Aus Brüchen Brücken bauen (eBook)
138 Seiten
Vandenhoeck und Ruprecht (Verlag)
978-3-647-99295-2 (ISBN)
Kirsten Patricia Häusler ist Diplom-Musikpädagogin, Konzertpianistin, Kirchenmusikerin, Prädikantin der Evangelischen Kirche in Baden, zertifizierte Trauerrednerin sowie ausgebildete Trauerbegleiterin mit Großer Basisqualifikation und Mitglied im Bundesverband Trauerbegleitung e. V. (BVT).
Kirsten Patricia Häusler ist Diplom-Musikpädagogin, Konzertpianistin, Kirchenmusikerin, Prädikantin der Evangelischen Kirche in Baden, zertifizierte Trauerrednerin sowie ausgebildete Trauerbegleiterin mit Großer Basisqualifikation und Mitglied im Bundesverband Trauerbegleitung e. V. (BVT).
2Ab-Gründe: »Und plötzlich ist alles anders«
Vorüberlegungen: Erschwerte Trauer – Eine Bergtour mit Hindernissen
Willi Butollo und Gabriele Pfoh definieren das Phänomen der sozial aberkannten Trauer als »eine Form der Trauer […], die in der Gesellschaft keine Anerkennung findet. Oft ist sie mit schuld- oder schambesetzten Beziehungen verbunden. Oder es sind moralische Vorstellungen daran geknüpft und Trauernde meinen, dass ihnen die Trauer […] nicht ›zusteht‹. Das […] berichten etwa Frauen, die sich für eine Abtreibung entschlossen hatten und um ihr ungeborenes Kind trauern« (Butollo u. Pfoh, 2016, S. 88).
Kenneth Doka benutzt im Zusammenhang mit sozial aberkannter Trauer den noch eindringlicheren Begriff der entrechteten Trauer und fasst deren Dilemma so zusammen: »Das Problem entrechteter Trauer kann in einem Paradoxon ausgedrückt werden: Die Natur der Entrechtung erschwert die Trauer, wobei gleichzeitig mögliche Quellen von Hilfe und Unterstützung minimiert werden« (Doka, 2014, S. 8).
Der Weg durch die erschwerte Trauer lässt sich mit einer Bergtour vergleichen, bei der besonders schwere Steine im Rucksack jeden Schritt belasten. Einige solcher Steine können zu Felsbrocken werden. Das ist insbesondere der Fall, wenn Schuldgefühle und Scham das Zulassen von Trauer blockieren.
Die eigene (Mit-)Verantwortung am eingetretenen Trauerfall bei einem Schwangerschaftsabbruch kann emotional zu einer Quadratur des Kreises führen. Darf eine Frau trauern, die sich, vordergründig betrachtet, selbst dazu entschieden hat, dass ihr Kind nicht geboren wird? Wie kann eine Betroffene ihre Trauer leben, wenn sie keinen Ort des Gedenkens hat und auch keine Abschiedsrituale? Wenn Erinnerungen an die gemeinsame kurze Zeit hauptsächlich Erinnerungen an einen schweren inneren Kampf sind mit einer Entscheidung, die sie an den Rand ihrer Kräfte brachte?
Wie kann um ungelebtes Leben getrauert werden? Was hilft einer Trauernden, zu begreifen, was sie verlor, wenn kein persönliches Abschiednehmen möglich war? Wie kann sie um ein Kind trauern, von dem das einzige Bild eine unscharfe Ultraschallaufnahme ist? Um ein namenloses Kind, von dem nicht einmal das Geschlecht bekannt war und das sie nicht kennenlernte, obwohl sie es sich unter Umständen sogar gewünscht hatte und es ihr körperlich und in vielen Fällen auch in der emotionalen Wahrnehmung einige Wochen lang näher war als jeder andere Mensch? Solche Gedanken können zu Grübelschleifen führen, in denen Betroffene sich verheddern und durch die sie immer wieder in tiefe Täler der Selbstvorwürfe zurück- oder sogar umgeworfen werden.
