Improvisieren (eBook)
152 Seiten
Vandenhoeck und Ruprecht (Verlag)
978-3-647-99297-6 (ISBN)
Dr. Bertram J. Schirr ist Pfarrer der ev. Kirchengemeinde Alt-Tempelhof und Michael sowie Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule Berlin. Er ist außerdem als Autor für die Reihe 'Gottesdienstpraxis', die 'Homiletischen Monatshefte', den Rundfunkdienst der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg- schlesische Oberlausitz (EKBO) tätig. Zudem ist er Mitglied der Societas Liturgica und des Congregational Music Network.
Dr. Bertram J. Schirr ist Pfarrer der ev. Kirchengemeinde Alt-Tempelhof und Michael sowie Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule Berlin. Er ist außerdem als Autor für die Reihe "Gottesdienstpraxis", die "Homiletischen Monatshefte", den Rundfunkdienst der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg- schlesische Oberlausitz (EKBO) tätig. Zudem ist er Mitglied der Societas Liturgica und des Congregational Music Network.
2Praktisch-theologisches Update – neue Ansätze und Aufbrüche
2.1Theatrales Improvisieren
Theatrale Improvisation hat das Potenzial, interaktive Spielräume in kirchlicher Arbeit aufzutun und programmatisch zu erweitern. Sie entwickelt Zwischenräume in Texten, Strukturen und Mauerwerken, in denen geübte Praktiker:innen souverän und lustvoll Unvorhersehbares erwarten und experimentieren. Theatrale Improvisation sorgt dafür, dass jede und jeder mitmachen kann und sich wohlfühlt. Die Einsichten und Methoden theatraler Improvisation trainieren die komplexe Wahrnehmung von Dingen, der Umgebung, von Mit-Agierenden genauso wie die Selbstwahrnehmung, fördern Partizipation, Kooperation und Vertrauen in das Mitwirken auch von unvorhersehbaren Kräften.
In der englischsprachigen Theologie wird primär theatrale Improvisation rezipiert, allem voran in der Schule von Keith Johnstone und Viola Spolin. Wenig rezipiert wird Gary Izzo, dessen Ansatz Beteiligung aber besonders fördern kann.
Keith Johnstone, Vater des Impro-Theaters
Keith Johnstone ist neben Viola Spolin und Gary Izzo der wichtigste Praktiker und Theoretiker der theatralen Improvisation. Einige der von Johnstone (1987) erarbeiteten Regeln (siehe auch → Kapitel 8, Glossar), stelle ich als Bausteine für die Praxis der Lesenden vor und verbinde sie mit ersten Rezeptionsmöglichkeiten. Zusammengebaute Ansätze für verschiedene Arbeitsbereiche bietet Kapitel 4.
Improvisieren ist Statusbearbeitung
Johnstones wichtigste Entdeckung ist der Zusammenhang von sozialer Interaktion und dem konstruierten Status der Agierenden. Jede Bewegung und jeder Tonfall ist mit einem Status verbunden. In jedem Moment passen Menschen ihren Status der Situation ein bisschen an, erhöhen oder erniedrigen ihn.
Hohen Status übt aus, wer sich langsam und konzentriert bewegt, den Kopf stillhält und den Blick einer anderen Person halten kann. Auf diese Weise etabliert man performativ Dominanz. Mit einem hohen Status gibt eine Person zu erkennen: »Komm mir nicht zu nah, ich beiße!« Mit niedrigem Status sagt sie: »Komm mir nicht zu nahe, ich bin es nicht wert.«
Status ist territorial. Wer viel Raum einnimmt, sich souverän darin bewegt, den eigenen Raum so weit ausdehnt, dass sich damit die Grenzen der anderen verschieben, genießt hohen Status. Das Knie zu beugen oder Prostration sind ritualisierte Wege, den eigenen Status zu erniedrigen, indem man seinen Verfügungsraum verkleinert. Wer einen Körper daran hindert, sich abzuwenden und den eigenen Raum zu definieren, zwingt ihm einen niedrigen Status auf. Johnstone (1987) nennt Jesu Kreuzigung (59) als Beispiel für den Verlust von räumlicher Selbstbestimmung oder Verdeckung. Das Gegenteil von fixierter Kreuzigung oder embryonaler Verteidigungsstellung ist die freie Cherub-Haltung: Alle Ebenen des Körpers werden aktiviert, der Kopf bewegt sich nach oben, der Hals liegt frei. Die Schultern werden nach hinten gezogen. Menschen mit hohem Status haben die Position und Haltung von Engeln.
