Bockelson (eBook)

Geschichte eines Massenwahns
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2024 | 2. Auflage
259 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-8187-3309-4 (ISBN)

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Bockelson -  Friedrich Reck-Malleczewen
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Das Kapitel, das hier umgeblättert wird, dürfte in des deutschen Volkes wunderlicher Geschichte als das wunderlichste, das schaurigste und zugleich das unbekannteste dastehen, obwohl es durch fast zwei Jahre die Welt in Atem hielt, eine ganz beträchtliche Stadt des alten Reiches samt einem seiner Kreise in ein Narrenhaus verwandelte und für jene alte Welt von Kaiser und Reichsständen beinahe den gleichen Brandherd bedeutete wie neun Jahre zuvor der Bauernkrieg.

Friedrich Percyval Reck-Malleczewen (11. August 1884 auf dem Gut Malleczewen, Kreis Lyck, Ostpreußen; ? 16./17. Februar 1945 im KZ Dachau) war ein deutscher Arzt und Schriftsteller. Er war Christ und stand gegen den Nationalsozialismus.

Friedrich Percyval Reck-Malleczewen (11. August 1884 auf dem Gut Malleczewen, Kreis Lyck, Ostpreußen; † 16./17. Februar 1945 im KZ Dachau) war ein deutscher Arzt und Schriftsteller. Er war Christ und stand gegen den Nationalsozialismus.

Incipit tragoedia


Der Ausbruch des münsterischen Feuers fällt, was ja wohl kein Zufall gewesen sein dürfte, ziemlich genau zusammen mit dem Eintreffen der beiden holländischen Propheten. Anfangs Januar 1534 durchlaufen die täuferischen Prädikanten Klopriss, Stralen, Roll und Staprade die Gassen, schreien Ach und Wehe über das gleißende und reiche Münster im Allgemeinen und über die Geschmeideträger im Besonderen, wenden sich dabei vor allem an die schmuckbehangenen Frauen der Ratsherren und ›Erbmänner‹ und erreichen es endlich, dass die eleganten Damen ihre Juwelen in Rothmanns Hause, wo sie angeblich zum Unterhalt bedürftiger Prediger bereitgehalten werden sollen, deponieren.

Was leider auf die herbe Kritik der zugehörigen Ehemänner stößt. Die nämlich wittern hier frühzeitig noch ganz anderen Unrat und bringen für das Treiben der geistlichen Herren das erwartete Verständnis nicht auf. Auf die vom Opfergang heimkehrenden Damen warten sie mit Ochsenziemern und Stöcken, und der Ratsherr Wördemann ›befestigte‹, wie Kerssenbroch berichtet, ›sein Eheweib, das sich bei dieser Gelegenheit hatte taufen lassen, mit dem Stock dermaßen im Glauben, dass sie kaum kriechen, geschweige denn gehn konnte‹.

Dass die misstrauischen und empörten Ehemänner bei dieser Gelegenheit auch gleich den Herren Prädikanten selbst eine Tracht Prügel in Aussicht stellen, hilft blutwenig, da die Weiber nun einmal Feuer gefangen haben und selbst im feudalen Überwasserkloster die jüngeren Nonnen zu desertieren beginnen. Wovon ein zeitgenössisches Poem ein ziemlich anschauliches Bild gibt ...

›Ethliche sind ut ehren orden gebleven
Un sind uth ehren kloister gedreven
Velle waren van fleschliker begerde dull
Und weren derhalven des uprorerischen handels vull.
Se weren von groiter unkuischheit sehr verbaset
Darum hebben se uith ehren kloister nach unkuischen kerls geraset.‹

Was die Äbtissin Ida von Merfeld veranlasst, sich in einem ratlosen Brief an den Bischof zu wenden, der ihr seinerseits anbefiehlt, die Fortgelaufenen, damit nicht noch die Treugebliebenen angesteckt würden, auf keinen Fall wieder aufzunehmen.

