Gefühlserben (eBook)
264 Seiten
Vandenhoeck und Ruprecht (Verlag)
978-3-647-99292-1 (ISBN)
Sven Rohde, 1961 in Hamburg geboren, ist Absolvent der Henri-Nannen-Schule und schrieb viele Jahre für Magazine wie »stern«, »stern Gesund Leben« und »Psychologie Heute«. Von 2015 bis 2016 absolvierte er eine Ausbildung zum Coach im Umfeld der renommierten Heiligenfeld-Kliniken. Eine Fortbildung zum Heilpraktiker Psychotherapie folgte. Ausgelöst durch die Beschäftigung mit dem Kriegserbe seiner eigenen Familie erarbeitete er sich den Themenkomplex Gefühlserbschaften, gibt seit 2018 Workshops dazu und veröffentlicht den Podcast »Gefühlserben«.
Sven Rohde, 1961 in Hamburg geboren, ist Absolvent der Henri-Nannen-Schule und schrieb viele Jahre für Magazine wie »stern«, »stern Gesund Leben« und »Psychologie Heute«. Von 2015 bis 2016 absolvierte er eine Ausbildung zum Coach im Umfeld der renommierten Heiligenfeld-Kliniken. Eine Fortbildung zum Heilpraktiker Psychotherapie folgte. Ausgelöst durch die Beschäftigung mit dem Kriegserbe seiner eigenen Familie erarbeitete er sich den Themenkomplex Gefühlserbschaften, gibt seit 2018 Workshops dazu und veröffentlicht den Podcast »Gefühlserben«.
Das Gefühlserbe in unserem Leben
Rätselhaftes Erleben
Das Unbewusste im Alltag
Castings sind für viele Schauspieler:innen der pure Stress. Hier entscheidet sich, ob sie in der kommenden Zeit Arbeit haben, wie viel sie verdienen werden, wie sich ihre Karriere weiterentwickelt, ob sie auf dem Weg, irgendwann keine Castings mehr zu benötigen, einen nächsten Schritt gehen können. Entsprechend gut sind die meisten vorbereitet, kennen ihren Text, sind emotional präpariert, um dann in einer kurzen Zeitspanne die beste Version von sich selbst zu präsentieren. Von einem solchen Casting berichtete mir eine Klientin, längst etabliert, aber dennoch nicht dort angekommen, wo sie ihr Potenzial als Schauspielerin ausgeschöpft sah. Noch auf der Treppe zum Studio hatte sie sich gut gefühlt, oben einige Kolleg:innen begrüßt, um nun fokussiert auf alles Weitere zu warten. Aber dann ging die Tür auf, ein hochgewachsener Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen betrat den Raum, ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen – und die eben noch selbstbewusste Frau, die sich gut vorbereitet glaubte, sackte innerlich zusammen. Mit großer Kraftanstrengung wahrte sie ihre Fassung. Auf einer Skala des Selbstbewusstseins von 1 bis 10 sei sie in Sekunden von 8 auf 1 gerutscht, berichtete sie mir. Die Rolle bekam eine Mitbewerberin.
Was war passiert? Ganz offenbar hatte die schneidige Ausstrahlung des Schauspielkollegen ihr den inneren Halt genommen. Die Fassungslosigkeit über dieses Erleben stand ihr immer noch im Gesicht, als wir die Situation bearbeiteten. Sie kenne das aus früheren Castings und Dreharbeiten, habe das aber ihrer damaligen Unerfahrenheit zugeschrieben. Heute, fast zehn Jahre später und mit einer respektablen Liste von Referenzen, erschien ihr ihre Reaktion ebenso rätselhaft wie verstörend. Noch tagelang habe sie sich danach kraftlos und deprimiert gefühlt.
