Die schwarzen Brüder (eBook)

Erlebnisse und Abenteuer eines kleinen Tessiners | Der Kinderbuchklassiker in neuer Ausgabe ab 10 Jahren

(Autor)

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2013 | 1. Auflage
496 Seiten
Fischer Sauerländer Verlag
978-3-7336-0020-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die schwarzen Brüder -  Lisa Tetzner
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Aus Not verkauften bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts arme Tessiner Bergbauern oft ihre Kinder als Kaminfeger nach Mailand. Dort mussten sie durch die finsteren Kamine klettern und mit den nackten Händen den Ruß herabwerfen. In ihrem Bund der «Schwarzen Brüder» hielten sie zusammen, wehrten sich gegen ihr Elend und verstrickten sich in Kämpfe mit den Mailänder Straßenjungen. Die packenden Abenteuer der Kaminfegerbuben werden hier anhand der wahren Geschichte des kleinen Giorgio erzählt. Der im Kriegsjahr 1941 erschienene Jugendroman wurde eigentlich von Lisa Tetzners Mann, Kurt Held, geschrieben. Als politischer Flüchtling hatte er im Schweizer Exil Publikationsverbot. Deshalb ließ der spätere Autor der «Roten Zora» den Roman unter dem Namen seiner Frau verlegen. Lisa Tetzner hatte durch alte Chroniken von den Kaminfegerjungen erfahren und das Buch begonnen, aber nicht zu Ende geführt. Kurt Held vollendete den Roman, der Weltruhm erlangte und sogar verfilmt wurde.

Lisa Tetzner, geboren 1894 in Zittau, war Märchenerzählerin, Kinderfunkleiterin und Autorin von sozial engagierten Romanen, die Jugendliche bis heute fesseln. Ihre Bücher über ?Die Kinder aus Nr. 67? und ?Hans Urian? waren und sind große Erfolge. 1933 folgte sie ihrem Mann Kurt Kläber alias Kurt Held in das Schweizer Exil. Sie starb 1963 in Carona (Kt.Tessin).

Lisa Tetzner, geboren 1894 in Zittau, war Märchenerzählerin, Kinderfunkleiterin und Autorin von sozial engagierten Romanen, die Jugendliche bis heute fesseln. Ihre Bücher über ›Die Kinder aus Nr. 67‹ und ›Hans Urian‹ waren und sind große Erfolge. 1933 folgte sie ihrem Mann Kurt Kläber alias Kurt Held in das Schweizer Exil. Sie starb 1963 in Carona (Kt.Tessin).

1 Wir lernen Giorgio und seine Tessiner Bergheimat kennen, aber sofort auch den Mann mit der Narbe und seine böse Prophezeiung


An einem Morgen im Spätsommer des Jahres 1838 kam ein Mann das Verzascatal herunter. Er war mittelgroß, von breiter, stämmiger Gestalt, und sein Gesicht flößte einen leisen Schrecken ein, besonders wenn man den Mann abseits der allgemeinen Fahrstraße traf.

Das Gesicht war nicht ausgesprochen bösartig. Der Mann hatte zwei dunkle Augen, wie fast alle hierzulande, eine große Nase, die kühn aus dem schmalen, gelben Gesicht heraussprang, darunter einen Schnauzbart, der auf beiden Seiten nach unten hing, und einen breiten, unschönen Mund, von dem man aber nur die roten Lippen sah, denn das andere wurde von einem buschigen Vollbart überdeckt.

Das Gefährliche und zugleich Abstoßende lag in der Narbe, die von der Stirn über die rechte Wange bis zu dem Kinn lief und das eine Auge beinahe streifte, weshalb man den frühen Wanderer auch den Mann mit der Narbe nannte.

Er kam von Prato im Maggiatal und wollte nach Sonogno. Er ging ziemlich eilig und hatte kaum einen Blick für die hohen, felsigen Hänge, auf denen das erste Frührot wie eine zarte Decke lag. Er sah auch nicht die brausenden Wasser der Verzasca, die kleinen, schnellen Forellen, die von Tümpel zu Tümpel sprangen. Er blickte nur immer vor sich hin und war wütend darüber, dass dieses Sonogno nicht auftauchen wollte. Endlich sah er die ersten Häuser. Sie lagen wie riesige Felsblöcke vor ihm. Unbehauen und ungeschlacht lehnten sie sich an die steilen Hänge, die beinahe senkrecht in die Schlucht fielen. Wenn man die Bewohner besuchen wollte, musste man von einem Haus ins andere steigen, so steil und eng standen sie übereinander.

Der Mann hemmte seinen Schritt. Nun, da er wusste, dass er dem Dorf nahe war, konnte das Geschäft, um dessentwillen er nach Sonogno kam, bis zum Abend warten, und er schlug einen Seitenweg ein. An einer Grasbank setzte er sich, zog ein Stück Brot, ein Stück Käse und eine Flasche Wein aus der Tasche und aß.

