Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt. Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt -  Alois Prinz

Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt. Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt (eBook)

(Autor)

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2013 | 1. Auflage
329 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-74443-2 (ISBN)
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Hannah Arendt (1906-1975) ist die bedeutendste Frau in der Geschichte der Philosophie. Die Gedanken, die sie berühmt machten, gingen unmittelbar aus den Erfahrungen ihres abenteuerlichen und leidenschaftlichen Lebens hervor. »Nach wie vor bin ich überzeugt davon, dass man diese bedeutende und faszinierende Frau nur verstehen kann, wenn man ihre Gedanken eng zusammensieht mit ihrem abenteuerlichen Lebenslauf, ihrer Persönlichkeit, ihrer Beziehung zu Menschen und ihrer Haltung zu den historischen Ereignissen ihrer Zeit.« Alois Prinz, Aus dem Nachwort zur Sonderausgabe

Alois Prinz, geb. 1958, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von München. Bei Beltz & Gelberg veröffentlichte er Biografien über Hannah Arendt (Evangelischer Buchpreis) , Hermann Hesse, Ulrike Meinhof (Deutscher Jugendliteraturpreis), Franz Kafka, Paulus, Rebellische Söhne (Bernward Vesper, Hermann Hesse, Klaus Mann, Franz Kafka, Martin Luther, Franz von Assisi, Michael Ende), Joseph Goebbels und zuletzt über Milena Jesenská. Für sein Gesamtwerk wurde Alois Prinz mit dem Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur 2017 und dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises 2023 ausgezeichnet. »Die Lebensgeschichten, die Alois Prinz schreibt, sind so leidenschaftlich recherchiert, so sorgfältig aufgebaut und gut geschrieben.« Tages-Anzeiger, Zürich

