Das dunkle Herz des Waldes (eBook)

Das bildgewaltige Fantasy-Highlight jetzt im Taschenbuch

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2016
576 Seiten
cbj (Verlag)
978-3-641-17140-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das dunkle Herz des Waldes - Naomi Novik
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Agnieszka liebt das Tal, in dem sie lebt: das beschauliche Dorf und den silbern glänzenden Fluss. Doch jenseits des Flusses liegt der Dunkle Wald, ein Hort böser Macht, der seine Schatten auf das Dorf wirft. Einzig der »Drache«, ein Zauberer, kann diese Macht unter Kontrolle halten. Allerdings fordert er einen hohen Preis für seine Hilfe: Alle zehn Jahre wird ein junges Mädchen ausgewählt, das ihm bis zur nächsten Wahl dienen muss - ein Schicksal, das beinahe so schrecklich scheint wie dem bösen Wald zum Opfer zu fallen. Der Zeitpunkt der Wahl naht und alle wissen, wen der Drache aussuchen wird: Agnieszkas beste Freundin Kasia, die schön ist, anmutig, tapfer - alles, was Agnieszka nicht ist. Niemand kann ihre Freundin retten. Doch die Angst um Kasia ist unbegründet. Denn als der Drache kommt, wählt er nicht Kasia, sondern Agnieszka.

New-York-Times-Bestsellerautorin Naomi Novik ist in New York geboren und mit polnischen Märchen und den Büchern von J.R.R. Tolkien aufgewachsen. Mit ihrem Debüt, der Fantasyreihe »Die Feuerreiter seiner Majestät«, wurde sie weltbekannt. Inzwischen hat sie zahlreiche Preise erhalten, darunter 2016 den Nebula Award für »Das dunkle Herz des Waldes« und 2019 den Locus Award für »Das kalte Reich des Silbers«. Naomi Novik lebt mit ihrer Familie und sechs Computern in New York.

Kapitel 1

Es stimmt nicht, dass der Drache die Mädchen, die er sich holt, verspeist. Ganz gleich, was für Geschichten man außerhalb unseres Tales erzählen mag. Manchmal hören wir diese Gerüchte von Reisenden, die in unser Dorf kommen. Bei ihnen klingt es, als würden wir ihm Menschenopfer darbringen – und als ob er tatsächlich ein Drache wäre. Natürlich stimmt das nicht. Er mag ein Magier und unsterblich sein, aber er ist und bleibt ein Mann. Abgesehen davon würden sich unsere Väter zusammentun und ihn töten, wenn er alle zehn Jahre eine von uns verschlingen würde. Er verteidigt uns gegen den Dunklen Wald und wir sind ihm dankbar dafür – aber so dankbar nun auch wieder nicht.

Er verschlingt seinen Tribut nicht wortwörtlich. Es kommt einem lediglich so vor, weil er das ausgewählte Mädchen in seinen Turm bringt, und dann, zehn Jahre später, wieder frei lässt. Doch bis dahin ist es längst ein anderes geworden, trägt viel zu kostbare Kleider und spricht wie eine Edelfrau. Nachdem sie zehn Jahre lang mit einem Mann zusammengelebt hat, ist ihr Ruf natürlich für alle Zeit ruiniert, obwohl alle weggeholten Mädchen beschwören, er sei nie zudringlich geworden. Was sollen sie auch sonst sagen? Aber das ist noch nicht einmal das Schlimmste – immerhin stattet der Drache sie mit einer Börse voller Silbermünzen als Brautgabe aus, wenn er sie gehen lässt. Schon allein deshalb würde sie jeder mit Kusshand nehmen und ungeachtet ihres Rufes heiraten. Doch sie weigern sich, einen der Unsrigen zum Ehemann zu nehmen. Sie wollen nicht mehr bei uns bleiben.

»Sie verlernen es, sich hier zu Hause zu fühlen«, sagte mein Vater einmal völlig unerwartet zu mir. Ich saß neben ihm auf dem Kutschbock unseres großen, leeren Wagens, als wir heimfuhren, nachdem wir das Feuerholz für die Woche ausgeliefert hatten. Wir lebten in Dvernik, das weder das größte noch das kleinste Dorf im Tal war und sich auch nicht am nächsten am Rande des Dunklen Waldes befand; rund sieben Meilen trennten unser Dorf von ihm. Die Straße führte uns allerdings über einen mächtigen Hügel und an einem klaren Tag konnte man den ganzen Weg des Flusses vom Gipfel aus verfolgen. Er schlängelte bis zu dem hellgrauen Streifen verbrannter Erde unmittelbar vor der Grenze zum Dunklen Wald, der wie eine dichte dunkle Wand von Bäumen dahinter aufragte. Der Drachenturm lag weit entfernt in der entgegengesetzten Richtung: ein weißer Kreideklotz am Fuße des westlichen Gebirges.

