Verhaltenssüchte personzentriert verstehen und behandeln (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
155 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61940-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verhaltenssüchte personzentriert verstehen und behandeln -  Frank Gauls
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Wenn Alltags- und Freizeitbeschäftigungen wie Einkaufen, Videospielen oder Internetsurfen zur Sucht werden, kann das für die Betroffenen gravierende Folgen haben, bis hin zu Verschuldung, sozialer Isolation, Arbeitslosigkeit und Beschaffungskriminalität. In Beratung und Therapie ist daher nicht nur eine vorurteilsfreie Arbeit am Selbstkonzept der Betroffenen wichtig, sondern auch Unterstützung beim Alltags- und Geldmanagement. Das Buch beschreibt umfangreich die häufigsten Verhaltenssüchte: Glücksspielsucht, Videospielsucht (Gaming), suchtartiges Surfen und Streamen sowie Kauf- und Sexsucht. Nach dem Personzentrierten Ansatz werden störungsspezifische Themen und Strategien für Beratung und Behandlung abgeleitet. Zahlreiche Fallbeispiele und Beispieldialoge veranschaulichen die Umsetzung in der Praxis.

Frank Gauls ist Diplom-Sozialarbeiter und Gesprächspsychotherapeut (GWG) sowie bundesweit tätiger Referent und Ausbilder in Personzentrierter Beratung; er ist auf die Arbeit mit Verhaltenssüchten spezialisiert und leitet die Ambulante Suchthilfe Bethel in Bielefeld.

Frank Gauls ist Diplom-Sozialarbeiter und Gesprächspsychotherapeut (GWG) sowie bundesweit tätiger Referent und Ausbilder in Personzentrierter Beratung; er ist auf die Arbeit mit Verhaltenssüchten spezialisiert und leitet die Ambulante Suchthilfe Bethel in Bielefeld.

Inhalt
Vorwort 7
Einleitung 9
1 Sucht 11
1.1 Definition und diagnostische Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1.2 Krankheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1.3 Sucht und Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
1.4 Sucht und Traumatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.5 Sucht und Männlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
2 Personzentriertes Verständnis von Suchterkrankungen . 25
2.1 Suchtdynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.2 Grundsätzliches zu Komorbidität , der Beschreibung des
Selbstkonzeptes und der Inkongruenzkonstellation . . . . . . . . . . . . . 29
3 Glücksspielsucht 30
3.1 Beschreibung des Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
3.2 Besondere Behandlungsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
3.3 Personzentriertes Krankheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
3.4 Personzentrierte Behandlung der Glücksspielsucht . . . . . . . . . . . . . 49
3.5 Fallvignette Herr V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
4 Internet-, Online- und Mediensucht 68
4.1 Beschreibung des Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4.2 Gaming, Streaming, Surfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
4.3 Personzentriertes Krankheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
4.4 Besondere Behandlungsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
4.5 Personzentrierte Behandlung des Gamens, Surfens und Streamens . 85
4.6 Fallvignette Herr C . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
5 Sexsucht . 102
5.1 Beschreibung des Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
5.2 Personzentriertes Krankheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
5.3 Besondere Behandlungsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
5.4 Personzentrierte Behandlung der Sexsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
5.5 Fallvignette Herr A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
6 Kaufsucht . 125
6.1 Beschreibung des Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
6.2 Personzentriertes Krankheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
6.3 Besondere Behandlungsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
6.4 Personzentrierte Behandlung der Kaufsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
6.5 Fallbeispiel Frau A . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
7 Gruppentherapie 145
7.1 Personzentrierte Gruppentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
7.2 Die unterschiedlichen Lebenswelten von Glücksspielsüchtigen
und Gamer:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Zum Schluss 152
Literatur . 153
Sachregister 158

1Sucht

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat den Begriff Sucht nur kurze Zeit genutzt und dann durch Missbrauch und Abhängigkeit ersetzt. Im deutschsprachigen Raum steht Sucht als gewachsener Begriff, der sich aus „siechen“, also an einer Krankheit leiden, ableitet. Damit verbunden ist die Kontrolle über ein Verhalten verloren zu haben und sich auf längere Zeit von diesem schädigenden Verhalten nicht distanzieren zu können. Der Begriff ist weiterhin weit verbreitet und wird synonym für Abhängigkeit (engl. addiction) verwendet. So sprechen wir von Suchtberatung und -behandlung, oder von Suchtberatungsstellen oder Fachstellen für Sucht oder Suchtprävention. Auch Fachorganisationen wie die Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e. V., die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. oder die Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin e. V. tragen den Suchtbegriff in ihren Bezeichnungen.