Statuswechsel fördern Interaktion und Beteiligung. Menschen lieben es, wenn jemand einen hohen Status verliert. Johnstone vergleicht Improvisation und Opferrituale: In der Interaktion vollzieht sich ein Statuswechsel, besonders intensiv etwa bei gespielter Statuserhöhung verbunden mit tatsächlicher Erniedrigung wie beim Pflegen eines Sündenbocks oder der »Krönung« von Jesus Christus mit Dornen.
Wenn wir den Status wechseln, fühlen wir uns verwundbar. Die Aufgabe von Improvisation ebenso wie von Ritualen ist es, einen Wechsel des Status über unsichere Schwellen zu erreichen und abzusichern. Improvisation ist wesentlich durch ein Spiel mit Status und dessen Wechseln bestimmt.
Mit dem Impro-Konzept Status können kirchlich Improvisierende verstehen, dass Interaktion immer körperlich mit Machtgerangel, -verhandlungen und Ansprüchen auf Raum verbunden ist. Eine Umkehr der Rollen – biblisch begründet mit »die Letzten werden die Ersten sein« (Mt 19,30, Lk 6,20–26) – wie das Abgeben von Deutungs- und Gestaltungsmacht kann als Katalysator für kirchliches Arbeiten dienen, und helfen, spielerisch das Reich Gottes einzuüben. Wer live und nachvollziehbar aus der Rolle des/der Anleiter:in, Kooperationspartner:in, Seelsorger:in heraustritt, vom Lehrenden zum Unwissenden und Fragenden wird etc., fördert Interaktion, Beteiligung und Bedeutungsreichtum. (Für eine kybernetische Ausformulierung vgl. Greenleaf 1970.)
Übung: Auf Verteidigung verzichten
Die Übung könnte auch »Unterwerfung« heißen. Zwei Personen stehen einander gegenüber. Eine macht Bewegungen vor, die andere macht sie nach. Jedes Mal, wenn die erste versucht, den eigenen Status zu erniedrigen, geht die zweite verstärkt mit und macht sich so klein wie möglich. Dann wechseln beide.
Sobald diese Methode eingeübt wurde, kann sie umgedreht werden: Jede Erhöhung, als ein körperliches oder verbal ausgedrücktes Angebot, wird angenommen und verstärkt. Auch sehr kleine Statusveränderungen werden so sichtbarer.
Sei nicht originell! Spontaneität vs. Creatio ex nihilo
Wer improvisiert, tut dies gegen die eigene Erziehung (Johnstone 1987, 77). Mit dem Grundsatz »Sei nicht originell« ist der Wettbewerbscharakter der schulischen Benotung, der Beurteilung von außen angegriffen. Improvisation fördert (wie Comedy) subversive, sexuelle oder egoistische Inhalte zutage, die in der Schule unterdrückt werden, und führt in sonst blockierte Bereiche von Kontingenz und Tabu.
Wer improvisiert, muss lernen, dass je schneller, unreflektierter und unbeschützter, naheliegender und offensichtlicher er oder sie agiert, es als umso origineller (und potenziell riskanter) wahrgenommen wird. Der erste Gedanke, der kommt, muss akzeptiert werden. Was lange überlegt und zum Beispiel als geschickte Provokation vorgeplant wird, ist inhaltlich dann doch meist sehr gewöhnlich und langweilig. Wirklich subversiv oder kreativ ist das Ungefilterte und Situative. Das tatsächlich Originelle stellt sich ein, ich kann es nicht produzieren. Solche Gedanken tragen nichts zum Ablauf bei, stiften keine Kooperation, sondern wollen nur das Ich in einem besseren Licht erscheinen lassen.
