kopf aus einem der Klassenzimmer und wirft uns Nachzüglern finstere Blicke zu. »Was soll das...

Erscheint lt. Verlag 15.10.2018
Übersetzer Isabel Abedi
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Now Is Everything
Themenwelt Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte ab 14 • Buxtehuder Bulle • eBooks • Flugzeugabsturz • Gewalt gegen Kinder • Große Liebe • Häusliche Gewalt • Jay Asher • Jenny Downham • Jugendbuch • Jugendbücher • Kinderkrimi • New York • Pubertät • Schwestern • Selbstmordversuch • Thriller • Tote Mädchen lügen nicht • Young Adult
ISBN-10 3-641-19720-1 / 3641197201
ISBN-13 978-3-641-19720-9 / 9783641197209
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