Die Kings und Queens der coolen Clique sind zwar wenig begeistert, als Lana statt ihres siebten Mitglieds bei ihrem Treffen auftaucht. Aber dann überschlagen sich die Ereignisse. Der Trip führt die Clique in eine alte abgelegene Mühle, umgeben von Wildnis. Alles hier scheint für sie vorbereitet zu sein. Nur wer hat eigentlich die Einladungen verschickt? Wer begrüßt sie mit schriftlichen Botschaften, hat seltsame Spiele für sie organisiert? Als der erste der Freunde verschwindet, bricht Panik in der Gruppe aus ...
Elisabeth Herrmann wurde 1959 in Marburg/Lahn geboren. Nach ihrem Studium als Fernsehjournalistin arbeitete sie beim RBB, bevor sie mit ihrem Roman »Das Kindermädchen« ihren Durchbruch erlebte. Fast alle ihre Bücher wurden oder werden derzeit verfilmt: Die Reihe um den Berliner Anwalt Joachim Vernau sehr erfolgreich vom ZDF mit Jan Josef Liefers. Elisabeth Herrmann erhielt den Radio-Bremen-Krimipreis, den Deutschen Krimipreis und den Glauser für den besten Jugendkrimi 2022. Sie lebt mit ihrer Tochter in Berlin und im Spreewald.
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Ich hatte Johnny bis zu dem Tag, an dem er mir vor die Füße fiel, nur ein paar Mal aus der Ferne gesehen.
Eigentlich hieß er Johannes Paul Maximilian von Curtius, ein Name, mit dem man vielleicht jenseits der Dreißig ein erstauntes Heben der Augenbrauen ernten kann, aber nicht, wenn man kurz vor dem Abi steht und zur coolsten Clique der ganzen Schule gehört. Wie er sich selbst nannte, habe ich nie erfahren. Die anderen riefen ihn Johnny. Viel mehr wusste ich nicht von ihm und seinen Freunden, die alle so etwas wie ein geheimnisvolles dunkles Leuchten umgab. Keiner kam an sie ran, und ich hatte in der kurzen Zeit, in der wir dasselbe ehrwürdige Schulportal durchschritten, tatsächlich andere Sorgen.
Vielleicht ist es an dieser Stelle ganz gut, wenn ihr wisst, mit wem ihr es zu tun habt. Ich heiße Lana und ich dachte bis zu diesem Moment, in dem Johnny vor mir auf dem Kopfsteinpflaster lag, dass es mein einziger Wunsch wäre, so normal wie die anderen zu sein. Später sollte sich das relativieren. Da wollte ich eigentlich nur noch am Leben bleiben, aber der Reihe nach.
Ich habe in meinen kaum zwanzig Jahren öfter die Schule gewechselt als andere ihre Zahnbürste. Mein Vater arbeitete für ein großes Energieunternehmen, und erst als es so richtig krachte mit Russland und den Pipelines, war auch für mich endlich Schluss mit dem ganzen Zirkus. Internationale Schulen, das möchte ich hier mal allen sagen, die damit angeben wie eine Tüte Mücken, sind sch… schwierig. Kaum lernst du neue Freunde kennen, verschwinden sie auch schon wieder. Kaum hast du dir die Namen deines Sitznachbarn gemerkt, heißt es beim Abendessen: In drei Wochen geht es nach Moskau, Houston oder Kapstadt. Klingt irre. Ist es auch. Was ich gelernt habe in dieser Zeit, ist, sein Herz nicht an große Kuscheltiere und Menschen zu verschenken. Beide passen nicht in Koffer.
Dann kam irgendetwas mit Finanzkrise, mein Dad verlor den Job, und wir zogen zurück nach Hause. Oder wie man diese Kleinstadt irgendwo zwischen Oberhessischer Tiefebene und Sauerland nennen soll. In L. sprachen die Menschen nicht deutsch, sondern einen Dialekt, den ich zunächst für eine Fremdsprache hielt. Wenn man fünfmal nachfragte und an jemanden mit Geduld geriet, erfuhr man, dass »Schtuhl de raa hiho«« übersetzt bedeutete: »Stell dein Fahrrad bitte woanders hin«, oder so ähnlich. Ich bekam mit siebzehn ein Auto. »Schtuhl de aa hiho« konnte ich dann schon selbstständig zu einem sinnergebenden Satz ergänzen.
