Bekenntnisse (eBook)

Auflösung eines katholischen Lebens
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2024 | 1. Auflage
388 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-5868-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bekenntnisse -  Michael Rasche
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"Es genügte mir nicht, das Christentum zu leben. Ich wollte es auch verstehen. Vielleicht war das mein Fehler." Michael Rasche war katholischer Priester und Professor für Philosophie. Als Seelsorger hat er Sterbende begleitet und Kinder getauft, an der Universität hat er über die Kirche geforscht, gelesen und nachgedacht. Er wollte die Kirche tiefer verstehen, ihre Lehre, ihre Strukturen, ihre Menschen, ihre Krise. Doch je mehr er verstand, desto mehr löste sich das auf, woran er geglaubt hatte. Michael Rasche entschied sich schließlich, dieses katholische Leben hinter sich zu lassen und zu heiraten. In diesem Buch erzählt Michael Rasche seine katholische Geschichte - eine spannende Entdeckungsreise im Inneren der Kirche, die dem auf den Grund geht, warum die Kirche so ist, wie sie ist, und warum sie sich aus der Krise nicht befreien kann.

Michael Rasche, PD Dr. Dr., geb. 1974, wurde 2001 in Essen zum katholischen Priester geweiht und war danach viele Jahre im Ruhrgebiet und in Bayern in der Seelsorge und an der Universität tätig. 2015 wurde er Professor für Philosophie an der KU Eichstätt-Ingolstadt. 2016 trat er von seinen kirchlichen Ämtern zurück. Er lebt heute mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Rotterdam, Niederlande, und ist freiberuflich tätig als Philosoph, Redner und Berater.

Das einzige Paradies ist das verlorene Paradies.
Marcel Proust

Das Paradies


Die Kirche ist bitterkalt. Eine Gruppe von vielleicht 20 Personen hat sich festlich gekleidet in der dunklen Taufkapelle versammelt, die von Kerzen und einigen wenigen Lampen nur notdürftig beleuchtet wird. Gegenüber dieser Kapelle öffnet sich der weite Raum der modernen Kirche, die von großen Fensterfronten erhellt wird, selbst an diesem verregneten Tag. Die Rückwand des Altarraums wird von riesigen Weihnachtsbäumen verdeckt, an denen elektrische Kerzen funkeln. Es ist der 2. Weihnachtstag 1974, der Tag meiner Taufe.

Mein Eintritt ins Leben war zugleich der Eintritt in die katholische Kirche. Kirche und Leben waren in unserer Familie nicht zu trennen. Dies passierte nicht in einem Fanatismus oder in einem frommen Eifer, sondern mit einer natürlichen Selbstverständlichkeit. Katholisch zu sein, war nicht das Ergebnis einer besonderen Bemühung, man war es einfach. Und das seit vielen Generationen. Soweit man die Verästelungen und Verzweigungen meiner Familie zurückverfolgen kann, gab es nicht einen einzigen Protestanten. Dafür gab es drei Priester: einen Professor und Weihbischof in Trier, der im 19. Jahrhundert lebte, einen Domprobst in Köln, der den klingenden Nachnamen „Ketzer“ trug und nicht nur deshalb den „Orden wider tierischen Ernst“ erhalten hatte, sowie einen Großonkel, der es bis zum Professor in Rom gebracht hatte. Daneben muss es irgendwann früher noch einige Ordensschwestern gegeben haben, aber von denen habe ich nie Genaues gehört. Man kann unsere Familie also mit vollem Recht als katholisch bezeichnen. Man ging am Sonntag in die Kirche, vor jeder Mahlzeit wurde ein Tischgebet gesprochen, Namenstage wurden genauso feierlich begangen wie die Geburtstage. Auch mit genauso großen Geschenken, was für uns Kinder eine feine Sache war.

