Lebensdinge (eBook)

Alltagsphilosophische Zugänge

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
296 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4577-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lebensdinge -  Anton Leist
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In 34 kurzen Abschnitten zu Fragen wie »Habe ich einen Körper?«, »Wie ehrlich soll ich sein?« oder »Ist ein Haus besser als eine Wohnung?« gibt Anton Leist in diesem Buch jeweils eine »kurze« und eine »lange« Antwort - unter Rückgriff auf andere Philosophinnen und Philosophen, aber in einer allgemeinverständlichen Ausdrucksweise. Die säkulare Philosophie äußert sich zum menschlichen Leben kaum in alltagsnaher Weise, und wenn doch, dann meist im Anschluss an die antiken Glückslehren. Solche Beratungen zum guten Leben bleiben gegenüber den modernen, von existenzieller Unruhe getriebenen Menschen jedoch blass, denn für wirklich einschneidende Botschaften fehlt ihnen der dogmatische Hintergrund. Sie versickern deshalb leicht als gut gemeinte Psychologie. Auf der anderen Seite sind Fachphilosophen in ihrer Mehrheit in ein Jenseits der selbsterzeugten Kunstprobleme abgedriftet und haben die philosophischen Themen des Alltags, in der Sprache des Alltags, nachhaltig vergessen. Sich Lebensthemen mit existenziellem Ernst zu nähern, dies aber in einer allgemeinverständlichen Ausdrucksweise - das ist das Anliegen der 'Alltagsphilosophie'. Zu diesen Themen gehören etwa Fragen nach Leben und Tod, Schmerzen und Freude, Liebe und Hass, Bösem und Gutem, Kindern und Eltern, Moral und Glaube, Schönheit und Hässlichkeit, Realität und Illusion, Nahrung und Wohnung, Körper und Geist. Ziel dieses Buches ist nicht, ratgeberhafte Antworten zu geben. Vielmehr setzt es auf die Herausforderung des Denkens.

Anton Leist ist emeritierter Professor für Allgemeine Ethik an der Universität Zürich. Seine akademischen Arbeitsgebiete liegen im Bereich der Normativen Ethik, Metaethik, Angewandten Ethik und zuletzt der Alltagsphilosophie.

Anton Leist ist emeritierter Professor für Allgemeine Ethik an der Universität Zürich. Seine akademischen Arbeitsgebiete liegen im Bereich der Normativen Ethik, Metaethik, Angewandten Ethik und zuletzt der Alltagsphilosophie.

1 Kann man die Frage nach dem Sinn des Lebens ernst nehmen?


kurze antwort: ja, indem man an Zwiebeln riecht.

lange antwort: Es ist nicht klar, ob es überhaupt jemanden gibt, der sich für die Frage nach ›Lebenssinn‹ im Allgemeinen interessiert, abgesehen von manchen Philosophen. Sicher, man kann über den Lebenssinn nachdenken, wenn die Tage langweilig und öde sind. Aber eigentlich interessiert man sich doch dafür, warum gerade diese Tage langweilig und öde sind. Vielleicht stößt man auf die Frage, wenn man vor einer gefährlichen oder folgenreichen Entscheidung steht. Aber auch dann flirrt die allgemeine Frage, wenn überhaupt, eher am Rand dessen, was einen eigentlich bewegt: das Risiko, die Folgen, die Alternativen, die Vorgeschichte. Wie bin ich eigentlich hier hineingekommen, und was mache ich jetzt? Auf keinen Fall ist es generell sinnlos, sich in Gefahr zu begeben, wie es auch nicht schon sinnlos ist, Langeweile zu kennen, ja in Langeweile zu schwelgen. Kurzum, die Frage nach dem Lebenssinn ist ein eigenartiges Tier unter den vielen Dingen, die uns so bewegen. Sie spricht sich leicht aus, aber ist sie sinnvoll?

