Tagebücher 143-149 -  Salomo Friedlaender

Tagebücher 143-149 (eBook)

Juli 1940 - August 1942
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
676 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-2597-4 (ISBN)
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Dieser sechste und vorletzte Band der philosophischen Tagebücher dokumentiert Friedlaender/Mynonas inneren Widerstand in dunkelster Zeit: Nordfrankreich und Atlantikküste unter deutscher Besatzung, antijüdische Gesetze des Vichy-Regimes, drohende Deportation, Hunger, Herzasthma ... Ab Herbst 1941 verläßt er für fast zwei Jahre seine Pariser Matratzengruft nicht, seine Berliner Bibliothek wird zerbombt ... Er aktiviert die alte Denkfigur des Philosophen-Arztes, übt sich in permanenter Konzentration auf die "magischen Kommandos": "Schöpferische Indifferenz" bzw. "Ich-Heliozentrum". Unermüdlich führt er seine polaristischen Auseinandersetzungen weiter: mit Kant, Nietzsche, Schopenhauer, Kierkegaard, mit zeitgenössischen Prominenten und dem Antisemitismus. Erst die Revolutionierung der Religiosität zur Autonomie ermöglicht Menschheit.

Detlef Thiel
Auch ich bin kein Zufall


Compiègne, 22. Juni 1940. Nordfrankreich und Atlantikküste werden der deutschen Besatzung unterstellt, im unbesetzten Süden löst das Vichy-Regime die Dritte Republik ab und erläßt sofort antijüdische Gesetze. Marschall Pétains Kollaboration ist bis heute umstritten. Im besetzten Paris florieren Theater, Kabaretts, Kinos, Salons, surrealistische Malerei. Am 5. Oktober 1940 notiert Friedlaender/Mynona (im Folgenden: F/M): Von der geistigen Atmosphäre einer Stadt gehe die belebende, ethisierende, erleuchtende Wirkung aus; aber „heute, wo die brutale Geistlosigkeit, ja Widergeistigkeit, diese selben Gassen durchdumpft, wirkt Paris ekelhaft, widerlich.“ (T 143:530 – F/M verzählt sich oft beim Numerieren, daher kann es bei den folgenden Nachweisen doppelte Nummern geben.) Am 13. Oktober: Er habe sich immer danach gesehnt, „in einem Turm auf einer Insel einsam zu wohnen“ (T 143:617).

Einmal fällt der Ausdruck „existentiell“ (T 145:879). Die elende Lebenssituation scheint überall durch: „Hungerkunst“, „malade, au lit“ (T 144:760; 146:36), Asthma, Depression (148:184 u. 136) ... Aber Schwierigkeiten fordern auf zu ihrer Überwindung. Virescit volnere virtus, durch eine Wunde wächst die Kraft (T 126:88, GS 37). Erschütterungen sind Feuerproben, potenzierter Widerstand weckt Gegenkräfte (T 144:651 ff.). Die Denkfigur kehrt bei F/M konstant wieder. Folglich transformiert er den leiblichen Hunger in begrifflichen: Der Hunger dient mir (T 145:684). Es ist die Idee, welche nach Inkarnation hungert (T 144:874). Ekstatische Hellsicht, Allmachtsphantasien: Effekte von Unterernährung, in vielen Religionen genutzt.

Eine andere alte Denkfigur ist der iatros: Arzt, Mediziner, Orthopäde, Pädagoge (T 148:110). Das schreibt F/M dem Ich-Heliozentrum zu und steigert es: Meta-Iater, Metiater, Über-Arzt, „Met-hygiene“ (T 143:283 u. 481). Dem Aut-iatros steht der Hetiatros gegenüber, dem Selbst- der Fremd-Heiler, die „Heteriatrie“ (T 145:708; 147:21). Die Gedanken auf Einheit zu richten, soll permanente Übung sein. ‚Schöpferische Indifferenz‘ und ‚Ich-Heliozentrum‘ sind „magische Kommandos“, „Zauberworte“ (T 145:827; 147:75). Die konziseste Formel, „Losungs-“, „Kernwort“ (T 147:47 u. 51) ist das englische Personalpronomen ‚I‘. Stoßgebet ‚I‘ (T 147:149; 144:705). Zur Konzentration dient ebenso die Dokumentation des Mantras auf dem Papier. Das Schreibwerkzeug darf den Fluß nicht hindern (T 145:670). Bei F/M sieht man kaum Zögern, Verbesserungen, Graphospastik. Publikation ist nicht mehr nötig, Gutenbergs Buchdruck unwichtig (T 144:754). Es gibt auch „indiskrete Publikation“ (T 146:151) – diese hier!