Ich war die Einzige aus meinem Jahrgang mit einem eigenen Auto, also ließ ich es zu Hause stehen. Richtig viel half das auch nicht. Ich kam mit den Leuten nicht zurecht. Vielleicht lag es daran, dass mir das Abschiednehmen leichter fällt als das Ankommen. Dass ich nie echte Freunde hatte. Dass die meisten schüchternen Leute als arrogant wahrgenommen werden … Ich weiß es nicht. Das Auto war nach sechs Monaten sowieso weg, weil mein Dad die Leasingraten nicht mehr bezahlen konnte. Er setzte sich immer öfter Richtung Frankfurt ab und eines Tages war er völlig von der Bildfläche verschwunden. Für meine Mutter tat es mir leid. Sie hat ziemlich darunter gelitten. Der Klatsch in der Kleinstadt, das falsche Mitleid der Leute, die sie noch von früher kannte … Und vielleicht fehlte ihr Dad auch tatsächlich. Sie hat nicht darüber gesprochen und ich habe nicht gefragt. Er war früher nie dagewesen und jetzt war er auch nicht da. So groß war der Unterschied für mich nicht.
Um die Sache abzukürzen: Ich kämpfte mich durch bis zum Abi, um danach den ersten besten Studienplatz zu ergattern und abzuhauen. Einfach dahin, wohin das Schicksal mich trug.
Es war ausgerechnet Berlin.
Irgendwann nach diesen Erstsemesterwochen, in denen du nicht mehr weißt, wie du heißt (»Lana.« – »Aber hier steht Helena, Helena Thalmann.« – »Ich weiß, was da steht. Aber ich heiße Lana.«), wenn du deine Tasche im Studentenwohnheim ausgepackt hast und dir deine vier kahlen Wände schöner vorkommen als jeder Palast, wenn du dich auf dem Weg von der Cafeteria zum Hörsaal nicht mehr verläufst und sich aus der Masse langsam das eine oder andere bekannte Gesicht herausgeschält hat, irgendwann, wenn du begreifst, dass du Teil dieses riesigen Ameisenhaufens bist und du dich nicht verloren, sondern in der Anonymität der Masse aufgehoben fühlst, darin verschmilzt … Mittendrin in diesem Hochgefühl des Anfangs kommt der Moment, in dem du wieder bist, was du bist: ein Nichts.
Johnny ging an mir vorbei.
Ich wollte noch so etwas Geistreiches wie »Hallo! Du bist auch hier?« sagen, da sah ich ihn nur noch von hinten. Eine hohe, düstere Gestalt, umgeben von der Aura des Unantastbaren, der die Leute im Gang auswichen. Er trug einen bodenlangen schwarzen Mantel und die Haare fast bis auf die Schulter, und er sah aus wie ein Vampir aus verarmten rumänischen Adelskreisen. Er hatte mich nicht erkannt. Blödsinn. Er hatte mich noch nicht einmal wahrgenommen.
Wir begegneten uns noch ein paar Mal. Eines Mittags setzte ich mich in der Mensa an seinen Tisch, weil um ihn herum die einzigen freien Stühle waren. Er sah gar nicht hoch, hing an seinem Smartphone, aß gedankenverloren ab und zu eine Gabel Kartoffelbrei, die er in der Linken hielt und die er selbst bei einer so banalen Tätigkeit – man stelle sich vor! Kartoffelbrei essen! – bewegte wie ein ermatteter Dirigent seinen Stab nach der dritten Zugabe. Also alles in allem eine ebenso elegante wie erschöpfte Erscheinung. Ich wollte gerade den nächsten großartigen Satz aus meinem internationalen Repertoire anbringen, »Long time no see«, als er wortlos aufstand und ging. Das Tablett ließ er stehen.
So viel zu Johnny.