Ein nicht zu übersehender Hinweis auf die Sonderlichkeit der Frage ist natürlich auch, dass sie häufig zu einem Gegenstand der Komik wird. Das liegt einfach nahe, wenn man die Frage an das menschliche Leben ganz allgemein richtet, sie nicht aus einer Lebenskrise heraus stellt, sondern spielerisch auf der Leinwand oder im Kinosessel. Dann ist die persönliche Betroffenheit ausgeblendet und es wird ein Spiel, dessen Komik unvermeidbar ist. Die Antwort des Supercomputers Deep Thought aus Per Anhalter durch die Galaxis, der Sinn des Lebens sei 42, geht dann leicht von der Hand. Freilich gibt es Perspektiven, in denen die Frage nicht ganz so komisch erscheint. Das sind aber nicht alltägliche. So etwa bei einem Blick auf ein konkretes ganzes Leben aus der Sicht eines Biographen oder, in Tolstois Schilderung, vom Todesbett Ivan Iljitschs aus. In dieser Perspektive erscheint die Frage überfordernd und lässt einen hilflos. Nur als Gegenstand der Komik können wir die Frage also nicht abtun.

Die Antwort ›42‹ ist insofern aufschlussreich, als sie mit ihrer Albernheit, vielleicht sogar gewollt, die Unmöglichkeit der Frage selbst andeutet. Die Frage ›Ist das Leben sinnvoll?‹ ist nämlich zweifach falsch gestellt. Einmal, insofern sie einen Sinn erfragt, der für alle Menschen gleich sein sollte. Dass es einen solchen Sinn gibt, abgesehen von Banalitäten wie dem Erfüllen der elementarsten Bedürfnisse, würde das Diktat einer externen Macht voraussetzen, etwa einen Gott, der allen Lebewesen einen Sinn zuteilt. Manche erfinden einen Quasi-Gott, etwa die Nation oder die Evolution, aber das sind schlechte Erfindungen. Derselbe Fehler kann sich aber auch im individuellen Fall wiederholen, indem auch nach Einführen eines Akteurs mit Blick auf sein Leben, wie bei Ivan Iljitsch, die Erwartung besteht, der Lebenssinn müsse irgendwie von außen kommen, nur eben informativer als 42. Sicher, in irgendeinem dünnen Sinn muss die Antwort von außen kommen, wenn man sie noch nicht hat. Doch was heißt dann außen? Selbst angemessenere Antworten unterliegen noch der Gefahr, die Situation dessen, der da fragt, auszublenden.

Das zeigt sich auch an den Beiträgen von Susan Wolf, die unter den akademischen Philosophinnen heute die ausführlichsten Bemerkungen zu dieser, von der Zunft sonst gern gemiedenen Frage macht. Wolfs Vorschlag lautet: Lebenssinn entsteht durch eine aktive Beziehung zu wertvollen Dingen. Klärend ist dabei, wie sie vorweg Lebenssinn vom Glück unterscheidet. Glück ist ein Erfolgszustand, ein zu erreichendes Gutes, während Sinn eine Voraussetzung dafür ist, Glück erreichen zu wollen und zu können. Sinn ist die Hoffnung für ein ganzes, irgendwie geordnetes Leben, Glück ist eine Zugabe, etwas, das sich vielleicht einstellt, das aber nicht ganz kontrollierbar ist. Manche Aufgaben und Pläne können sogar sinnvoll sein, obwohl sie Unglück nicht klar vermeiden: einen Mächtigen kritisieren, einen Berg besteigen, in den Krieg ziehen. Manche Absichten können gerade darin sinnvoll sein, dass sie zum eigenen Unglück führen müssen: ein Kind bei Todesgefahr retten, den Diktator töten. Manche Lebensumstände lassen Glück nicht zu, störten den Sinn, wenn man bequem das Glück wählte. Auch wenn Glück wunderbar ist, lebensnotwendig ist Sinn. Ein wenig plakativ wird das illustriert durch die Figur Winston in Orwells Dystopie 1984. Winston hat unter der Folter seinen Glauben an Wahrheit verraten und damit sich selbst. Er wird im Café der lebenden Leichen als bereits gestorben geschildert.