Kant versichert: Nicht im Theoretischen, nur im Praktischen, durch den Freiheitsbegriff, kann die Vernunft gesetzgebend sein (KU B XVII). Die Asymmetrie moniert F/M bereits 1899 in der Dissertation: „Der Spielraum, den Kant der Theorie übrigläßt, ist allzu knapp bemessen.“ (GS 2, 156) Fortan arbeitet er an der Erweiterung. Die in Das magische Ich entwickelte polaristische Lösung baut er immer weiter aus. Indifferenz manifestiert sich in polaren Differenzen. Polarität mag irrational sein (T 147:163), doch soll sie nicht verwechselt werden mit der antithetischen Vorstellungsart (T 144:634; 145:317). Sie liefert den „Dechiffrierschlüssel“ (T 149:192) zur Einsicht, daß die Natur durch Heteronomie verwundet ist (T 145:678).

Kants zitierte „verhängnisvoll drollige Wendung“ besagt: „faktisch sind wir nur Säugetiere; hingegen ethisch-praktisch göttlich, frei, unsterblich.“ (GS 30, 53) Diese theoretische Resignation hemmt die Praxis (T 143:632). Kant und Ernst Marcus muten „nordisch herbst-winterlich“ an, bleiben Opfer der Heteronomie (T 146:162u.257).WasKant‚transzendent‘nennt,ist nochimmanent (T 145:484). Sein empirischer Standpunkt (oder Charakter) ist noch gar keiner (T 145:246); es gibt nur einen, den intelligiblen Standpunkt. Entsprechend ist praktische Erfahrung noch gar keine, noch von Schein getrübt. Erst faktisch-theoretisch ist sie systematische „Ideen-Erfahrung“ (T 145:325). Freilich meint F/M keine intellektuelle Anschauung. Er folgt vielmehr Kants Empfehlung, die Objekte gleichsam vom Gegenstand in der Idee abzuleiten. Das ist das kritische ‚Als ob‘ oder ‚quasi‘ (KrV B 698 ff.).

Entsprechend korrigiert er Kant: Erkenntnis beginnt nicht mit Anschauungen, die über Begriffe zu Ideen gehen (KrV B 730), sondern mit dem Erkennenden, und der ist Idee (T 143:862). „Vernunft-Ich“, „Ideen-Ich“, Ding an sich, Urphänomen (T 144:670, 881 u. 901):Der „Geist Ich-Heliozentrum“ (T 144:72) ist „menschheitliches Identicum“, „hyperheilig“, hat Analogie zum Fliegen (T 146:140 u. 179; 145:707). Vor allem ist das Ich-Heliozentrum nicht nur theoretische Bestimmung (T 145:223). Erfahrung soll System werden: Gleichnis des hyperbolischen Objekts, der Ideen (T 143:722). F/M will den Vernunftmenschen objektivieren zum symbolischen Ebenbild des Ich-Heliozentrums, zum Symbol des Genus Mensch (T 144:622 u. 410).

Das Ziel ist Inkarnation (T 143:285). Was Gott war, soll Ich werden, „Gottmensch“ (T 144:719 u. 731). Das Experiment Jesus war noch ein Selbstmißverständnis, Gott/Mensch-Zwitter. Der sich selbst präzis erkennende Mensch würde „objektiv nicht am Kreuze enden, sondern all sein Kreuz beenden“. Aber er „ist bescheiden auch noch im Größenwahn“ (T 143:352 u 89). F/M unterstreicht das Subjektive: „Ich bin subjektiv-immanent allwissend, heliozentral vollwissend, auch allmächtig.“ (T 147:86) So hatte er schon 1918 geschwärmt. Das Hauptwerk seiner Berliner Jahre, Schöpferische Indifferenz, nennt er nun unbescheiden das „unsterblichste Buch der Erde“ (T 143:745).Trotz allem besteht „die Absicht – Ich-Heliozentrum – noch unklar“ (T 144:756).

