Qualitäten der Freiheit (eBook)
495 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4606-6 (ISBN)
Ludger Schwarte, Prof. Dr., ist Professor für Philosophie an der Kunstakademie Düsseldorf.
2.Politische Freiheit
Spuren einer demokratischen Utopie
Vielleicht ist es ein Fehler, die Analyse einer politischen Struktur, in der sich Freiheit verwirklichen kann, mit einer Rückversicherung in der Theorie und Praxis der Demokratie zu beginnen. Was ist nicht alles Demokratie genannt worden? Anstatt von »der Demokratie« zu sprechen, sollten wir vielleicht einfach eine »Freistätte«, ein Asyl der Ungezwungenheit, eine autonome Gesellschaft, eine freie Welt imaginieren und dafür einen anderen Namen finden.
Zwei Gründe sprechen dennoch dafür, sich noch einmal dessen zu vergewissern, was Demokratie genannt wird: erstens aus dem schon von Rousseau angeführten Grund, dass, was wirklich gewesen ist, auch möglich sein muss (und also nicht als Traumgespinst abgetan werden kann), und zweitens, um nicht nur den Diskussionskontext der Gegenwart zu adressieren, sondern gewissermaßen auch eine Archäologie der eigenen Vorverständnisse, Ideale und Hoffnungen zu versuchen. Rührt nicht die Frustration über die heutige politische Situation auch aus der Ahnung, ja dem Wissen her, dass es schon Zeiten größerer politischer Freiheit gegeben hat?
2.1Zeiten politischer Freiheit
Dieses zweite Kapitel setzt sich deshalb zum Ziel, die offenen Zukünfte, auf die autonomes Handeln strukturell angewiesen ist, als utopisches Potenzial der Demokratie historisch zu sondieren und theoretisch zu rekonstruieren, so dass Kennzeichen und Ziele politischer Freiheit deutlich hervortreten.
Konkret soll, auch im Rückblick auf drei historische Phasen (Antike, Frühe Neuzeit, Moderne), untersucht werden, welche Konzepte von Demokratie sich mit der Vorstellung einer gesellschaftlichen Entwicklung verbinden, auf welche Weise Idealzustände als explizit demokratische ausgemalt wurden und inwiefern das utopische Denken hilft, den Prozess der Demokratisierung mit einer neuen, zukunftsfähigen Ausrichtung zu versehen.
Bislang wurde der Beitrag utopischen Denkens zum Verständnis der Demokratie meist übergangen. Dieser Beitrag liegt nicht zuletzt darin, die Vielfalt und Veränderbarkeit demokratischer Institutionen und die Bedeutung einer Zielorientierung herauszustellen. Die bisherige Theoriebildung hat Demokratie meist als »fait accompli« betrachtet und eine Gruppe von Institutionen als Kennzeichen demokratischer Systeme zum Ausgangspunkt genommen, ohne geklärt zu haben, inwiefern deren kontingente Entstehung das demokratische Denken geprägt hat und ob sie zu Recht demokratisch genannt werden.
Im ersten Schritt soll untersucht werden, welche Ideen, Orte, Prozesse und Institutionen als ursprüngliche Kennzeichen der Demokratie gelten können. Hier wird der Versuch unternommen, die philosophischen Gründe für diese auch heute noch Erstaunen provozierenden institutionellen Wagnisse zu systematisieren. Dabei wird der Fokus auf die zeitliche Struktur demokratischer Entscheidungsprozesse gerichtet und die Frage gestellt, ob hierin bereits ein wesentlicher Zug der Demokratie liegt: in der Zyklizität und Revision, in der Vielfalt und Veränderbarkeit, in der Öffnung und Überprüfung, in der produktiven Arbitrarität und plastischen Freiheit der Verfahren. Im Anschluss soll die Hypothese verfolgt werden, dass es nicht nur Räume (Konstellationen, Orte, Institutionen), sondern auch Zeiten (Ereignisse, Anachronismen, Langzeitprozesse) politischer Freiheit gibt, die bislang zwar durchaus anerkannt, aber nicht angemessen theoretisch reflektiert wurden.
Intendiert ist dabei kein Ideal, sondern die Praxis der antiken Demokratie. Dabei soll nicht behauptet werden, dass für die gesamte Geschichte der athenischen Demokratie die von mir hervorgehobenen Aspekte, Elemente und Strukturen wesentlich gewesen sind. Eine philosophische Extrapolation auf der Basis antiker Quellen ist nicht mit einer historischen Rekonstruktion der tatsächlichen politischen Abläufe zu verwechseln. Hier soll es lediglich darum gehen, Kennzeichen der Demokratie zu rekonstruieren – aus dem Bemühen heraus, ein kohärentes Konzept von Demokratie zu entwickeln und zu verwenden, dem auch ein Demosthenes, ein Perikles oder ein Chrysipp hätten zustimmen können.