Franz von Waldeck, der Bischof, rafft sich endlich zu energischem Handeln auf. Am 28. Januar erlässt er ein Edikt, in dem er auf die Täufer Pech und Schwefel regnen lässt, allen ihren Münsterischen Beschützern die bürgerlichen Sicherheiten aufkündigt und mit weiteren Repressalien droht. Als Antwort verlegt Rothmann, um die Anwesenheit von Spionen auszuschalten, die Gottesdienste in die Privathäuser frommer Brüder, in die man nur auf ein verabredetes Zeichen Eintritt erhält. Auch in der Öffentlichkeit erkennen sie sich nun gegenseitig an einer kleinen kupfernen Brosche, die die Buchstaben DWWF trägt: ›Das Wort wurde Fleisch‹, im Übrigen sind sie in der aufbegehrenden Stadt eigentlich gar nicht mehr auf Heimlichkeit und illegales Leben angewiesen: auf der Straße wird der Mob, der sich inzwischen bewaffnet hat, so angriffslustig, dass die den alten Bekenntnissen treu Gebliebenen ihre Häuser in Verteidigungszustand versetzen und eine Art Selbstschutz bilden. Am dreizehnten Januar sind Bockelson und Gert tom Kloster in Münster eingetroffen.

Unter ihrem Vorsitz hat in Knipperdollings Haus sofort nach dem Erscheinen des bischöflichen Ediktes eine höchst geheime Sitzung stattgefunden, bei der allen Ernstes die frommen Prädikanten, was den ›Altgläubigen‹ natürlich nicht ganz verborgen bleibt, eine gegen Katholiken und Protestanten zu inszenierende Bartholomäusnacht vorschlagen. Dass unter diesen Umständen die ›Altgläubigen‹ beizeiten Gegenmaßnahmen vorbereiten, erscheint selbstverständlich: schon jetzt beginnen sie, mindestens mit Wissen des Bürgermeisters Judefeldt, Waffen in das auf der anderen Seite des Aa-Flusses gelegene Überwasserkloster zu schaffen, und schon jetzt dürften sie den Bischof um Intervention gebeten haben.

Mit der Bartholomäusnacht von Münster aber ist es vorerst sowieso nichts, die beiden Münsterer Sendboten verlangen zur Bearbeitung der breiten Massen noch Frist und erklären, ›noch sei die Zeit nicht gekommen, Gottes Tempel zu säubern und die eigenen Hände im Blute der Gottlosen zu beflecken‹. Bemerkenswert ist, dass die Versammlung, zu der man bewaffnet gekommen ist und die man erst im Morgengrauen wieder verlässt, die beiden von vornherein nicht nur als die Sendboten des Propheten Matthys, sondern direkt als Sendboten Gottes behandelt.

Der Rat, der inzwischen erneut und wiederum vergeblich die Entfernung Rothmanns aus der Stadt versucht hat, wittert wohl den Willen zu blutiger Gewalttat, tut aber nichts weiter als das, was in solcher Lage noch jede schwächliche Regierung getan hat: er unterhandelt, redet von ›friedlich und freundlich nebeneinander leben‹ und lässt seinerseits ein entsprechendes Edikt anschlagen. Die Rebellen reißen hohnlachend das Edikt ab, kriechen immer häufiger und immer in Wehr und Waffen aus ihren Schlupfwinkeln ans Tageslicht und setzen es durch, dass die Stadt zu dem vom Bischof auf den zweiten Februar nach Wolbeck einberufenen Landtag neben dem Bürgermeister Judefeldt den täuferischen oder mit den Täufern doch kokettierenden Syndikus Wyck, außerdem Heinrich Redeker, der in der Telgter Überfallnacht dem bischöflichen Kavalier Melchior von Büren fünfhundert Goldgulden stahl ... endlich aber Tile Bussenschute, einen Büchsenmeister und ›fürchterlich langen Cyklopen‹, wie Kerssenbroch ihn nennt, abordnet. Der Bischof empfindet diese Kommission als Herausforderung und dreht ihr den Rücken und ›dar ys de landtag mede sletten‹ heißt es treuherzig in einem zeitgenössischen Bericht.

Inzwischen ist unserem Rothmann leider ein Malheur zugestoßen: um Ida von Merfeld auch noch die letzten Nonnen abspenstig zu machen, hat er im Überwasserkloster gepredigt, hat die jungen Damen, was ihnen gar nicht so fern liegt, an ihre Pflicht, das Menschengeschlecht fortzupflanzen, erinnert, ist dann aber zu einer noch wirksameren Dialektik übergegangen und hat für die kommende Mitternacht den Einsturz des Klosterturmes prophezeit.

