Lebendige Seelsorge 4/2024 (eBook)
64 Seiten
Echter Verlag
978-3-429-06686-4 (ISBN)
Ute Leimgruber, Dr. theol., Professorin für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Regensburg. Bernhard Spielberg, Dr. theol., Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Freiburg.
Ute Leimgruber, Dr. theol., Professorin für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Regensburg. Bernhard Spielberg, Dr. theol., Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Freiburg.
Red Bull – „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“
Doing Theology in der Psychosomatik
Worin liegt der spezifisch ausweisbare Beitrag von Seelsorge in unserem Behandlungskontext? Mit dieser Frage bin ich als katholischer Klinikseelsorger in der stationären Psychosomatik in Bad Grönenbach immer konfrontiert, weil ich systemfremd bin. Meine Antwort lautet: Doing Theology.
Reiner Fuchs
Psychosomatik im säkularen staatlichen Gesundheitswesen ist bio-psycho-sozial formatiert, Religion/Spiritualität wird weder in der Diagnostik (ICD, ICF) noch in den Behandlungsleitlinien konstitutive Bedeutung eingeräumt. Konzeptionelle und institutionelle Berührungsflächen zur Seelsorge sind daher in der Regel nicht diskursiviert. Auf die Außenanfrage nach dem Proprium der Seelsorge mit Doing Theology zu antworten, löst weitere Fragen aus: Wo wird hier Theologie von wem und wie gebraucht? Wie gelangt sie dorthin, wo sie gebraucht wird? Macht sie im säkularen Kontext einen Unterschied? Kann sie auf psychosomatischem Terrain Autorität gewinnen? Die Diskussion dieses Themas möchte ich mit der Darstellung eines Fallbeispiels anregen.
„GIBT’S NOCH WAS ANDERES?“
In der Klinik können Patientinnen und Patienten die Einzelberatung der Klinikseelsorge als eine Art Zusatzmodul zum Behandlungssetting ‚buchen‘. Eine Frau (27), die sich unter anderem wegen Herzrhythmusstörungen, Schlafstörungen und Lähmungserscheinungen im Arm in der stationären Reha befindet, nimmt das in Anspruch. Wir haben daraufhin im Verlauf von vier Wochen sechs Beratungsgespräche geführt. Das Beschwerdebild der jungen Frau wird in den Zusammenhang mit dem Verlust ihres Bruders gebracht, der vor über vier Jahren bei einem Arbeitsunfall tödlich verunglückte. Im Rahmen ihrer ambulanten und stationären Therapien wird sie wiederholt darauf verwiesen, diese Beschäftigung mit dem Verlust abzuschließen und sich nun – ihren Bruder wertschätzend erinnernd – wieder ihrem Leben und ihrer Zukunft zuzuwenden. Sie findet das alles sehr nachvollziehbar und vernünftig, kann es aber nicht umsetzen. Auf der Suche nach weiteren Herangehensweisen, sucht sie – auch auf Anraten der behandelnden Psychologin – die Seelsorge auf. Wir vereinbaren, ihre Geschichte nochmals gemeinsam anzuschauen und wenn möglich, mit theologischen Perspektiven zu experimentieren.
Reiner Fuchs
Dr. theol., Pastoralreferent; Klinikseelsorger in der VAMED Rehaklinik und der Psychosomatischen Privatklinik Bad Grönenbach.
In der Exploration wird deutlich, wie dramatisch der Unfall des Bruders sie mit der abgründigen, unsagbaren Seite des Lebens konfrontiert. Er wurde bei Reparaturmaßnahmen auf ungeklärte Weise von einer Maschine erfasst und tödlich verletzt. Die juristische Aufarbeitung des Hergangs konnte weder Fremd- oder Selbstverschulden noch technisches Versagen ein- oder ausschließend klären und wurde eingestellt. Sie bleibt mit vielen Fragezeichen zurück. Im Rahmen der katholischen Herkunftsfamilie fand eine große kirchliche Beerdigung statt. In der familiären Bewältigung des Unfalls werden zahlreiche Verwerfungen sichtbar. Trotz aller Verarbeitungsbemühungen vermisse sie ihren Bruder nach vier Jahren noch sehr und erlebe sich als eine Art Anwältin für seine Integrität. Auch möchte sie ihn weiter an ihrem Leben teilhaben lassen.
Was tun, wenn die rationalen, säkularen bio-psycho-sozialen Strategiekonstrukte nicht greifen?