Dabei stellt der Verlust eines Kindes per se schon einen erschwerten Trauerfall dar. Natürliche Lebensgesetze werden dabei auf den Kopf gestellt: Kinder sollten nicht vor ihren Eltern sterben. Kinder sollten das Leben noch vor sich haben. Wer selbst entschied, dass das eigene Kind kein Leben auf der Erde haben wird, für den ist es eine große Herausforderung, sich überhaupt zu erlauben, um dieses Kind zu weinen. Schuldgefühle und Scham führen nach einem Schwangerschaftsabbruch außerdem oft dazu, dass Betroffene die Bergtour Trauer ohne unterstützende Seilschaft antreten müssen: Sie schweigen über ihre Erfahrung aus Angst vor Verurteilung, Ablehnung und Unverständnis oder auch aus dem berechtigten Empfinden heraus, dass ihre Entscheidung zutiefst persönlich ist.
Und so bleiben viele Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch mit ihrer Trauer allein. Es fehlt ihnen eine Solidargemeinschaft. Jede Trauergemeinschaft ist jedoch zugleich eine Trostgemeinschaft. Wer mit einem Trauerfall allein gelassen ist, dem fehlen Anteilnahme und Mitgefühl. Sofern Trauer nach einem Schwangerschaftsabbruch nach außen kommuniziert wird, wird sie schnell von einer erschwerten zur sozial aberkannten Trauer.
Sätze wie »Du hast es doch selbst so gewollt« oder »Es war doch noch gar kein richtiges Kind. Also worum willst du trauern?« sprechen den Frauen jegliches Recht auf Trauer ab. Häufig verbieten sich Betroffene ihre Trauer auch selbst mit solchen Gedanken. Zuweilen bricht die Trauer erst Jahre später auf, ausgelöst durch Trigger wie die Geburt anderer Kinder, einen weiteren Schwangerschaftskonflikt in der Familie, eine bedrohliche Krankheit oder sonstige Lebenskrisen. Dann wird die erschwerte und sozial aberkannte Trauer zusätzlich zur zeitverzögerten Trauer, was wiederum spezielle Herausforderungen mit sich bringt.
Zu Recht lässt sich Trauer nach einer Abtreibung zusammenfassend als eine von hohen Felswänden geprägte Bergtour und steile Kletterpartie bezeichnen. Die schweren Steine im Rucksack können nur langsam ausgeräumt werden, in der Hoffnung, dass darunter stärkende Ressourcen wie in früheren Lebenssituationen erprobte Strategien zum Umgang mit Abschied und Verlust auffindbar sind.
Was brauchen Betroffene an Proviant, um den steilen Bergaufstieg ohne Seilschaft zu schaffen? Was hilft ihnen über den Berg ihrer Wanderroute durch die Trauer hinweg? Diesen Fragen gehe ich später auf den Grund. Zunächst sollen einige Betroffene zu Wort kommen.
Fallbeispiele
»Nicht, was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.«
(Marie von Ebner-Eschenbach)
Die folgenden Fallbeispiele veranschaulichen das Dilemma, in dem sich Betroffene befinden, wenn ein Schwangerschaftsabbruch in ihnen Trauer auslöst.
Ich lasse die Berichte zunächst unkommentiert so stehen, um die Erfahrungen für sich sprechen zu lassen. Dabei habe ich mich entschieden, den Fokus auf Frühabtreibungen zu legen, die nicht aus medizinischen Gründen vorgenommen werden. Der Bereich der Spätabtreibungen nach medizinischer Indikation, der eng verquickt ist mit dem Themenfeld der Pränataldiagnostik, birgt zusätzliche Fragen und Herausforderungen, die den Rahmen dieses Buches sprengen und einer eigenen Betrachtung würdig wären. Der Vollständigkeit halber möchte ich an dieser Stelle festhalten, dass es auch etliche Menschen gibt, die eine Abtreibung weniger dramatisch erleben als in den Fallbeispielen geschildert und mehr oder weniger gut damit zurechtkommen. Deren Erfahrungen sind nicht Thema dieses Buches und werden deshalb nicht gesondert von mir betrachtet. Gerade denjenigen aber, die unter Trauer nach einem Schwangerschaftsabbruch leiden, möchte ich eine Stimme geben. Denn sie werden in der Debatte um das Abtreibungsrecht und in der Trauerbegleitung zumeist übergangen. Wichtig ist mir, dass das Aufzeigen möglicher psychosozialer Folgen einer Abtreibung nicht wertend verstanden wird. Im Klartext: Ich grenze mich explizit von Abtreibungsgegnern und evangelikalen Stimmen ab, die Trauer und Schmerz nach einem Schwangerschaftsabbruch als Strafe verstehen.