In diese Welt wurde ich im Oktober 1974 hineingeboren. Etwa zwei Monate später, am 2. Weihnachtstag, wurde ich in der Taufkapelle der Barbarakirche in Mülheim an der Ruhr vom Kaplan getauft. Wie es mit Blick auf mein späteres Leben selbstverständlich erscheint, habe ich diese Zeremonie mit würdevoller Gelassenheit über mich ergehen lassen, so wurde mir berichtet. Wie es mit Blick auf mein späteres Leben ebenfalls selbstverständlich erscheint, war zusätzlich neben dem Kaplan noch der Pfarrer in der Bank betend anwesend. Doppelt genäht hält besser.

Wir lebten im Norden von Mülheim an der Ruhr, im Stadtteil Dümpten. Wie so viele Orte im Ruhrgebiet bestand Dümpten vor 150 Jahren noch aus einzelnen Gehöften, bevor dann der große Boom durch Kohle und Stahl ausbrach und aus kleinen Dörfern riesige Siedlungen mit Tausenden Bewohnern wurden. Dümpten, von den Einwohnern stolz „Königreich“ genannt, liegt an einem Hügel. Wir wohnten oben, also in Oberdümpten, unsere Pfarrkirche St. Barbara lag unten, in Unterdümpten, etwas über einen Kilometer entfernt. Die alte Barbarakirche, benannt nach der Heiligen Barbara, der Patronin der Bergleute, war im Krieg zerstört worden. Unter vielen Mühen konnte die neue Barbarakirche gebaut werden. Sie wurde 1955 eingeweiht und galt damals als revolutionär, da sie bereits vieles vorwegnahm, was später durch die Liturgiereformen und ein modernes Architekturverständnis gefordert wurde. Der Stil wurde unter Architekten als „neue Sachlichkeit“ definiert, was schlimmer klingt, als die Kirche letztendlich geworden ist. Im Unterschied zu vielen anderen modernen Kirchen war die Barbarakirche in der Lage, im Gottesdienst eine gute Atmosphäre zu erzeugen und stellt ein durchaus gelungenes Beispiel moderner kirchlicher Architektur dar.

Mit der Taufe in der kalten, dunklen Kapelle der Barbarakirche begann meine offizielle kirchliche Laufbahn. Wenige Jahre später folgte der katholische Kindergarten, direkt hinter der Kirche. Auf diesen wiederum die katholische Grundschule am Schildberg. Immer begleitet vom katholischen Zuhause und von der katholischen Kirchengemeinde. Wir gingen an jedem Sonntag in die Kirche. Dort ging es mir wie wohl den meisten Kindern in dieser Situation: spannend fand ich es nicht, in eine Holzbank eingepfercht zu sein. Was ich allerdings spannend fand, war das Geschehen oben im Altarraum. Und so war für mich schnell klar, dass ich nach oben in den Altarraum wollte: dahin, wo was passiert. Ich wollte Messdiener werden.

Zu dieser Zeit – Ende der 1970er Jahre – gab es in unserer Gemeinde weit über 100 Messdiener. Dummerweise konnte man erst Messdiener werden, wenn man zur Erstkommunion gegangen war. Also musste ich warten. Aber irgendwann war es dann soweit: am Heiligen Abend 1982 konnte ich endlich meine erste Messe „dienen“ – im Unterschied zu meiner Schwester, denn es waren nur Jungen zugelassen.

Wochenlang hatte ich auf diesen Moment hingefiebert. Dem ersten Einsatz als Messdiener ging eine längere Ausbildungsphase voraus. Der Kaplan übte mit uns neuen Messdienern: wie steht man richtig, wie läuft man richtig, wann muss man wohin laufen, wann muss man etwas bringen oder abholen, wie kniet man zeitgleich mit anderen 20 Messdienern nieder. Das klingt vielleicht nach militärischem Drill – und den wird es in vielen Kirchengemeinden früherer Zeiten auch gegeben haben –, im Kern ging es aber weniger darum, die Bewegungsabläufe möglichst zackig zu machen, sondern erst einmal darum, sich nicht im Altarraum zu verlaufen und beim Gehen und Stehen eine würdevolle Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen, wie es dem Charakter eines Gottesdienstes entspricht. So galt die Losung: „Wenn du schon falsch gelaufen bist, mache es würdevoll weiter, dann merkt es keiner!“ Dass dieses Motto auch sonst in der Kirche gelebt wurde, konnte ich noch nicht ahnen, aber dazu später mehr.