Sucht ist die umgangssprachliche Bezeichnung für die Abhängigkeit von einer bestimmten Substanz oder von bestimmten Verhaltensweisen und findet sich auch in der deutschen Übersetzung der ICD-11 im Begriff der Verhaltenssüchte wieder.

1.1Definition und diagnostische Kriterien

In der seit 2022 gültigen Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11) der WHO wird unter Suchterkrankungen folgendes verstanden:

„Störungen durch Substanzgebrauch oder Verhaltenssüchte sind psychische Störungen und Verhaltensstörungen, die sich infolge des Gebrauchs überwiegend psychoaktiver Substanzen, einschließlich Medikamenten, oder bestimmter sich wiederholender, belohnender und verstärkender Verhaltensweisen entwickeln“ (WHO, 2018).

In der ICD-11 werden somit erstmals neben den stoffgebundenen, auch stoff­ungebundene – sogenannte Verhaltenssüchte – in die Kategorie der Suchterkrankungen aufgenommen. Dabei sind bisher jedoch nur die Glücksspielsucht sowie das pathologische Spielen von digitalen oder Videospielen beschrieben, während in der Fachwelt auch andere suchtähnliche Verhaltensweisen zu den Verhaltenssüchten gezählt werden, wie z. B. die „Kaufsucht“, die „Sexsucht“, aber auch die „Sportsucht“ und die „Arbeitssucht“ (Roth 2004; Grüsser / Thalemann 2006; Hill et al. 2023; Bilke-Hentsch et.al. 2014; Müller et al. 2018).

Diagnostische Kriterien

Zu den diagnostischen Kriterien einer substanzgebundenen Sucht gehören:

  der starke Wunsch oder eine Art Zwang, eine Substanz zu konsumieren,

  die verminderte Kontrollfähigkeit bzgl. Beginn, Beendigung und Menge des Substanzkonsums,

  ein körperliches Entzugssyndrom,

  die Toleranzentwicklung, d. h. eine Dosiserhöhung ist notwendig, um die gewünschte Wirkung zu erreichen,

  fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums,

  erhöhter Zeitaufwand für den Substanzkonsum oder um sich von dessen Folgen zu erholen

  sowie ein anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweis schädlicher körperlicher, psychischer oder sozialer Folgen.

Dabei müssen mindestens drei Kriterien über den Zeitraum von einem Jahr erfüllt sein.

Ähnliche Kriterien finden sich bei der Glücksspielsucht sowie dem pathologischen Spielen (Kap. 3 bzw. 4). Überschneidungen bestehen bei der Beeinträchtigung der Kontrolle, der zunehmenden Priorisierung auf das süchtige Verhalten sowie der Fortführung des Verhaltens trotz negativer Folgen. Auch wenn das pathologische Kaufen sowie das hypersexuelle Verlangen in der ICD-11 nicht als Sucht klassifiziert wurden, so lassen sich doch nahezu dieselben Verhaltensmuster und Folgen für die Betroffenen beschreiben (Kap. 5, Kap. 6).

Ich beziehe mich auf die Suchtdefinition von Wanke (1985), der Sucht als ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand beschreibt, dem die Kräfte des Verstandes untergeordnet werden. Dies führt nicht nur zur Beeinträchtigung der freien Entfaltung einer Persönlichkeit, sondern es zerstört auch die sozialen Bindungen und die sozialen Chancen des Betroffenen (Warnke 1985). Diesem Verlangen liegt ein ausweichendes Verhalten zugrunde, mit dem die Betroffenen unangenehmen und scheinbar nicht lösbaren oder auch unerträglichen Konflikten, Situationen sowie Personen aus dem Weg gehen (Tölle 1985; Harten 1988).

Harten definiert Drogen im engeren Sinne, womit eine Substanz gemeint ist, die auf den Organismus einwirkt und diesen beeinflusst (berauscht) und im weiteren Sinne, als jedes personale und apersonale Mittel, mit dem „Verhaltens-, Gemüts- und / oder körperliche Veränderungen erzielt werden können“, die als positiv oder auch berauschend empfunden werden (Harten 1988, 18).