Im Dorf war es noch still. Vereinzelt krähte ein Hahn. Trotzdem waren bereits viele Leute wach, und auch der kleine Giorgio, von dem wir in diesem Buche erzählen wollen und um dessentwillen der Mann mit der Narbe den weiten Weg von Prato nach Sonogno gemacht hatte, lag schon mit offenen Augen auf seinem Strohsack.

Vor ungefähr einer halben Stunde war die Großmutter aufgestanden, die mit in seiner Kammer schlief. Dabei erwachte Giorgio jeden Morgen. Die alte Frau schlüpfte in ihren Rock, dann ging sie – ihre hohe hagere Gestalt reckte sich wie ein dürrer Baum in die Höhe –, eine Weile vor sich hin sprechend, auf und ab, bis sie auf einmal über die Stiege nach unten polterte. Giorgio hatte sich nicht gerührt, obwohl er bereits ganz munter war. Diese Zeit am Morgen, wo er allein in seiner Kammer lag, war beinahe die schönste Stunde des langen Tages, und er genoss sie Minute um Minute.

Es schlug fünf von der nahen Kirche. Er zählte jeden Schlag. Die erste Viertelstunde war vorbei. Unterdessen war die Sonne über dem Monte Zucchero hervorgekommen. Langsam, wie ein glühender Ball, schob sie sich über den hohen Berg, und nun schien es, als wollte sie den Abhang hinunterrollen.

Als Giorgio das zum ersten Mal gesehen hatte, war er schreiend aufgesprungen: »Nonna, die Sonne fällt ins Tal!« Die Nonna hatte ihn getröstet und ihn einen Dummkopf genannt, und als er wieder aufsah, war sie tatsächlich schon eine Handbreit über die Bergkuppe gestiegen und dachte gar nicht daran, ins Tal herabzufallen.

Seitdem wartete Giorgio jeden Morgen mit mehr oder weniger Neugier auf diesen Augenblick. Er hatte heute keine Angst mehr. Er würde die Sonne ja auch nicht aufhalten können, aber er sah immer wieder mit einer gewissen Freude, wie sich der Himmel über dem Monte Zucchero rötete, dann brannte, und wie die Sonne auf einmal von der glühenden Bergkuppe in den Himmel sprang.

Nun stieg sie jede Minute höher. Er konnte das, ohne sich umzudrehen, an der grauen Wand verfolgen. Zuerst erreichte sie den Gekreuzigten, dann fielen ihre Strahlen auf das kleine Muttergottesbild, nun beleuchteten sie den Kopf, den Hals, die Brust der Maria, und jetzt hatte sie das kleine Bild schon hinter sich gelassen und kroch noch tiefer die Wand hinunter. Giorgio lauschte, während er das beobachtete, auf alle Geräusche im Haus. Die Nonna hatte bei ihrem Gang nach unten an die Schlafkammer der Eltern geklopft. Die Mutter stand auf. Ein paar Augenblicke später hörte er auch die laute, helle Stimme seines Vaters. Jetzt zog er sich wohl an und ging in den Stall, und nun kam die Mutter herauf und pochte an die Tür. »Aufstehen!«, rief sie.

Giorgio schloss die Augen und tat, als schliefe er noch.

»Aufstehen!« Die Mutter rief und pochte lauter.

Giorgio glaubte jetzt wirklich, fest zu schlafen. Die Mutter stand schon im Zimmer. Er wusste es, aber es war so schön, die paar Minuten vom ersten Klopfen der Mutter bis zu diesem Augenblick noch das Gefühl zu haben, man schliefe. Nun fasste sie ihn am Kopf, schüttelte ihn hin und her und sagte nochmals: »Aufstehen! Aufstehen! Es wird gleich halb schlagen, und du musst das Ave läuten!«

Er öffnete die Augen und blinzelte die Mutter an. Die Mutter stand unmittelbar am Bett. Es war eine fünfunddreißigjährige Frau. Sie sah aber schon recht alt und vergrämt aus. Die schwarzen Haare durchzogen weiße Strähnen, die Wangen waren eingefallen und blass und die Augen lagen tief in ihren großen Höhlen.

»Ich komm schon.« Giorgio versuchte, sich noch einmal auf die andere Seite zu drehen. Aber auch das war nur ein Manöver, um die paar Minuten bis zum Aufstehen zu strecken; denn schon hatte die Mutter die leichte Decke von ihm genommen, und er lag nun, nur mit seinem Hemd bekleidet, auf dem dicken, harten Laubsack.

Mit einem Sprung stand er neben der Mutter. Er reichte ihr bis an die Schulter, versuchte, die Arme um sie zu schlingen und lachte sie mit seinen hellen, gelben Augen an. Aber die Mutter hatte sich bereits wieder umgedreht und ging nach der Tür.