Ich weiß noch, wie ich ihm nachsah, als er mit seinem wehenden schwarzen Mantel die Mensa verließ. Fast alle Frauen sahen ihm hinterher. Und auch eine Menge Männer, die wissen wollten, warum die Frauen sich auf einmal die Hälse verrenkten. Johnny schien das alles nicht zu bemerken. Er war wie von einem anderen Stern. Noch lange nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war, sah ich ihn vor mir in L. mit den anderen. Keine grandiose Erinnerung, ehrlich gesagt. Es musste kurz nach meiner Aufnahme dort gewesen sein, denn ich wusste noch nicht, dass diese Clique so etwas wie Außerirdische waren. Johnny ging mit ihnen über den Hof zu den Tannen, unter denen ein paar Bänke standen. Jemand sagte etwas und er lachte. Dieses Lachen war wie das Aufreißen des Himmels nach wochenlangem schwerem Regen. Es ließ die Sonne durch. In seinem Gesicht stand noch nichts von der Düsternis, die ihn ein paar Jahre später in Berlin umwölken sollte. Dunkle schmale Augen, in denen Klugheit und Witz blitzten (dachte ich, allerdings nur bis zu dem Moment, in dem er den Mund aufmachte …), hohe Wangenknochen, ein fein gezeichneter Mund. Schon damals wirkte er wie aus einem russischen Roman entstiegen: geheimnisvoll, mit einer freundlichen Aufmerksamkeit, die einen trotzdem auf Abstand hielt. Ich stand da und sah ihn an, ihm fiel es auf, ich wurde rot, die anderen drehten sich zu mir um, und er sagte: »Dein Schnürsenkel ist auf.«
Das waren die einzigen Worte, die er je an mich gerichtet hatte. Bis zu diesem Moment, in dem er vor mir am Fuß der Treppe lag, die er gerade hinuntergestürzt war.
»Verdammte Scheiße!«, fluchte er.
Wahrscheinlich war er über seinen Mantel gestolpert. Mir wäre das in seinen Klamotten ein Dutzend Mal am Tag passiert. Seine Aktentasche war aufgegangen. Bücher, Stifte, Zettel und ein Schlüsselbund lagen malerisch drapiert auf den Pflastersteinen. Ich ließ meine Tasche fallen und wollte ihm die Hand reichen, um ihn hochzuziehen, aber er stöhnte auf und betrachtete mit schmerzverzerrtem Gesicht sein Bein.
»F***!«
»Kann ich irgendwie helfen?«
Er war blass. Seine dunklen Augen lagen tief in den Höhlen, und ich erschrak, als ich ihn aus der Nähe sah. Der Paradiesvogel hatte ziemlich Federn gelassen, seit er aus dem Nest gefallen war. Er schien mir dünner und irgendwie durchsichtig, trotzdem sah er atemberaubend gut aus.
Ein paar andere Studenten, fast alles junge Mädchen in meinem Alter, blieben erschrocken stehen. Die meisten mussten den Sturz mitbekommen haben, ich nicht. Ich hatte wie immer mit der Nase im Vorlesungsverzeichnis gesteckt, um noch einen der begehrten Forschungssemesterplätze für Pupillenreaktion oder Zeitbezüge im menschlichen Gedächtnis zu ergattern. Ach so: Ich studiere kognitive Psychologie. Niemand hatte mir bis zu diesem Moment erklären können, wie Menschen ticken. Aber naiv, wie ich war, redete ich mir ein, vielleicht an der Uni die Antwort finden zu können.
Johnny röchelte. Er verdrehte die Augen. Sein Kopf fiel nach hinten und dann zur Seite.
»Ist er ohnmächtig?«, fragte eines der Mädchen und fiel vor ihm auf die Knie. Das würde ihm gefallen, wenn er es mitbekommen würde, dachte ich.
Die anderen drängten sich wild spekulierend um sie herum, ich rief den Notarzt.
Er war erstaunlich schnell da. Mittlerweile hatten sich ein paar Dutzend Schaulustige versammelt und Johnny war noch nicht wieder bei Bewusstsein. Ich begann, mir gelinde Sorgen zu machen. Er wurde auf eine Trage verfrachtet, die Mädchen, die sich mittlerweile aufführten, als hätten sie einen jungen Hund aus dem Tierheim adoptiert, trugen ihm alles...
Erscheint lt. Verlag | 29.8.2016 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre | |
Schlagworte | ab 14 • All Age • Berlin • Clique • eBooks • Gefangen • Grandhotel Pupp • Jugendbuch • Jugendbücher • Karlsbad • Kinderkrimi • Krabat • Psychospiel • Psychothriller • Rache • Schuld • Schüler • Spannung • Thriller • Tschechien • Young Adult |
ISBN-10 | 3-641-17297-7 / 3641172977 |
ISBN-13 | 978-3-641-17297-8 / 9783641172978 |
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