Es soll in diesem Buch mitnichten um moralisches Verurteilen gehen. Denn aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer allein schon der Weg hin zu der Entscheidung für eine Abtreibung ist, dass diese alles andere als leichtfertig gefällt wird und dass es Menschen, die derlei nicht erleben, schwer vermittelbar bleibt, was das Schmerzerleben nach dem Abbruch ausmacht. Auch weil sie in der Regel nicht ahnen, was die genauen Hintergründe eines Schwangerschaftsabbruchs sind, steht es Nichtbetroffenen meines Erachtens nicht zu, Frauen für eine Abtreibung zu verurteilen.
Da das Lesen der Fallbeispiele für Frauen, die noch sehr unter einer nicht lange zurückliegenden Abtreibung leiden, Trigger beinhalten könnte, bitte ich alle Leserinnen, gut für sich zu sorgen und sich Hilfe zu holen, sollte die Lektüre zu belastend sein.
Christina: »Ich blicke in einen Abgrund von Schmerz«
»Als ich schwanger wurde, war ich schon 40 Jahre alt. Ich hatte mir das Kind insgeheim gewünscht und galt seit Jahren als unfruchtbar. Der positive Schwangerschaftstest löste ein Chaos von Gefühlen in mir aus. Einerseits erfüllte mich riesige Freude über das kleine Wunder in mir. Andererseits spürte ich Panik in mir aufsteigen, denn ich kannte den Vater meines Kindes erst kurze Zeit. Seine Reaktion zog mir den Boden unter den Füßen weg. Er warf mir an den Kopf, dass ich ihn reingelegt hätte. Es komme für ihn nur eine Abtreibung infrage. Bekäme ich das Kind, würde er sich das Leben nehmen.
In der Hoffnung auf eine andere Lösung stimmte ich dem Besuch einer Beratungsstelle zu. Ich wurde an den Tagen vor dem Beratungstermin zunehmend depressiv und angsterfüllt. Wie sollte ich mein Kind allein großziehen? Was, wenn mein Partner sich wirklich das Leben nehmen würde? Suizid hatte in meiner Herkunftsfamilie eine Rolle gespielt und war für mich gefühlt eine reale Bedrohung. Gleichzeitig war von Anfang an eine tiefe Liebe für das Ungeborene in mir. Und es war für mich auch von meiner Grundeinstellung her...
Erscheint lt. Verlag | 9.9.2024 |
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Reihe/Serie | Edition Leidfaden – Begleiten bei Krisen, Leid, Trauer |
Mitarbeit |
Herausgeber (Serie): Monika Müller, Petra Rechenberg, Katharina Kautzsch, Michael Clausing |
Vorwort | Brigitte Wörner |
Verlagsort | Göttingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | aberkannte Trauer • Abtreibung • Dilemma • Entscheidung • erschwerte Trauer • kognitive Dissonanz • Konflikt • Lebenskrise • Schwanger • Schwangerschaft • Schwangerschaftsabbruch • Schwangerschaftskonflikt • Sterneneltern • Sternenkinder • tabuisierte Trauer • Trauer • Trauerbegleitung • Trauerverarbeitung |
ISBN-10 | 3-647-99295-X / 364799295X |
ISBN-13 | 978-3-647-99295-2 / 9783647992952 |
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Größe: 321 KB
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