Menschliches, noch Menschlicheres (eBook)

Eine Anthropologie der unendlichen Verletzung
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
164 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4486-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Menschliches, noch Menschlicheres -  Josep Maria Esquirol
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»Menschliches, noch Menschlicheres« ist ein authentisch-philosophischer Essay, in einer Sprache geschrieben, die so verständlich und präzise wie inspirierend ist. Mit seinem neuen Essay setzt der Autor seine Beschäftigung mit der Frage nach der menschlichen Situation und Bedingtheit fort. Ausgehend von der grundlegenden Fragilität des Menschlichen entwickelt Esquirol eine philosophische Anthropologie: die »Philosophie der Nähe«. Es sind scheinbar einfache Fragen, die der katalanische Philosoph Josep Maria Esquirol aufwirft: Wie heißt du? Woher kommst du? Was ist mit dir los? Diese Fragen bringen uns, so der Autor, Schritt für Schritt der tiefsten Mitte unserer Seele näher, dorthin, wo wir entdecken, dass wir von vier wesentlichen Unendlichkeiten durchdrungen und verletzt sind: Leben, Tod, Du und Welt. Esquirol zeigt auf, wie dieser »Furche« im Menschen das wohltuendste Handeln entspringt: ein Handeln, das »Welt in der Welt erschafft« und das Leben umsorgt; ein Handeln, das uns Orientierung gibt, uns stärkt, indem es versteht, Ernst und Leichtigkeit, Tag und Nacht, Himmel und Erde, Gegenwart und Hoffnung zusammenzubringen, ohne sie zu verwirren. Der neue Band ist sein bisher konzeptuellstes, am deutlichsten systematisch angelegtes Werk. Es geht nicht um eine Definition des Menschlichen, sondern um Orientierung.

Josep María Esquirol ist Professor für Philosophie an der Universitat de Barcelona und Leiter der Forschungsgruppe »Aporia«, die sich insbesondere mit der Verbindung von Philosophie und Psychiatrie beschäftigt. Er veröffentlichte rund ein Dutzend Bücher. Die in den letzten Jahren entstandenen Werke, in prägnantem Stil verfasst und bewusst miteinander verknüpft, bringen eine Philosophie der menschlichen Existenz zum Ausdruck.

Josep Maria Esquirol ist Professor für Philosophie an der Universitat de Barcelona und Leiter der Forschungsgruppe »Aporia«, die sich insbesondere mit der Verbindung von Philosophie und Psychiatrie beschäftigt. Er veröffentlichte rund ein Dutzend Bücher. Die in den letzten Jahren entstandenen Werke, in prägnantem Stil verfasst und bewusst miteinander verknüpft, bringen eine Philosophie der menschlichen Existenz zum Ausdruck. In der Blauen Reihe erschien zuletzt: »Der intime Widerstand. Eine Philosophie der Nähe.«

II WIE HEISST DU? (DER NAME)


JEMANDEN BENENNEN

Nicht nur am ersten Tag, sondern auch am Tag darauf und auch an dem Tag, der dem Tag darauf folgt, zwingt uns die Blöße des menschlichen Gesichts in vielen Situationen dazu, uns vor den bestehenden Witterungsunbilden und dem Abgrund zu schützen, manchmal vielleicht hinter Brettern, die mit Seilen aneinandergebunden werden. Der Name, den wir uns geben, kommt mit der geheimnisvollen Blöße des Gesichts überein und wird gleichzeitig Mahnmal dieser abgründigen Bändigung; eine Mahnung und eine Weise, das Band erneut zu straffen, das dann und wann erschlafft.

Wie ist der Name des Menschen? Der Name einer Gattung bedeutet hier nicht viel, denn jede Person ist eine Welt für sich. Der Mensch hat keinen Gattungsnamen, der ausdrücken könnte, was er ist. »Ich weiß nicht, was ich bin; ich bin nicht, was ich weiß«, schrieb Silesius.9 Wenn von generischen Bezeichnungen wie Homo sapiens Gebrauch gemacht wird, so sollten diese in jedem Fall sekundär bleiben.

Jede Person ist jemand. Die so beantwortete Frage lautet Wer ist das? und nicht so sehr Was ist das?

Jemand, jemand anders, ein Anderer, noch Einer (un altre un).10

Jemand ist ein einfaches Pronomen, das wir mit Person, Individuum, Subjekt … und sogar mit dem heideggerschen Dasein gleichsetzen könnten, denn es schließt das Hier, die Faktizität, mit ein. Wenn gesagt wird: »Da ist jemand«, dann schließt sich dem gleich an: »Wo?«. Und vor allem wird sogleich gefragt »Wer?«. Daraufhin antworten wir spontan mit der scheinbaren Schlichtheit des Namens: »Jemand«. »Wer?«. »Anna«.