Die Übung, zu der ich sie einlud, verbindet die Wahrnehmung von Körperempfindungen und von ihnen ausgelösten inneren Bildern. Im Verlauf tauchte eine dystopische Ruinenlandschaft auf, nichts, was die 1987 geborene Frau schon einmal selbst erlebt hatte. Sehr wohl aber ihr Vater, kurz nach dem Krieg im zerstörten Berlin geboren und aufgewachsen. Die Erinnerung an eine seiner raren Erzählungen über die Nachkriegszeit führte dann zur Erklärung für das seltsame Kollabieren während des Castings: Der Vater hatte als Kind und Jugendlicher mehrfach demütigende Erfahrungen mit Offizieren der Besatzungsmächte gemacht. Das schneidige Auftreten des Kollegen beim Casting hatte dieses Gefühlserbe in der Tochter wachgerufen. Und das, obwohl sie sich kaum je für die Erlebnisse ihres Vaters in der Berliner Nachkriegszeit interessiert hatte.
In seinem Roman »Eurotrash« bringt der Schriftsteller Christian Kracht das Prinzip der transgenerationalen Übertragungen plakativ auf den Punkt: »Was nicht ins Bewusstsein steigt, kommt als Schicksal zurück« (Kracht, 2021, S. 36). Und dafür, was dann passiert, hat der Psychoanalyseforscher Stephen Frosh ein treffendes Bild gezeichnet: »Wenn das Unbewusste existiert, dann wird es, ganz gleich, was wir sagen, um ihm auszuweichen, immer zu uns zurückkehren […] Dinge, die von früheren Geschehnissen übriggeblieben sind oder aus der bewussten Anerkennung ausgeschlossen wurden. Es sind die randständigen Dinge, die uns von der Seitenlinie und aus den Tiefen anspringen und uns verfolgen, während wir unser vermeintlich normales Leben führen« (zit. nach Frie, 2021, S. 86). Tatsächlich erlebte die Klientin ihr Verhalten in der Castingsituation als schicksalhaft, als eine empfindliche Störung aus der Tiefe. Im neu gewonnenen Bewusstsein, eine fast 70 Jahre zurückliegende Erfahrung ihres Vaters zu reinszenieren, entstand ein völlig neuer Blick auf die Situation. Und damit die Möglichkeit, die hochmütige Attitüde von Kollegen einfach ins Leere laufen zu lassen.
So erleichternd Erkenntnisse wie diese für Menschen sein können: Sie sind immer wieder von Skepsis, Zweifeln, ja Abwehr begleitet. Kann das wirklich sein? Sind, wie in dieser Geschichte, die demütigenden Erfahrungen des Vaters ursächlich für das Scheitern der Tochter – und das in einer völlig anderen Situation? Oder ist es vielmehr »verweichlichtes Getue«, das von eigener Unfähigkeit ablenken soll? So wurde es mir von einem Leser anlässlich einer Zeitungsveröffentlichung über transgenerationale Traumata vorgehalten. Wer für eine Aufgabe zu blöd oder zu schwach sei, stilisiere sich eben zum Opfer und schiebe alles auf die Eltern. Mit dieser Polemik, aus der Wissenschaftsfeindlichkeit klingt, muss umgehen lernen, wer öffentlich über diese Themen spricht.
Ein Gefühlserbe liegt nahe, wenn für die erlebte Reaktion – wie im gerade beschriebenen Fall ein inneres Zusammensacken – in der eigenen Biografie oder in der aktuellen Situation keine Ursache zu finden ist. Tatsächlich ist aber ein Beweis, wie sich transgenerationale Übertragung konkret ausgestaltet, nur schwer zu führen. Dazu sind die Faktoren zu individuell, ebenso das traumatische Erleben selbst. Wenn wir Zusammenhänge wie diese aufdecken, dann sprechen wir nicht über Gesetzmäßigkeiten, sondern über Wahrscheinlichkeiten und Plausibilitäten. Es gibt keinen Determinismus. Weder muss das Erleben potenziell traumatisierender Erfahrungen bei jedem Menschen tatsächlich zu einem Trauma führen noch werden Traumata zwangsläufig an zukünftige Generationen übertragen. Aber wenn es eben doch geschehen ist und wir einen Widerschein in schicksalhaft erlebten Situationen von Kindern oder Enkeln beobachten, liegt es nahe, hier genauer hinzuschauen. Angesichts einer Vielzahl von Studien aus unterschiedlichen Fachrichtungen können wir eben doch aus dem individuellen Erleben auf den größeren Zusammenhang schließen und eine sehr persönliche Botschaft formulieren: »Was du erlebst und worunter du leidest, ist nicht deins. Du reinszenierst, was das Leben deiner Vorfahren bestimmt hat.«
Wie sich die Erfahrungen voriger Generationen auf zukünftige übertragen: Das ist Inhalt dieses Kapitels. Es geht dabei sowohl um die Wege der Übertragung, die Gefühlserbschaften selbst als auch um die Bereiche unseres Lebens, in denen sich ihre Wirkungen zeigen:
–in der Psyche,
–im Körper,
–in Beziehungen,
–im Lebensweg.