Praktiker:innen sind für Johnstone (1987) nicht aus sich selbst heraus Neues Schaffende, sondern »Diener Gottes« (78). Durch sie fließt etwas hindurch, das ihnen Handlungsmacht verleiht und das sie wie ein Schwamm aufnehmen. Improvisieren ist insofern eine passiv-rezeptive Tätigkeit und zugleich ein aktives Fließen-Lassen, für das kritisches Beschauen und Zensieren abtrainiert werden müssen.
»Ja-und«
Improvisation lebt von angenommenen Angeboten, nach der Impro-Grundregel »Ja-und«.
Es gibt Menschen, die sagen lieber ja, und es gibt Menschen, die sagen lieber nein. Solche, die ja sagen, bekommen als Belohnung die Abenteuer, die sie erleben, und die, die nein sagen, bekommen als Belohnung die Sicherheit, die sie dadurch erreichen. (Johnstone 1987, 92)
Improvisierende sagen »ja« zu anderen, zu anderem und zu sich selbst. Sie akzeptieren, dass Dinge im Fluss sind, nehmen ihr Ego zurück, kooperieren. Sie blockieren Impulse nicht, um den eigenen Status zu sichern oder Gefahren zu vermeiden.
Blockieren ist eine Form der Aggression. Unerfahrene Improvisierende blockieren einander ständig. Wenn ich unsicher bin, sage ich lieber: »Nein!« Praktiker:innen sind darauf trainiert, Handeln und Handlungen zu unterdrücken. Wenn es gelingt, diesen erworbenen Impuls umzukehren, hat man fähige Improvisierende, so Johnstone.
Praktisch-theologisch: »Ja-und« ist die Poesie des Möglichen. Elohim-Gott sagt »Ja-und« zu dem, was er an Tohuwabohu vorfindet (Gen 1). Ja-und ist die performative Kraft des Segnens, des Gut-Sagens (Benediktion), nie die Balance des Bestehenden, sondern ein Aufschwingen zum Reich Gottes hin. Ja-und ist angewandte Rechtfertigungslehre.
Angebote und Überakzeptieren
Johnstone (1987) nennt alles, was ein:e Akteur:in mit anderen tut, ein »Angebot« (offer). Szenen, Abläufe, Pläne generieren sich »spontan selbst, wenn Akteur:innen abwechselnd anbieten und akzeptieren«. Sobald man Angebote zu akzeptieren lernt, gibt es keine Unfälle mehr, die einen Ablauf verhindern (97–99). Und auch die Gefahr, »des Guten zuviel« zu tun, besteht nicht: Die Technik des Überakzeptierens blockiert ein Angebot nicht und geht auch nicht direkt darauf ein, sondern reagiert mit maximal positivem Effekt, verändert den Rahmen gemäß dem Angebot. Überakzeptieren vertieft den Impuls, macht ihn zum Thema, verschafft ihm Raum; es verändert alles.
Übung:...
Erscheint lt. Verlag | 9.9.2024 |
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Reihe/Serie | Praktische Theologie konkret |
Mitarbeit |
Herausgeber (Serie): Hans-Martin Lübking, Bernd Schröder |
Zusatzinfo | mit 4 Tab. |
Verlagsort | Göttingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Christentum |
Schlagworte | Bibelauslegung • Gemeindepädagogik • Gottesdienst • Homiletik • Improvisation • Leiten • Musik • Predigt • Religionspädagogik • Ritualtheorie • Seelsorge |
ISBN-10 | 3-647-99297-6 / 3647992976 |
ISBN-13 | 978-3-647-99297-6 / 9783647992976 |
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Größe: 380 KB
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