I.  Kindertagebuch
»Man muss an traurige Dinge so wenig wie möglich denken.«


Eine glänzende Zukunft scheint zwei jungen Leuten bevorzustehen, die im Jahr 1902 heiraten. Paul Arendt und Martha Cohn stammen beide aus wohlhabenden jüdischen Familien, die schon seit Generationen in der ostpreußischen Stadt Königsberg ansässig sind. Paul Arendt ist neunundzwanzig und hat an der Königsberger Universität, der Albertina, ein Ingenieurstudium absolviert. Martha Cohn, achtundzwanzig, hat nach der Mädchenschule drei Jahre in Paris verbracht und dort Französisch und Musik studiert. Die Verbindung der beiden jungen Leute scheint ein Glücksfall zu sein. Nicht nur winkt ihnen ein finanziell sorgenfreies Leben, sie haben auch viele gemeinsame Interessen und teilen ihre Sympathie für sozialistische Ideen.
Dennoch liegt über der Ehe ein Schatten. Paul Arendt hatte sich in jungen Jahren an Syphilis infiziert. Das ist zu dieser Zeit eine weit verbreitete Geschlechtskrankheit. Fast 20 von 100 Männern sind in Preußen davon betroffen und das Mittel dagegen, das so genannte Salvarsan, wird der deutsche Mediziner Paul Ehrlich erst 1906 entdecken.
Paul Arendt musste sich noch nach herkömmlichen Methoden gegen seine Krankheit behandeln lassen, dabei verabreicht man dem Patienten Quecksilberpräparate oder man ruft ein Malariafieber bei ihm hervor. Aber Syphilis ist eine heimtückische Erkrankung. Sie kann nach einer ersten Phase über längere Zeit ruhen, um dann umso heftiger wieder auszubrechen, wobei schlimmstenfalls sogar Rückenmark und Gehirn zersetzt werden. Es kann aber auch sein, dass die Krankheit nach dem ersten Stadium von selbst und ohne Folgen wieder ausheilt.
Die Behandlung bei Paul Arendt zeigte Erfolg. Die Symptome der Krankheit verschwanden gänzlich. Paul Arendt hatte guten Grund zu glauben, wieder völlig gesund zu sein, als er um die Hand der schönen Martha Cohn anhielt.
Das junge Paar zieht zunächst nach Berlin und dann nach Hannover, wo Paul Arendt eine Stelle als Ingenieur bei einer Elektrizitätsgesellschaft gefunden hat. Sie beziehen ein geräumiges Haus im Vorort Linden. Martha Cohn, die nun Martha Arendt heißt, muss ihren Wunsch nach Kindern in den ersten Ehejahren noch zurückstellen. Zu groß scheint das Risiko, dass ihr Mann doch noch nicht gesund ist und ein Kind Schaden nehmen würde. Als sich bei Paul Arendt jedoch keinerlei Anzeichen der Krankheit mehr zeigen, fassen die beiden den Entschluss, eine Familie zu gründen.
Am 14. Oktober 1906 bringt Martha Arendt ein Mädchen zur Welt. Es wird Johanna genannt, nach ihrer Großmutter väterlicherseits. Später werden sie alle nur noch Hannah nennen.
Hannahs Mutter legt eine Art Tagebuch an, das sie mit Mein Kind überschreibt und in dem sie die Entwicklung ihrer Tochter sorgsam aufzeichnen will. Die erste Eintragung lautet: »Johanna Arendt wurde geboren am 14. Oktober 1906 um 9 1/4 Uhr abends, an einem Sonntage. Die Geburt hatte 22 Stunden gedauert und verlief normal. Das Kind wog 3695 gr.«1
Hannah Arendt wird in eine Zeit hineingeboren, die der Schriftsteller Stefan Zweig »das goldene Zeitalter der Sicherheit« nennt. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg und den Turbulenzen der Reichsgründung von 1870/71 sind in Deutschland ruhigere politische Verhältnisse eingekehrt. Die Ära Bismarck ist vorbei, der Eiserne Kanzler, wie man ihn genannt hat, ist 1898 gestorben. Kaiser ist jetzt Wilhelm II., der sich weniger durch seine politischen Fähigkeiten auszeichnet als durch seine Vorliebe für prahlerische militärische Auftritte. Dass die Menschen trotz einer gewissen Politikverdrossenheit von einer euphorischen Aufbruchstimmung erfasst sind, liegt an der ungeheuren Entwicklung der industriellen und wirtschaftlichen Kräfte.
Seit 1895 herrscht eine ständige Hochkonjunktur, was in erster Linie auf die vielen Erfindungen und Entdeckungen zurückzuführen ist. Deutsche Naturwissenschaftler erhalten doppelt so viele Nobelpreise wie jede andere Nation. Der Arzt Robert Koch findet den Erreger der Lungentuberkulose, bis dahin eine wahre Volksseuche. In den Laboratorien der Bayerwerke wird das schmerzstillende Mittel Aspirin entwickelt. Wilhelm Conrad Röntgen entdeckt die so genannten X-Strahlen, mit denen man in einen Menschen hineinsehen kann. Aber auch auf dem Gebiet der Künste, in Literatur, Malerei und Musik werden deutsche Namen wie Thomas Mann, Max Liebermann und Richard Wagner weltweit bekannt. Das Kennzeichen »Made in Germany«, 1887 von den Engländern verfügt, um die Marktchancen der deutschen Produkte zu verschlechtern, wird zum Gütesiegel für Qualität. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein neues Deutsches Reichspatent (D.R.P.) angemeldet wird.