Ich war damals noch sehr jung – nicht älter als fünf, glaube ich. Doch ich wusste bereits, dass über den Drachen nicht gesprochen wurde und auch nicht über die Mädchen, die er sich holte. Vielleicht brannte es sich mir deshalb so fest ins Gedächtnis, als mein Vater diese Regel brach.

»Aber sie wissen, wie man sich fürchtet«, fuhr mein Vater fort. Das war alles. Dann machte er ein schnalzendes Geräusch, und die Pferde zogen wieder an, den Hügel hinunter, bis wir zwischen Bäumen verschwanden.

Zu jener Zeit ergaben seine Worte nicht viel Sinn für mich. Wir alle fürchteten uns vor dem Dunklen Wald. Aber das Tal war unser Zuhause. Wie konnte man das verlassen wollen? Und doch kamen jene Mädchen niemals zurück, um wieder daheim zu leben. Wenn der Drache sie aus dem Turm gelassen hatte, kehrten sie für kurze Zeit zu ihren Familien zurück – für eine Woche, manchmal auch für einen Monat, aber niemals für viel länger. Dann nahmen sie das Drachensilber und gingen fort. Die meisten von ihnen zogen nach Kralia und besuchten dort die Universität. Fast immer heirateten sie irgendeinen Mann aus der Stadt. Wenn nicht, dann wurden sie Gelehrte oder betrieben ein Ladengeschäft. Aber man erzählte sich auch hinter vorgehaltener Hand von Jadwiga Bach, die vor sechzig Jahren vom Drachen geholt worden war und danach die Kurtisane und Geliebte eines Barons und eines Herzogs wurde. Zu der Zeit, als ich geboren wurde, war sie nur noch eine reiche alte Dame, die ihren Großnichten und -neffen herrliche Geschenke zukommen ließ, aber niemals zu Besuch kam.

Nun ist es zwar keineswegs so, dass man dem Drachen seine Tochter übergibt, damit er sie verspeisen kann, aber es ist trotzdem alles andere als eine erfreuliche Sache. Es gibt nicht so viele Dörfer in unserem Tal, dass die Chancen, von ihm auserwählt zu werden, besonders gering wären. Wenn zehn Jahre verstrichen sind, nimmt er sich immer ein Mädchen von siebzehn Jahren, das zwischen dem betreffenden Oktober des einen und dem des nächsten Jahres geboren wurde. In meinem Jahrgang gab es elf Mädchen, die zur Auswahl standen, und die Gefahr, dass es eine Bestimmte treffen würde, war größer, als würde man zwei Würfel werfen.

Alle sagen, dass man ein Mädchen, das für den Drachen infrage kommt, anders liebt, wenn es älter wird. Dagegen könne man gar nichts tun, denn schließlich wisse man immer, wie leicht man es verlieren könnte. Aber bei mir und meinen Eltern war es nicht so. Als ich alt genug war, um zu begreifen, dass ich geholt werden könnte, wussten wir alle längst, dass er sich Kasia holen würde. Nur durchziehende Reisende, die ahnungslos waren, lobten Kasias Eltern gegenüber, wie wunderschön ihre Tochter sei oder wie klug oder wie freundlich. Dabei beanspruchte der Drache gar nicht immer das hübscheste Mädchen. Aber er suchte sich stets eine junge Frau aus, die in irgendeiner Hinsicht aus der Menge hervorstach. Wenn es ein Mädchen gab, das weit und breit das schönste war oder das klügste oder die beste Tänzerin oder am liebreizendsten, dann entschied er sich für sie, obwohl er kaum je ein Wort mit ihnen wechselte, ehe er seine Wahl traf.

Kasia war all das in einer Person. Sie hatte dichtes Haar in der Farbe goldenen Weizens, das sie zu einem Zopf flocht, der ihr bis auf die Hüfte hing. Ihre Augen waren von einem warmen Braun und ihr Lachen klang wie ein Lied, bei dem man einstimmen wollte. Ihr fielen immer die besten Spiele ein und sie ersann immerzu Geschichten und neue Tänze. Sie konnte für ein ganzes Festgelage kochen und wenn sie die Wolle der Schafe ihres Vaters spann, kam der Faden glatt und gleichmäßig vom Rad ohne einen einzigen Knoten.