Was macht ein Messdiener? Er „dient“ bei der Messe. Das heißt, er hilft dem Priester in der Durchführung der Messfeier und anderer Gottesdienste. Von denen gab es damals in unserer großen Gemeinde eine ganze Menge: fünf Messen und eine Andacht an jedem Wochenende (die frühen Acht-Uhr-Messen am Sonntag waren natürlich nicht so beliebt bei uns Messdienern), dazu noch Taufen, Hochzeiten und andere Gottesdienste. Bei normalen Messen waren vier Messdiener dabei, bei großen Hochämtern entsprechend mehr. So wurde an den großen Festtagen wie Weihnachten und Ostern alles an Messdienern aufgeboten, was Beine hatte. Dies galt besonders für das Fronleichnamsfest, bei dem der Gottesdienst draußen stattfand und damit Messdienerscharen möglich waren, die sonst kaum in den Altarraum der Kirche gepasst hätten.

Bei den Messdienern gab es – wie könnte es in der katholischen Kirche auch anders sein – eine klare Hierarchie. Bei meiner ersten Messe am Heiligen Abend war ich „Stufenputzer“, offiziell „Flambeauträger“. Ein Flambeau ist ein schlanker Kerzenhalter, den man gut in der Hand halten kann und der etwa einen Meter hoch ist. In meiner ersten Messe war ich nicht viel höher. Bei besonders festlichen Anlässen wurden 10 bis 20 Flambeauträger eingesetzt, um bestimmte Momente im Gottesdienst mit mehr Glanz und Würde zu versehen: wenn es wichtig wurde, kamen die Flambeaus. Das bedeutete konkret, dass die Flambeauträger im Laufe des Gottesdienstes mehrere Male in Prozession in den Altarraum hinein- und wieder hinauszogen. Ein großer Vorteil dabei: während der Predigt – gewöhnlich der langweiligste Teil der Messe – konnte man in der Sakristei oder draußen herumtoben und ein bisschen Spaß haben. Sei es mit Fangenspielen oder Zigaretten, je nach Alter.

Die Flambeauträger wurden nur bei besonders festlichen Anlässen eingesetzt. In der Hackordnung der Messdiener waren sie unten angesiedelt, sie waren eben die „Stufenputzer“, mehr oder weniger schmückendes Beiwerk. Im Mittelfeld dieser inoffiziellen Hierarchie standen die Dienste, die es in jedem Gottesdienst gab, die aber mehr Verantwortung und Eigenständigkeit erforderten als nur Flambeaus von rechts nach links zu tragen und auf Kommando zu knien: Altardienst und Kerzendienst. Diese versahen die „normalen“ liturgischen Dienste: Begleitung des großen Evangelienbuches, Bringen der Gaben zum Altar usw.

Oben in der Hierarchie der Messdiener standen „Kreuz“ und „Weihrauch“. Der Messdiener, der „Kreuz“ hatte, ging bei Ein- und Auszug in die Kirche mit einem großen Tragekreuz vorneweg und führte die Prozession an. Er gab die Kommandos für die Flambeauträger und war – natürlich unterhalb des Priesters – der Chef im Ring. Mir persönlich gefiel allerdings in späteren Messdienerjahren – als ich längst Leiter war und mir den Dienst aussuchen konnte – der Weihrauchdienst deutlich besser. Zum einen war das Tragekreuz doch recht schwer für einen damals noch schmächtigen Kerl wie mich, zum anderen machte es als Weihrauchträger einfach Spaß, den Altarraum und die ganze Kirche mit einem heiligen Nebel zu erfüllen. Je dichter, desto besser. Hierbei hagelte es oft Beschwerden von Gottesdienstbesuchern, die in diesem Rauch weniger an fromme Hingabe denken konnten als vielmehr daran, die nächste...

Erscheint lt. Verlag 23.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Schlagworte Christentum • Katholisch • Kirche • Priester • Theologie
ISBN-10 3-7693-5868-6 / 3769358686
ISBN-13 978-3-7693-5868-1 / 9783769358681
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