Es gibt keine Menschheit, die herumläuft. Es gibt keinen Gedanken, der denkt. Es gibt keine Liebe, die liebt. Es gibt keine Sprache, die spricht. Da sind Anna und Joan und sie gehen, lieben, denken und sprechen.

Wie ist also der Name des Menschen? Es lohnt sich hier die Redundanz, der Name des Menschen ist sein Name; der Eigenname; der Vorname. Es gibt keine größere Offenbarung des Menschen als die des Namens. Deshalb würde es eine extreme Gewalttat darstellen, einem Kind keinen Namen geben zu wollen oder, in die gleiche Richtung argumentierend, einer schon erwachsenen Person den Namen zu entreißen und sie auf diese Weise zu vernichten, wie dies in den nationalsozialistischen und stalinistischen Konzentrationslagern und so vielen anderen unmenschlichen Orten geschah.

Der Name ist Zeichen für etwas so Wertvolles, dass es vorsichtshalber einen geheimen geben muss. Ein geheimer, der im Extremfall als letztes Refugium dienen und uns vor Verschmähung und Demütigungen aller Art retten kann.

Die Gegebenheit, dass der Name hier zur Fährte wird, sollte uns jedoch nicht beirren. Das Entscheidende und das, wodurch wir uns angesprochen fühlen, ist keine grammatische Kategorie, sondern viel mehr die Tatsache, dass jemand, indem er ein Jemand ist, einen Namen verdient. Der Name ist also nur die Fährte, die auf das hinweist, was von Bedeutung ist: die Tiefe des Menschlichen.

Ein Blick, der dich erkennt, ist schon ein Blick, der den Namen nennt. Der Name ist zuvor Pronomen. Und das Pronomen ist zuvor Blick. Das macht es unmöglich, die Spur bis ans Ende zu verfolgen. Wenn ich vom Eigennamen spreche, denke ich an die Handlung, jemanden beim Namen zu nennen, jemanden als jemand anzusprechen, mit dem Namen, mit einem Pronomen, einem Kosenamen, einer Geste oder einem Blick.

Obwohl es auch Eigennamen gibt, die keine Personennamen sind – beispielsweise Ortsnamen –, beziehe ich mich hier, wenn ich von Eigennamen spreche, immer auf Anthroponyme. Und dennoch, wie soeben bemerkt, ist nicht so sehr die objektivierte Form der Sprache zu beachten, sondern eher das, was passiert, wenn ein Substantiv, nehmen wir mal an, Rose oder Erika,11 dazu dient, jemanden zu benennen, und so unmittelbar nicht nur Personenname, sondern auch Eigenname wird. Die Kraft des persönlichen Gesichts ist so groß, dass alles, was erst gemein war, eigen wird, sobald man es anspricht. In diesem Moment werden nicht nur die Nachnamen überflüssig, sondern sogar die linguistische Form des Namens selbst.

So viel ist klar, alles kann sich ins Negative kehren. Nur wenn man sich damit taktvoll an jemanden richtet, ist der Name im eigentlichen Sinn Name. Nicht aber, wenn dies nur so scheint oder wenn es sich nur um eine oberflächliche Form des Respekts handelt. Wichtig ist die Art und Weise, auf die der Name das fast unsichtbare Gesicht erreicht und wie dieses fast unsichtbare Gesicht schweigend den Namen verkündet. Diese Bewegung in doppelter Richtung ist die Grundlage des Zusammenseins und der Gemeinschaft.

Dass alles sich ins Negative kehren kann, bedeutet zudem, dass man sich selbst auch zu sehr bestätigen – und mehr als nötig signieren – kann, indem man immerzu und überall seinen Namen wiederholt und herausstellt. Dann kann es durch einen abwartenden, philosophischen Blick durchaus angebracht erscheinen, diese Ausartung zum Grund und zum Ziel der Kritik werden zu lassen.

NAME OHNE EIGENTUM

Natürlich kann man die Thematik des Namens in die Richtung der Logik des Eigentums und der Autorschaft hin auslegen. Das hat Derrida mit sehr viel Scharfsichtigkeit getan, um sie daraufhin heftig kritisieren zu können.12 Seinen Lesern möchte er die Gefahren aufzeigen, die diese exzessive Betonung der Urheberschaft und der Unterschrift mit sich bringt. Und damit hat er völlig recht, denn die Übersteigerung des Eigennamens zeugt von Selbstverherrlichung, Eitelkeit, Herrschsucht und einer durch die Idee der Macht geprägten Weltansicht.