Ich weiß, wenn ich von ihr spreche, hört es sich so an, als wäre sie aus einer Geschichte entsprungen, aber es war andersherum. Wenn mir meine Mutter die Märchen von der spinnenden Prinzessin oder dem mutigen Gänsemädchen oder den Flussjungfrauen erzählte, stellte ich mir diese Mädchen allesamt ein bisschen so wie Kasia vor. Da ich noch nicht alt genug war, um weise zu sein, liebte ich sie umso mehr, und nicht etwa weniger, weil ich wusste, dass sie mir schon bald genommen werden würde.

Kasia selbst sagte, es kümmere sie nicht. Sie war nämlich auch furchtlos. Dafür sorgte ihre Mutter Wensa. Ich erinnere mich daran, wie ich sie einmal zu meiner Mutter sagen hörte: »Sie wird tapfer sein müssen«, während sie Kasia drängte, noch weiter an einem Baum hinaufzuklettern, an dem sie kopfüber baumelte. Meiner Mutter stiegen bei dieser Bemerkung die Tränen in die Augen, und sie umarmte Wensa.

Wir lebten nur drei Häuser voneinander entfernt. Ich selbst hatte keine eigene Schwester, nur drei Brüder, die viel älter waren als ich. Kasia war meine beste Freundin. Von der Wiege an spielten wir miteinander. Zunächst kabbelten wir unseren Müttern zwischen den Beinen herum, später dann vertrieben wir uns auf der Straße vor unseren Elternhäusern die Zeit, bis wir alt genug waren, allein im Wald herumzutollen. Ich wollte nie drinnen herumsitzen, wenn wir stattdessen auch Hand in Hand unter Ästen hindurchrennen konnten. Ich stellte mir immer vor, dass die Bäume ihre Arme zu uns hinunterbogen, um uns Schutz zu geben. Ich wusste nicht, wie ich es ertragen sollte, wenn der Drache meine Freundin holen würde.

Meine Eltern hätten sich auch dann keine allzu großen Sorgen um mich gemacht, wenn es Kasia nicht gegeben hätte. Mit siebzehn war ich immer noch ein viel zu dürrer Wildfang mit großen Füßen und zerzaustem, schmutzig braunem Haar. Meine einzige Gabe, wenn man es denn so nennen konnte, bestand darin, dass ich innerhalb eines einzigen Tages alles, was ich anzog, zerriss, verlor oder schmutzig machte. Als ich zwölf Jahre alt war, war meine Mutter so verzweifelt, dass sie aufgab und mich in der abgelegten Kleidung meiner Brüder herumlaufen ließ. Die einzige Ausnahme bildeten die Festtage, an denen ich mich erst zwanzig Minuten, bevor wir aufbrachen, umziehen durfte. An diesen Tagen musste ich dann auf der Bank vor unserem Haus sitzen, bis wir zur Kirche gingen. Trotzdem gab es keine Garantie, dass ich auf dem Weg zum Festplatz nicht doch an einer Ranke hängen blieb oder mich mit Schlamm vollspritzte.

»Du musst einen Schneider heiraten, meine kleine Agnieszka«, pflegte mein Vater lachend zu sagen, wenn er abends aus dem Wald zurückkam und ich mit schmuddeligem Gesicht auf ihn zustürmte. Immer hatte ich mindestens ein Loch in irgendeinem Kleidungsstück und dafür nie ein Taschentuch. Natürlich hob er mich trotzdem hoch in die Luft und küsste mich; meine Mutter seufzte, aber nur ein bisschen: Welche Eltern würden sich schon ernsthaft darüber beklagen, wenn sie bei ihrer möglicherweise für den Drachen bestimmten Tochter ein paar Unzulänglichkeiten feststellten?

Unser letzter Sommer, bevor der Drache kam, war lang und warm und tränenreich. Es war nicht Kasia, die weinte, sondern ich. Bis spät in die Nacht hinein blieben wir im Wald und versuchten, jeden einzelnen goldenen Tag so lange wie möglich auszukosten. Ich kam spät nach Hause, müde und hungrig, und verkroch mich sofort in die Dunkelheit meines Bettes. Meine Mutter kam immer noch einmal zu mir, streichelte...

Erscheint lt. Verlag 21.11.2016
Übersetzer Marianne Schmidt
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Uprooted
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte ab 12 • ab 14 • Baba Jaga • Baba Yaga • Coming of Age • eBooks • Fantasy • High Fantasy • Hugo Award • Jugendbuch • Jugendbücher • Liebe • Locus Award • Mädchen • Nebula Award • New York Times Bestseller Autorin • New York Times Bestseller-Autorin • nominiert für hugo award • nominiert hugo award • Spiegel Bestseller Autorin • starke Heldin • World Fantasy Award • Young Adult • Zauberer
ISBN-10 3-641-17140-7 / 3641171407
ISBN-13 978-3-641-17140-7 / 9783641171407
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