Athen war eine Sklavenhaltergesellschaft und basierte zum großen Teil auf dieser Ökonomie. Frauen und Fremde wurden vom politischen Raum ausgeschlossen und tendenziell unterdrückt. Es gab keinen Minderheitenschutz und keine Menschenrechte. In vielerlei Hinsicht kann man das politische System auch nach 507 v. Chr. für grausam, rassistisch, sexistisch, ethnozentrisch und auch oligarchisch halten (weil wenige Familien die politischen Geschicke dominierten). Allerdings galt das von den meisten Stadtstaaten der antiken Welt und gilt zum Teil noch vielerorts in unserer Gegenwart. Was die antike Demokratie von politischen Systemen in Sparta, in Sizilien oder im Persien eines Dareios I. oder Xerxes I. unterschied: Das ist es, was in der politischen Theorie auch heute noch besondere Beachtung verdient.
2.2Die bunten Ziele der Demokratie
Will man Demokratie nicht auf die Gleichheit vor dem Recht (Isonomia) einengen und sich auch nicht von der diachronen und synchronen Vielfalt ihrer historischen Ausprägungen verwirren lassen, gilt es, die sie leitende Idee politischer Freiheit zu rekonstruieren und damit die Fluchtlinie demokratischer Entwicklungen neu anzupeilen. Einen Ausgangspunkt dazu bietet Aristoteles in seiner Politik, worin er es unternimmt, sich mit »d[en] Postulate[n], de[m] Charakter und d[en] Ziele[n] der verschiedenen demokratischen Verfassungen auseinandersetzen.«1
Aristoteles ist bekanntlich kein Anhänger oder Theoretiker der Demokratie und sein Buch enthält die Unterscheidung verschiedener Modelltypen auf der Basis ihrer (postulierten) historischen Abfolge. Nichtsdestoweniger liegt in seinem Versuch, Politiken hinsichtlich ihrer Ziele zu unterscheiden, bereits ein Argument, demzufolge weder die historische Wirklichkeit noch dieses oder jenes institutionelle Merkmal allein ausreichend ist, um das Wesentliche der Demokratie im Unterschied zur Monarchie oder zur Oligarchie zu treffen, sondern dass dies vor allem hinsichtlich der Grundannahmen und der Zielorientierung gelingt.
Aristoteles zufolge liegt das Wesen der Demokratie in der Freiheit (Eleutheria). Kennzeichen der Demokratie ist es, dass alle ihre Bürger frei sind, in allen Regierungsfunktionen mitzuwirken, die turnusmäßig verlost werden, und dass alle über alles zu Gericht sitzen; dass es keine Eigentums- oder Bildungsqualifikation für politische Ämter gibt und dass alle gleichmäßig der Zahl nach herrschen.2 Dieser Definition gemäß erscheint Aristoteles die Auswahl von Amtsträgern nach Ansehen oder Stand als aristokratisch; demokratisch ist das Los. Oligarchisch sei bei Platon, Aristoteles zufolge, dass es in seinem Modell keine Aufwandsentschädigungen gebe für die Teilnahme und Übernahme von Ämtern, dass heftige Strafen verhängt würden, dass Amtswürde eine Bildungsfrage sei und dass die Künste zensiert würden. Was hier unter politischer Freiheit zu verstehen ist, wird im Laufe der folgenden Passage noch deutlicher:
»Voraussetzung der demokratischen Verfassung ist die Freiheit. Das ist ja die gewöhnliche Rede, daß die Bürger bloß in dieser Verfassung Freiheit genießen; denn das, sagt man, setzte jede Demokratie sich zum Ziele. Ein Aspekt von Freiheit ist, daß man sich im Wechsel beherrschen läßt und herrscht (archesthai kai archein; Übs. mod). Denn das demokratische Recht besteht darin, daß alle das Gleiche der Zahl nach haben, nicht dem Verdienste nach, und wenn das Recht darin besteht, so ist notwendig die Menge der entscheidende Faktor, und ist notwendig das, was die Mehrheit beschließt, das Endgültige und dieses das Recht. Denn man sagt, daß jeder Bürger das Gleiche haben müsse; und so ist die Folge, daß in den Demokratien die Armen mehr gelten als die Reichen. Denn sie bilden die Mehrheit, und was die Mehrheit beschließt, das gilt. Dies ist denn das eine Zeichen der Freiheit, das alle Demokraten als die Begriffsbestimmung der demokratischen Verfassung aufstellen; ein zweites aber ist, daß jeder in der Republik lebt, wie er will [zèn hos bouletai tis]; dies soll der Freiheit eigen sein, wenn anders es den Sklaven charakterisiere, daß er lebt, wie er nicht will. Dieses Moment bedeutet also eine zweite Begriffsbestimmung der Demokratie, es treibt aber das Prinzip, wonach man womöglich keinem [mè archesthai] oder doch nur abwechselnd gehorcht, aus sich hervor und erfüllt insofern das Postulat der gleichen Freiheit [eleutherian tèn kata to ison] für alle.«3,4
Diese Zielbestimmungen der Demokratie, die Aristoteles vornimmt, sind aus verschiedenen Gründen bemerkenswert: (a) Er gibt zwei Bestimmungen der Freiheit an: eine betrifft die kollektive Entscheidung, die nach dem Prinzip der zahlenmäßigen Gleichheit getroffen wird; eine zweite betrifft die...
Erscheint lt. Verlag | 30.4.2024 |
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Reihe/Serie | Blaue Reihe |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Demokratie • Kommunikationswissenschaft • Konsensbildung • Politische Philosophie |
ISBN-10 | 3-7873-4606-6 / 3787346066 |
ISBN-13 | 978-3-7873-4606-6 / 9783787346066 |
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