Giorgio fuhr mit seinen dünnen, sehnigen Beinen in die kurzen Hosen und band sie mit einem Strick über den Hüften zusammen. Der Vater holte das Vieh aus dem Stall. Bianca, die alte Kuh, muhte leise, er hörte das klägliche Meckern der kleinen Ziege, die er nach seiner Freundin Anita benannt hatte. Die Stalltür fiel krachend zu. Der Vater trieb das Vieh auf die Weide.

Der Knabe strich sich mit seinen Händen über das struppige bräunliche Haar, auch über das feste, bubenhafte Gesicht, und schon war er fertig und polterte die steinernen Treppen hinunter, der Mutter nach.

Das Haus, in dem Giorgio mit seinen Eltern wohnte, stand am Ende des kleinen Dorfes. Es war eines der typischen Steinhäuser, wie sie im ganzen Verzascatal stehen. Sie sind aus rohen, festen Platten gebaut, die ohne Zement nur lose aufeinander geschichtet werden, auch das Dach besteht aus solchen Steinen. Wie eine Treppe liegen sie übereinander, und dort, wo beide Treppen zusammenstoßen, ist ein schmaler, gerader Steg.

Unten war der große Stall. Von ihm führte eine Tür in die Küche, von dieser ging eine geländerlose Steinstiege in den ersten Stock. Rechts lag die Kammer, in der die Eltern schliefen, und links die, in der die Zwillinge ihr Lager hatten. Von dieser Kammer führte wieder eine Treppe in das Dachgeschoss, wo er mit der Großmutter schlief.

Er schoss die beiden Stiegen hinunter, aber er musste noch eine dritte Treppe hinabsteigen, die sich an das untere Haus anlehnte, denn das Haus seiner Eltern stand unmittelbar über einem anderen. Nun kam er in die Gasse.

Bis hierher war die Sonne noch nicht gekommen. Es war kalt, ihn fror, und er setzte sich in Trab. Er musste durch das halbe Dorf. Die Gasse, vielmehr der steinige Weg, der den Ort zerteilte, ging einmal hinauf und hinunter, dann kam er auf den kleinen Platz, wo aus einem alten Brunnen das Wasser rauschte.

Von dem Platz ging er über den Friedhof, und nun war er an der Kirche.

Die Kirche von Sonogno war das Schönste des kleinen Dorfes. Sie hatte einen hohen spitzen Glockenturm, in dem die Glocken wie kleine Äpfel hingen, und ein lang gestrecktes Schiff, das sich auf der einen Seite an das Dorf lehnte, während es auf der anderen Seite viele Meter in die Tiefe ging.

Giorgios Vater war seit Jahren Kirchendiener. Das brachte ein paar Rappen ein, und da der Vater einer der ärmsten Bewohner Sonognos war, konnte er das Geld gut brauchen. Zu seinen Obliegenheiten gehörte es auch, jeden Morgen die Glocken zu läuten. Da er aber um diese Jahreszeit eine halbe Stunde früher mit dem Vieh auf die Weide zog, besorgte das Giorgio.

Der Knabe stieß die schwere Kirchentür auf und trat ein. In der Kirche war es noch kälter als auf der Straße. Ein leichter Räuchergeruch wehte ihm entgegen und heimelte ihn an. Er lief durch das lange Schiff bis zum Altar. Durch die hohen Fenster drang schon ein Sonnenstrahl. Er sah hinauf. Der Strahl malte blaue und grüne Lichter auf die gegenüberliegende Wand. Er bog an dem kleinen Gitter, das das Allerheiligste von der Kirche trennte, nach rechts ab und ging durch die kleine Pforte in den Glockenturm.

Ob der alte Kauz wieder im Fenstersims saß? Den ersten Tag hatte er sich vor dem Tier, das wie ein Mensch auf ihn heruntersah und seinen Kopf so spaßig drehen konnte, gefürchtet. Auch die Fledermäuse waren furchtbare Tiere; aber jetzt war er an sie gewöhnt und ängstigte sich nicht mehr vor ihnen. Der Kauz saß da. Es saß sogar noch eine andere Eule neben ihm; sie war kleiner und hatte lustige, spitze Ohren. Wahrscheinlich war das seine Frau. Giorgio wollte schon lange einmal zu ihnen hinaufsteigen und...

Erscheint lt. Verlag 12.12.2013
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch Kinderbücher bis 11 Jahre
Schlagworte ab 10 • Abenteuer und Reisen • Antonio Luini • Bande • Brüder • Buch zum Film • Giorgio • Graphic Novel • Italien • Kaminfeger • Kinderbuch • Kinderbuchklassiker • Klassiker • Mailand • Roman • SCHWARZEN • Sonogno • Tessin • Verzasca • Wölfe
ISBN-10 3-7336-0020-7 / 3733600207
ISBN-13 978-3-7336-0020-4 / 9783733600204
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