Die Wunder der Technik verändern auch den normalen Alltag. In manchen Haushalten gibt es jetzt ein Telefon. In den Großstädten wie Berlin wird die Gasbeleuchtung zunehmend durch elektrisches Licht ersetzt. Ab 1905 fahren in Deutschlands Hauptstadt die ersten Kraftomnibusse, und die Herren Skladanowsky und Meßter zeigen in finsteren Räumen mit Hilfe eines Kinematographen einem amüsierten, aber skeptischen Publikum bewegliche Bilder. Man kann jetzt mit einem neuen Gerät den Staub aus seiner Wohnung saugen, zum Schreiben einen mit Tinte gefüllten Stift benutzen und sich mit einem Apparat des Mister Gilette aus Amerika das Gesicht rasieren.
Der Glaube an die eigene Stärke und an eine glorreiche Zukunft kennt in der Kaiserzeit keine Grenzen. Zugleich wächst das Bewusstsein, etwas Besonderes zu sein und aufgrund der wirtschaftlichen Potenz auch ein Recht auf eine gewichtige Stimme im Konzert der großen Nationen zu haben. Große Politik zu machen, das heißt um die Jahrhundertwende, Kolonialpolitik zu betreiben. Frankreich und England sind mit ihren gewaltigen Kolonialreichen in Asien und Afrika hier das Vorbild. Aber auch Russland, das sich nach Osten ausdehnt, und kleinere Staaten wie Belgien, Holland und Spanien haben ihre Territorien bereits erweitert. Wenn man in der Weltpolitik mitmischen will, so denkt man im wilhelminischen Deutschland, dann muss man Kolonien erwerben. Der Reichskanzler Bülow drückt das in einer Rede so aus: »Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir wollen auch einen Platz an der Sonne.«
Gleichzeitig versucht man, Verbündete und Gegner für einen möglichen Krieg auszumachen. Das ist ein gefährliches Spiel. Russland ist durch die Revolution von 1905 und einen Krieg mit Japan zwar geschwächt, aber unberechenbar. Österreich verfolgt mit der Annexion Bosniens und der Herzegowina eigene Interessen im Balkan, und wie England und Frankreich auf die neuen Großmachtansprüche Deutschlands reagieren werden, ist noch nicht absehbar.
Ungeachtet der großen Politik nimmt Martha Arendt in Hannover ihre Mutterrolle sehr ernst. In ihrem Tagebuch vermerkt sie alles, was mit der kleinen Hannah zusammenhängt. Penibel führt sie Buch darüber, wann und wie lange das Kind gestillt und gefüttert wird, welche kleineren Krankheiten auftreten, wie es auf Medikamente reagiert und wie sein körperliches Wachstum vorangeht. Schon sehr früh achtet sie darauf, ob sich bei dem Kind Persönlichkeitsmerkmale zeigen:
»Das Temperament ist ruhig, aber doch lebhaft. Gehörempfindungen glaubten wir schon in den ersten Wochen feststellen zu können; Gesichtsempfindungen, abgesehen von allgemeinen Lichtempfindungen, in der siebenten Woche, in welcher überhaupt ein inneres Erwachen von uns beobachtet wird. Das erste Strahlen beginnt mit der siebenten Woche.«
Die kleine Hannah ist das ganze Glück ihrer Eltern. Sie ist gesund, ist meistens zufrieden, zeigt ein lebhaftes Interesse an ihrer Umwelt und lacht viel, sie ist ein »richtiges Sonnenkind«.
Im zweiten Jahr in Hannover tauchen bei Paul Arendt wieder Symptome der überwunden geglaubten Krankheit auf. Sie deuten eindeutig darauf hin, dass mit dem schlimmsten Verlauf zu rechnen ist. Man muss sich nun mit der Tatsache abfinden, dass Paul Arendt als Ernährer seiner Familie ausfällt. Seinen Beruf kann er nicht mehr ausüben und es bleibt der jungen Familie nichts anderes übrig, als Hannover zu verlassen und nach Königsberg, in den Schutz der Familien Cohn und Arendt, zurückzukehren.
Die Cohns wie die Arendts sind russischstämmige Juden. Martha Cohns Vater, Jacob Cohn, floh 1852 vor der judenfeindlichen Politik des Zaren Nikolaus aus Russland nach Königsberg. Er gründete eine Firma für Teeimport, die mit den Jahren zu einem der größten Unternehmen in Königsberg wurde. Martha entstammt der zweiten Ehe Jacob Cohns mit Fanny Eva Spiro. Jacob Cohn starb 1906, in Hannahs Geburtsjahr.
Die Familie Arendt ist schon seit dem 18. Jahrhundert in Königsberg ansässig. Hannahs Großvater, Max Arendt, gilt in Königsberg als bedeutender und einflussreicher Mann. Er ist Vorsitzender sowohl der Stadtverordnetenversammlung als auch der liberalen jüdischen Gemeinde. Paul, sein Sohn, ist eines von zwei Kindern aus der Ehe mit Johanna Wohlgemuth. Als sie um 1880 starb, heiratete Max Arendt ihre Schwester, Klara Wohlgemuth.
Paul und Martha Arendt beziehen in Königsberg ein großes Haus im vornehmen Hufen-Viertel, in der Tiergartenstraße, wo die schönsten Villen der Stadt stehen. Martha Arendt führt weiter Tagebuch über ihr Kind, bei dem sie ab dem dritten Lebensjahr eine »starke« Entwicklung feststellt. Hannah kann schon fehlerfrei sprechen, allerdings tut sie das nur mit fern stehenden Erwachsenen; ist sie dagegen allein mit sich und ihren Puppen, fällt sie in eine Kindersprache zurück. Erstaunlich ist das Gedächtnis und die Neugier des Mädchens. Ohne dass sie von jemandem dazu angeleitet worden wäre, hat sie sich alle Buchstaben...

Erscheint lt. Verlag 3.9.2013
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Kinder- / Jugendbuch
ISBN-10 3-407-74443-9 / 3407744439
ISBN-13 978-3-407-74443-2 / 9783407744432
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