RELIGION ALS KONTINGENZBEWÄLTIGUNG
Als Ansatzpunkt für Doing Theology greife ich ihre Schilderungen auf dem Hintergrund eines funktionalen Religionsverständnisses als einer Dimension von Kultur auf, die in der Auseinandersetzung mit den Unsagbarkeiten des Lebens entsteht (vgl. Wendel 2024; Hoff 2022, 129 ff.). Jene Widerfahrnisse erzeugen machtvolle Zugriffe auf die eigene Lebensführung und nötigen zu subjektiven Positionierungen im Angesicht dieses Ohnmachtserlebens. Kann Doing Theology hier als eine Variante substantieller Religion im pluralen Spektrum von Religions-/Spiritualitätspraktiken als religious coping fungieren und das auch diskursiv anschlussfähig als eine mögliche Kontaktzone zum Salutogenesekonzept in der Psychosomatik ausweisen? Die junge Frau ist mit dem Zugriff einer doppelten Grenzerfahrung konfrontiert, die sich direkt in ihrer somatischen Symptomatik manifestiert: Die erste Grenzerfahrung bezieht sich auf die Nichtaufklärbarkeit des Unfallgeschehens, die zweite auf ihre Bewältigungsstrategie der Nichtabschließbarkeit. Wir explorieren also ihre Bewältigungspraktiken der vergangenen vier Jahre. Hinsichtlich der Klärung und Realisierung der Unfalltatsachen verschaffte sie sich engagiert Zugang und Einblick in die polizeilich-gerichtsmedizinischen Unterlagen und konfrontierte sich im Verlauf einer Traumatherapie mit den sagbaren, auch grausamen Realitäten des Unfalls. In Bezug auf das Bedürfnis, ihren Bruder weiterhin an ihrem Leben teilhaben zu lassen, installierte sie eine ritualisierte Präsenz-Gedächtnis-Praxis. Vor seinem zentral im Wohnbereich platzierten Foto, hielt sie ihn allabendlich auf dem Laufenden. Mit der Zeit konnte sie ihre Selbstdisziplin nicht mehr durchhalten, schlief ein, vergaß es, wachte auf, hatte daraufhin ein schlechtes Gewissen, konnte nicht mehr schlafen und hatte Angst, ihn nun gänzlich zu verlieren. In der Folge entwickelte sich die Eigendynamik ihrer dysfunktionalen Somatisierungen. Schließlich drohte sie im Behandlungsrahmen zu verstummen und das Scheitern zu verschweigen. So fand sie sich vor der Frage: Was tun, wenn die rationalen, säkularen bio-psycho-sozialen Strategiekonstrukte nicht greifen? Ihr Lösungstableau brauchte offensichtlich gesteigerte Komplexität. Das motiviert sie zum Experiment Seelsorge.
Christlicher Glaube bezeugt die Hoffnung, nicht ausschließen zu können, dass sich für alle Menschen auf geheimnisvolle Weise das ereignen könne, wovon das Evangelium berichtet: Auferweckung und Auferstehung, Lebenszeichen im Tod.
ABWESEND ANWESEND – „DAS IST EIN GEHEIMNIS UNSERES GLAUBENS“ –
Die Religionsperspektive verfügt über die Option einer zusätzlichen Positionierung, weil sie konstitutiv mit einer dritten Größe arbeitet, indem sie das säkulare individuell [bio-psycho-] soziale Format mit dem Realitätskonstrukt des Sakralen überschreitet (vgl. Sander 2019, 17–70). Die Konkretion und Operationalisierung religiösen Copings führt dann auf das Terrain substantieller Religionstradition. Als Grundorientierung des christlichen Glaubens kann hier auf die Kernformulierung in liturgischer Sprechweise Bezug genommen werden: „Geheimnis des Glaubens: Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ Die Orientierung am Gekreuzigten präsentiert einen Positionierungsraum der öffentlichen Darstellung einer eigenen Ohnmachtserfahrung im Angesicht des Todes und des Scheiterns, ohne dieses Ende als definitives Ende der Geschichte behaupten oder begreifen zu müssen. Stattdessen ermutigt es zur Hoffnung auf einen Möglichkeitsraum im Sinne einer unverfügbaren Leerstelle „unbegrenzter Schöpfungsmacht“ (Hoff 2021, 202–204), eines kommenden Anfangs im Ende. Christlicher Glaube bezeugt die Hoffnung, nicht ausschließen zu können, dass sich für alle Menschen auf geheimnisvolle Weise das ereignen könne, wovon das Evangelium berichtet: Auferweckung und Auferstehung, Lebenszeichen im Tod. Auf das Fallbeispiel gewendet: Dass auch für die junge Frau die Hoffnung besteht, im Tod des Bruders eine eigene Lebensperspektive mit ihrem verstorbenen Bruder finden zu können.
Doing Theology prozessiert pastoral, im dem sie diesen Raum ihrer Ohnmachtserfahrung in der Hoffnung validiert, in der Pluralität der Zeichen der Zeit diejenigen auffinden und unterscheiden zu können, die als Zeichen der Gegenwart Gottes gelesen werden können (vgl. Gaudium et spes 11). Daher biete ich ihr eine erweiternde Lesart an, die ihr Nicht-Verstummen im Scheitern als eine machtvolle Widerständigkeit in der Gesamtszenerie versteht. Sowohl eigene Disziplinierungsbemühungen als auch die Gegenrede psychosomatischer Autorität konnten dieses beharrliche Beklagen ihres Scheiterns und das Festhalten am Suchen einer anderen Lösung nicht zum Schweigen bringen. In der Performance ihrer Ohnmacht zeigt sich zugleich eine Widerständigkeit mit Autorität. Ihr Vollzug eines kraftvollen Bekenntnisses eigener Erlösungsbedürftigkeit stellt eine Art paradoxes, heterogenes Machtgeflecht dar und bezeugt eine starke Verbundenheit mit ihrem Bruder, die gerade inmitten seines Todes sich laut und deutlich Gehör verschafft.
Ich biete als Gesprächsbeitrag zunächst formal diese paradoxe Differenzkonstruktion von Realität im Sinne anwesender Abwesenheit an, ohne deren performative Leerstelle mit dem Term ‚Gott‘ christlich zu kodieren und theologisch zu gebrauchen. Damit kann ihre beharrliche Darstellung des Verlustes auch als eine Form je gegenwärtiger Bezeichnung der Präsenz des verstorbenen Bruders in ihrem Leben betrachtet werden. Die je aktuelle Realisierung seiner Abwesenheit wäre in dem Fall als eine Form seiner Anwesenheit lesbar. Wichtig: Das...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2024 |
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Reihe/Serie | Lebendige Seelsorge |
Verlagsort | Würzburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Christentum |
Schlagworte | Pastoral • Psychische Erkrankung • Seelsorge • Spiritualität |
ISBN-10 | 3-429-06686-7 / 3429066867 |
ISBN-13 | 978-3-429-06686-4 / 9783429066864 |
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