In diesem Fall bedürfte es als Reaktion sehr wohl eines Lobes der Bescheidenheit sowie der Herausstellung der gemeinsamen Urheberschaft, des kollektiven Werkes und noch mehr der Anonymität. Genau genommen gibt nicht erst die individualistische Maßlosigkeit der heutigen Gesellschaft Anlass zu diesen Korrektiven; denn sie existieren schon sehr lang und stehen mit wertvollen Lebensweisen nach dem Prinzip der Askese und der Loslösung vom Selbst in Zusammenhang. Die Kartäuser unterschreiben beispielsweise nicht mit ihrem Namen; der von ihnen angestrebte Verzicht geht so weit und der Egoismus, von dem sie sich befreien möchten, wiegt so schwer, dass sie sich bemühen, ja sogar auf den Namen zu verzichten.

Den Namen mit der Etikette des Eigentums und der Urheberschaft zu versehen, macht all dies jedoch, so glaube ich, zu leicht zur Zielscheibe der Kritik, während sich die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Wesentlichen entfernt, das nichts anderes ist als die einfache Benennung jemandes. Demnach muss zunächst bemerkt werden – auch um das Problem des Eigentums und das der Urheberschaft überhaupt erst richtig einordnen zu können –, dass die Alternative zum Egozentrismus nicht nur in der Anonymität oder im kollektiven Namen besteht, sondern vor allem im einfachen Nennen des Namens. Jenseits oder diesseits von Eigentumsurkunden und Souveränitätsansprüchen strahlt die Einfachheit des Namens.

Sie wird gefragt: »Wie heißt du?« und antwortet: »Ich heiße Anna, ich bin Anna«.

Dem Namen entgegengesetzt steht nicht die Anonymität, sondern die Unpersönlichkeit.

DER NAME, DER DICH ERREICHT

Der Name, der dich erreicht, ist verdient, ohne etwas dafür getan zu haben. Verdient, da das Gesicht Ausdruck des Anfangs und Antizipation der tiefen Verletzung ist. Einen Namen geben bedeutet, wie wir bald sehen werden, einen absoluten Anfang anzuerkennen. Es wird dem ein Name gegeben, der zum ersten Mal da ist, der eingeführt wird. Wie wichtig es auch sein mag, jedes Erbe ist zweitrangig; jedes, ohne Ausnahme: sei es biologisch, kulturell, familiär, »freudianisch« …

Der Eigenname verweist auf die Singularität der Person; er entspricht dem Ereignis der Geburt und der sakralen Handlung der Taufe. Dass die religiöse Feier, bei der das Weihwasser aus dem Taufbecken empfangen wird, heutzutage immer seltener praktiziert wird, bedeutet nicht, dass es nicht noch immer eine Reihe von Momenten gäbe, die damit in enger Verbindung stehen: der Moment, in dem die Eltern einen Namen wählen; wenn sie ihn den nächsten Angehörigen mitteilen; wenn sie denjenigen, der zur Welt kommt oder der gerade zur Welt gekommen ist, zum ersten Mal mit diesem Namen ansprechen … Die Taufe – oder das, was sie ersetzt – ist eine Feierlichkeit, bei der jemandem ein Name gegeben wird, der schon einen – geheimen – Namen hat. Man bestätigt und erkennt demjenigen öffentlich den Namen an, der einen Namen trägt.

Wer zur Welt kommt, kommt zum ersten Mal. Rein. Es gibt keine mitgebrachte Schuld, keine mitgebrachten Sünden. Die Bedeutung des Wassers ist nicht unbedingt die des Waschens; es kann auch für die Reinheit des Anfangs stehen, die Unschuld sowie die Relativierung des erwähnten Erbes. Den Eigennamen wirklich als solchen zu begreifen, bedeutet, alle Gesetze, alle Ketten zu überwinden. Sieh nur, wie einfach: Wir fragen nach Anna und jeglicher Determinismus zerbricht.

Und man könnte sogar noch weiter gehen: Wie auch immer sie ausgehen mag, jede menschliche Situation ist schon allein durch die Tatsache, eine zu sein, eine Art Sieg über das Unumgängliche des Bösen, der Gewalt und der Dunkelheit. In jeder Situation, in jedem Ereignis, pocht die...

Erscheint lt. Verlag 31.7.2024
Reihe/Serie Blaue Reihe
Übersetzer An-Magritt Ahn
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Anthropologie • Existenzphilosophie • Friedrich • Nietzsche • Phänomenologie
ISBN-10 3-7873-4486-1 / 3787344861
ISBN-13 978-3-7873-4486-4 / 9783787344864
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