Naturgemäß lässt sich das nicht trennscharf voneinander abgrenzen. Das wird schon an der Geschichte der Schauspielerin deutlich. Der Kontakt mit dem Kollegen löste zunächst ein inneres Kollabieren aus, also ein psychisches Erleben. Er aktivierte Selbstzweifel, minderte zumindest vorübergehend das Selbstwertgefühl und rief eine Angst vor zukünftigen Castings und Dreharbeiten hervor. Die körperlichen Auswirkungen waren in Form von Kraft- und Antriebslosigkeit noch Tage danach spürbar. In die Beziehung zu anderen Menschen trug das Erleben dieses Typus »schneidiger Mann« eine Unsicherheit und potenzielle Unterlegenheit hinein, auch ein Widerschein der instabilen Persönlichkeit des Vaters. Und dass ein verpatztes Casting sich negativ auf die Schauspielkarriere auswirken kann, liegt auf der Hand.
Der Ausdruck, den sich Erfahrungen früherer Generationen im Denken, Fühlen und Handeln ihrer Nachfahren suchen, kann typischen Mustern folgen oder sich individuell ausprägen. Aber es gibt eine Faustregel: Je dramatischer der Auslöser, umso dramatischer seine späteren Folgen.
Epigenetik & Co.
Die Wege transgenerationaler Übertragungen
»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm« – diese Redewendung ist uns vertraut. Wir erkennen in der Tochter die Mutter, im Sohn den Vater oder auch in allen vieren die Großeltern. Auf Fotos suchen wir mit Neugier und Vergnügen die Familienähnlichkeit und forschen in Lebensläufen oder Karrieren nach den Analogien. Nicht selten werden wir fündig und sagen dann »ganz der Vater, die Mutter, die Oma«. Je nach Betonung kann sich darin Anerkennung oder Abwertung ausdrücken, Letzteres gern auch in dieser Formulierung: »Du bist genau wie dein Vater!« Dass es in Familien Traditionen gibt, Eigenschaften, die übereinstimmen, Talente und berufliche Neigungen, die sich über mehrere Generationen erhalten, ist eine Alltagserfahrung. Die sozialwissenschaftliche Forschung belegt seit Jahrzehnten Zusammenhänge zwischen den Sozial-, Erziehungs-, Verhaltens- und Wirtschaftsparametern von Eltern und Kindern. Und natürlich erleben wir darin das Phänomen transgenerationaler Übertragung.
Und doch ist die Entwicklung der Psyche eines Menschen nicht einfach das Ergebnis dieser Übertragungen. Tatsächlich ist sie nichts weniger als ein Wunder. Wie sich unser Wesen ausbildet, unsere Fähigkeit zur Kommunikation, zur Interaktion, zur Selbstregulation, später zum Umgang mit Konflikten,...
Erscheint lt. Verlag | 9.9.2024 |
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Zusatzinfo | inkl. Onlinematerial |
Verlagsort | Göttingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Coaching • familiäre Herkunft • Familie • Familiengeheimnis • Familiengeschichte • Familientrauma • Gefühlserbe • Gefühlserbschaft • Generationen • Kriegsenkel • Kriegserfahrung • Kriegskinder • Kriegstrauma • Kriegsurenkel • psychische Last • Resilienz • Ressourcen • Systemische Beratung • Systemische Therapie • Systemische Therapie und Beratung • Transgenerationale Weitergabe • Transgenerationalität • transgenerationelle Weitergabe • Traumatisierung |
ISBN-10 | 3-647-99292-5 / 3647992925 |
ISBN-13 | 978-3-647-99292-1 / 9783647992921 |
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