Man soll nicht, wenn man seiner Sache nicht sehr sicher ist, den Einsturz festgefügter Türme prophezeien, und Rothmann fühlt wohl selbst, dass er sich hier vergaloppiert hat. Die jüngeren Damen waren – nach Kerssenbroch – zwar ›mehr erfreut als erschreckt‹, sie sahen, wie ringsum die alte Welt versank und sahen wohl bei den anzüglichen Redensarten des ›lieben Rothmann‹ eine neue bunt und verlockend sich auftun. Sie laufen unter Mitnahme ihrer Siebensachen davon und verschwinden damit in dem großen Sudkessel, zu dem Münster nun für anderthalb Jahre wird. Ida von Merfeld und die Damen von Linteloen und von Langen sind die einzigen, die bleiben.

Da es nun dem Überwasserturm nicht im Mindesten einfällt, Rothmann zuliebe einzustürzen, und da Rothmanns Ausrede, das Unheil sei ja nun wohl durch die Bekehrung der Nonnen abgewendet, doch allzu wenig Eindruck macht, so retten Roll, Knipperdolling und auch Bockelson das Ansehen des täuferischen Propagandaapparates, indem sie ›in doller gestalt‹ auf die Straße stürmen und dort hysterisch zu brüllen beginnen ...

›Oh vader! Bettert jew! Doit bote!‹

Bessert euch, tut Buße, der Tag des Herrn bricht an, der Untergang der Stadt ist nahe! Wenige bringen den Mut auf, zu lachen, die meisten sind dem münsterischen Irrenhause schon so verfallen, dass sie nun auch ihrerseits sich zur Erde werfen und beten und aufspringen und weinend sich umarmen. Ein Schneider, dessen Tochter bereits einen ähnlichen Anfall hysterischer Verzückung produziert hat, sieht, das Haupt emporhebend, ›Gott mit der Siegesfahne in den Wolken thronen und den Gottlosen drohen‹ und die blutrünstige und wahrscheinlich von dem brutalen Matthys ausgegebene Ankündigung, ›dass Gott nun bald seine Tenne kehren wolle‹, fehlt keineswegs in dieser visionären Entleerung des Schneiders. Der Mann, völlig außer Rand und Band, springt auf den Bordsteinen herum, klatscht in die Hände, macht mit den Armen Flugbewegungen, fällt, da es mit dem Fliegen trotz aller Begeisterung nicht recht geht, zu Boden, liegt in Kreuzesform im Straßenkot. Die Gymnasiasten, die mit Kerssenbroch das alles mit ansehen, lachen, die Orgie aber dauert deswegen doch an. In diesen Nächten, die dem eigentlichen Ausbruch des Feuers vorausgehen, laufen Entflammte beiderlei Geschlechts durch die Straßen, verkünden den bevorstehenden Einsturz des Himmels, fallen unversehens in Unrathaufen, sehen aber trotzdem ›Myriaden von Engeln‹ und schreien, bis der heiser gewordene Kehlkopf den Dienst versagt.

Münster ist über Nacht verrückt geworden, und da es sich nicht gut leben mag in einer verrückt gewordenen Stadt, denken in diesen Tagen schon die bei leidlicher Vernunft Gebliebenen an Emigration, während die Prädikanten den Wankenden und den kleinen Leuten voran ins Ohr flüstern: ›Draußen vor euren Mauern steht schwer bewaffnet der feudale Bischof, um das in eurer Mitte keimende Reich Gottes auszurotten ... achtet also gut auf Verräter!‹ Es ist das alte Spiel, mit dem in allen revoltierenden Staaten und Städten die Machthaber die Aufmerksamkeit der Masse von ihren eigentlichen Plänen ablenken – es war 1792 in Paris, es war 1917 in Moskau so und es konnte in Münster kaum anders sein. Prompt erscheint, wenn man den Aufzeichnungen eines Unbekannten Glauben schenken darf, auf dem Rathause laut schreiend der alte Krakeeler und Taschendieb Redeker, erzählt von einem Fremden, der morgens von auswärts in der Stadt angekommen sei und berichtet habe, es sei der Bischof mit einer Strafexpedition von dreitausend Reisigen schon unterwegs. Es ist der neunte Februar und trotz allen...

Erscheint lt. Verlag 30.11.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Deutschland • Europe • Evangelisch • Geschichte • Politik • Religion • Religionskrieg
ISBN-10 3-8187-3309-0 / 3818733090
ISBN-13 978-3-8187-3309-4 / 9783818733094
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