In der neueren Philosophie, in einer Sparte des Existenzialismus, wurde nahegelegt, dass dieser Zustand uns alle betreffen könnte. Der berühmte Urheber dieses Verdachts war Albert Camus, der während des Zweiten Weltkriegs das menschliche Leben als generell ›absurd‹ zu schildern versucht hat. Absurd zu sein, zieht Sinnlosigkeit nach sich. Im normalen Leben erscheint etwas als ›absurd‹, wenn es im Kontrast zu einem höheren Anspruch steht. Es scheint absurd zu sein, wenn ein Metzger eine Petition zum Tierschutz unterschreibt. Absurd ist dann die Handlung aufgrund der Lücke zwischen dem Ziel oder Wert und dem sich bemühenden Menschen. Die Lücke belegt die Vergeblichkeit des Unterfangens. Camus hat seine Diagnose der generellen menschlichen Absurdität durch Schilderungen eines bleiernen Lebens und tiefer Teilnahmslosigkeit sowie einiger Argumente zu belegen versucht. Merseault, die Hauptfigur in Der Fremde, ist einerseits teilnahmslos gegenüber dem Leben, seinem eigenen und fremden, vergleichbar einer gesteigerten Depression, ohne diese Teilnahmslosigkeit selbst zu erkennen. Er hält seine Apathie für den normalen Zustand aller. Angesichts der Todesstrafe für den von ihm willkürlich begangenen Mord greift er dann auch zu Argumenten. Die entsprechenden Gedanken kennen wir meist aus eigener Erfahrung. Thomas Nagel schildert sie in einem bekannten Essay ›Das Absurde‹ ausführlicher: Alles, was wir tun, ist beliebig, wir sind leicht ersetzbar, bedeutungslos angesichts der Geschichte, nur ein Fünkchen unter Milliarden anderer Menschen, usw. Das einzelne Leben erscheint absurd, weil und wenn es unter einem sehr großen Maßstab gesehen wird.

Dieser Kontrast zwischen Merseaults zunächst unbewusst verloren gegangenem Sinn und seinen expliziten Argumenten für Sinnlosigkeit ist erhellend, denn er verweist auf zwei Ebenen des Sinnverlusts, die persönliche und die allgemeine. Entgegen seinem Versuch, allgemeine Argumente für Sinnverlust anzuführen, ist Merseaults Problem doch ein persönliches. Keine philosophischen Argumente könnten ihn aus seinem Weltverlust herausführen. Zeitbedingt versucht im Roman nicht ein Philosoph, sondern ein Priester ihn im ›Namen Gottes‹ vom Gegenteil zu überzeugen. Aber auch ein Philosoph hätte nicht mehr Erfolg, denn er müsste ihm die Fragwürdigkeit der Kontrastvergleiche, also einer Voraussetzung seiner Argumente, vor Augen führen. Wie kann man das aber, wenn jemand die Perspektive der guten Dinge des Alltags verloren hat? Der Sinn ist von Haltepunkten abhängig, und ohne Haltepunkt scheint die Perspektive des Universums ebenso möglich wie diejenige des bisherigen, offen gewordenen Einzellebens. Wenn alles beliebig wird, gibt es mit Gründen keinen Ausweg. Lebensrelevante Gründe setzen einen Ansatzpunkt im Leben bereits voraus, ohne ihn greifen sie nicht mehr. Merseaults Argumente sind eine hilflose Verteidigung gegenüber dem Priester, durch die weniger die Romanfigur als vielmehr Camus selbst spricht. Als Romanfigur ist ihm mit Argumenten nicht zu helfen, es sei denn, sie gingen in sein Innerstes, in dem vielleicht noch ein wenig konkreter Lebenssinn versteckt ist.

Der Zustand einer ins Extrem getriebenen Teilnahmslosigkeit, wie Merseault sie im Roman repräsentiert – und er hat in der Trivialliteratur in Gestalt der beliebten Serienmörder viele Nachfolger –, ist ein pathologischer Zustand, der nicht durch Überzeugungen, sondern nur durch Therapie zu behandeln wäre. Ihn als philosophische Diagnose aufzufassen, ist ein erstaunlicher Irrtum, der die Wirkung und Reichweite von rationalen Überlegungen grotesk überschätzt. Entsprechend unplausibel sind auch die Folgerungen, die aus ihnen gezogen werden. Camus erwägt in seinem Werk erst dramatisch den Selbstmord, entscheidet sich aber dann zu einem rebellischen ›Trotzdem‹. Sisyphos ist nach ihm der Held des Absurden, weil er seine sinnlose Aufgabe, den Stein den Berg hinaufzurollen, zu einem Lebensgenuss uminterpretiert. Ähnlich äußert sich der alte Fischer in Hemingways berühmter Erzählung über einen erfolglosen Fischfang nach aufopferungsvollem...

Erscheint lt. Verlag 31.7.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Alltagsphilosophie • Existenzialismus • Moralphilosophie • Phänomenologie
ISBN-10 3-7873-4577-9 / 3787345779
ISBN-13 978-3-7873-4577-9 / 9783787345779
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