F/M treibt die Arzt-Metapher weiter zur Figur des Heilands, Erlösers, Messias (T 144:731; 145:891). Sobald unter den Schläfern nur einer aufwacht, käme es zur „Apparenz“ (T 143:544; 144:862 u. 896). Doch das Ereignis blieb bislang aus (T 144:607). Das Ich-Heliozentrum ist immer noch nicht autonom. Es gab noch niemals Autonomie (T 144:130; 145:648).

F/M entwirft Kulturschemata, deutet das Christentum polaristisch (T 143:650 f. u. 763; 149:209 ff.). Erst die Revolutionierung der Religiosität zur Autonomie ermöglicht Menschheit (T 145:523). Die Erbsünde wurde erfunden vom Selbsthaß; das Böse ist nur eine Entgleisung, entstehend aus Vexation durch die Natur (T 143:969 u. 994). Das liegt auf einer von Kant bis zu Thomas von Aquin zurückreichenden Linie.

Die Sprache zerbricht die Polarität in isolierte Stücke, deren Zusammenhang verloren geht. Auf dieses Problem weist F/M oft hin (T 147:48), versäumt es aber, die konkrete Bedeutung seiner eigenen Metaphern zu klären: ‚beherrschen‘, ‚dienen‘ usw. Andererseits bildet er zahlreiche Neologismen: „trabantisieren“, „metamorphosieren“, „ariadneïsieren“, „elliptisieren“ (T 143:848 u. 945; 144:329; 149:88); „abyssitriert“ – verabgründet, als Gegenstück zu ‚kulminiert‘ (T 143:942); „Festinalentologie“ (T 145:450), das Leben „utopisieren“ – Utopie sei „Ubiquie“ (T 147:18 u. 28) usw.

F/Ms Berliner Bibliothek, nach jahrelangen Vorbereitungen in achtzehn Kisten versandfertig für Paris verpackt, wird im Oktober 1941 auf dem Bahnhof Halensee zerbombt. Der Verlust bedeutet „eine Art Gehirnverletzung“ (T 144:233 u. 228). F/M setzt sich mit anderer Lektüre auseinander.

Im November 1940 bildet er sich ein Urteil über Kierkegaard, z. B.: „‚Isaak‘ nur Symbol.“ (T 143:838) Ab April 1941 geht er – zum wievielten Mal? – Marcus’ erstes Buch von 1899 und die kleinen Aufsätze durch (T 144:510 ff.). Er widerspricht dem seit Lichtenberg beliebten ‚es denkt‘: ich denke (T 145:400; 147:124). Er widerspricht auch Freud: Es gibt kein Unbewußtes, das ist ein Irrbegriff (T 143:413 u. 720; 144:959). Wer wie Freud und Thomas Mann Vernunft aus „mystischem Irrsinn (tabu Totem u. dgl.)“ entwickelt, läßt sich selbst schlau aus dem Spiel (T 143:789). F/M nimmt Kenntnis von zeitgenössischen Ethnologen, etwa Lévy-Bruhl. Amulette mögen praktische Wirkung haben (T 145:531). Das Ich-Heliozentrum sei der „Makranthropos“, an dem Mineral, Pflanze und Tier partizipieren. „Die Magie der Primitiven profitiert davon.“ (T 145:374).

Daß der Heliozentralgedanke sich popularisieren läßt, beweisen F/Ms groteske Elegien Freudentränen (GS 16;T 144:1093; 145:74 ff.). Er notiert einen Traum, erinnert sich an Äußerungen seines Vaters (T 145:542 u. 281) und des 1920 gestorbenen Freundes Ludwig Rubiner. Bei seinen Relektüren spießt F/M antisemitische...

Erscheint lt. Verlag 27.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
ISBN-10 3-7597-2597-X / 375972597X
ISBN-13 978-3-7597-2597-4 / 9783759725974
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