Diesen Definitionen folgend, lassen sich auch das hypersexuelle Verlangen, der exzessive Pornokonsum sowie das pathologische Kaufen und weitere Verhaltensmuster als Sucht oder zumindest suchtähnliche Verhaltensweisen verstehen. Dies bestätigt auch folgende Definition von Sucht der Amerikanischen Gesellschaft für Suchtmedizin:

„Sucht ist eine grundlegende und dauerhafte Erkrankung des Gehirns, insbesondere der Belohnungs-, Motivations- und Erinnerungszentren und benachbarter Kreisläufe. Sucht beeinflusst die Neurotransmitter und spezielle Vorgänge im Gehirn, vor allem der Belohnungsstrukturen dergestalt, dass die Erinnerung an vorangegangene Belohnungen zu überstarken körperlichen und psychischen Reaktionen [führt], wie Suchtverlangen oder den unabweislichen Drang, ein bestimmtes Verhalten – auch angesichts negativer Auswirkungen – auszuführen“. (Gerlach 2018, 66, Originaltext: https://www.asam.org/quality-care/definition-of-addiction, 20.04.2024).

1.2Krankheitsverständnis

Das Suchtdreieck nach Kielholz und Ladewig

Zur Erklärung von Suchterkrankungen wird ein biopsychosoziales Krankheitsmodell herangezogen, das auch als Suchtdreieck bekannt ist, ursprünglich von Kielholz und Ladewig (1972) entwickelt wurde und aus den drei Ms Mensch, Milieu und Mittel besteht. Es wurde später von Feuerlein modifiziert, der statt der drei Ms die Begriffe Persönlichkeit, Umwelt und Droge verwendete (Feuerlein 1986; Böning 2017).

Grundannahme ist, dass süchtiges Verhalten multifaktoriell und multiperspektivisch verstanden werden muss. Im Zusammenspiel der biologischen, psychologischen oder sozialen Faktoren entsteht süchtiges Verhalten bzw. wird dadurch aufrechterhalten. Zur Persönlichkeit gehören z. B. Alter, Geschlecht, persönliche Konstitution, frühkindliche Entwicklung, Stress­bewältigungs­strategien, Auseinandersetzungs- und Konfliktfähigkeit, Selbstwertgefühl, der Umgang mit Gefühlen, aber auch die Einstellung zum Suchtmittel / süchtigen Verhalten. Zur Droge gehören u. a. deren Wirkung, die Konsumdauer sowie die Konsumhäufigkeit. Zum Umfeld gehören u. a. die Peergroup, Freund:innen, Familie, Einstellung der Gesellschaft zum Suchtmittel / süchtigen Verhalten, aber auch die Verfügbarkeit (was in manchen Modellen mit der weiteren Variable des Marktes beschrieben wird). Bei der Genese sind dementsprechend alle drei Faktoren zu berücksichtigen.

Abb. 1.1: Suchtdreieck nach Kielholz / Ladewig (Böning 2017)

Das biopsychosoziale Modell von Gesundheit und Krankheit von Engel

Auch das „biopsychosoziale Modell von Gesundheit und Krankheit“ des amerikanischen Internisten und Psychiaters George L. Engel (1977) geht von einem integrativen Ansatz aus, der Krankheit als Störung der Interaktion von körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren versteht. Biologische, psychische und soziale Faktoren stehen demnach in Wechselbeziehungen zueinander, was von Bedeutung für die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten ist. Hieraus leitet sich die Notwendigkeit ab, bei der Diagnostik, Behandlung und Rehabilitation von Krankheiten alle drei Faktoren einzubeziehen (Pauls 2013).

Das biopsychosoziale Modell der WHO, wie es in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health – ICF) beschrieben wird, geht dabei noch weiter.

Abb. 1.2: Das biopsychosoziale Modell der Komponenten der Gesundheit

Basierend auf der Trias Krankheit (statt Droge bzw. Mittel), umwelt- und personenbezogenen Faktoren wird dabei davon ausgegangen, dass diese auf die Körperfunktionen und -strukturen, die Aktivitäten und die Teilhabe (Partizipation) einwirken.

In...

Erscheint lt. Verlag 28.10.2024
Reihe/Serie Personzentrierte Beratung & Therapie
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Sucht / Drogen
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Beratung • Gambling • Gaming • Glücksspielsucht • hypersexuelles Verlangen • internetbezogene Störungen • Internetsucht • Kaufsucht • Medienkonsum • nichtstoffgebundene Süchte • Online-Rollenspiel • Pornokonsum • Pornosucht • Sexsucht
ISBN-10 3-497-61940-X / 349761940X
ISBN-13 978-3-497-61940-5 / 9783497619405
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