Mission Fühlen (eBook)
288 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491812-9 (ISBN)
Alexandra de Carvalho, geboren 1989, ist psychologische Psychotherapeutin und forscht in dem noch jungen Feld der Weltraumpsychologie. Dabei untersucht sie, welche Gefühle Menschen in Extremumgebungen erleben, wie sich die Gruppendynamik während einer Mission verändern kann und welche Strategien gegen Langeweile im Raumschiff sinnvoll sind. Sie leitet seit 2015 das Team »Humane Faktoren« beim Österreichischen Weltraumforum und führt in verschiedenen Organisationen für Analog-Missionen Auswahl- und Trainingsprozesse durch. Wenn sie nicht gerade mit Analog-Astronaut*innen Reisen zum Mars simuliert, begleitet sie Menschen psychotherapeutisch und gibt Workshops und Lehrveranstaltungen zum Thema »Psyche in Extremumgebungen«.
Alexandra de Carvalho, geboren 1989, ist psychologische Psychotherapeutin und forscht in dem noch jungen Feld der Weltraumpsychologie. Dabei untersucht sie, welche Gefühle Menschen in Extremumgebungen erleben, wie sich die Gruppendynamik während einer Mission verändern kann und welche Strategien gegen Langeweile im Raumschiff sinnvoll sind. Sie leitet seit 2015 das Team »Humane Faktoren« beim Österreichischen Weltraumforum und führt in verschiedenen Organisationen für Analog-Missionen Auswahl- und Trainingsprozesse durch. Wenn sie nicht gerade mit Analog-Astronaut*innen Reisen zum Mars simuliert, begleitet sie Menschen psychotherapeutisch und gibt Workshops und Lehrveranstaltungen zum Thema »Psyche in Extremumgebungen«.
Ready for take-off?
Houston, wir müssen mal über Gefühle reden!
Innsbruck! Ein Sandsturm! »Och nee!« Zu meiner linken Seite stützt unser Teamarzt das Gesicht in seine Hände. »Das jetzt auch noch. Die Hitze im Feld reicht mir, ehrlich gesagt. Schau dir mal bitte ihren Puls an. Das ist zu warm da draußen, sie muss ins Habitat zurückkommen.« Ich rutsche ein paar Zentimeter nach links und schaue auf einen Bildschirm, der die Telemetrie abbildet. Herzrate, Temperatur, Puls. Alle Werte befinden sich in einem Bereich, der mir sagen soll: Rund 3000 Kilometer entfernt steckt gerade eine sogenannte Analog-Astronautin in einem Raumanzugsimulator in der Wüste, sammelt Gesteinsproben und schwitzt. Eine Analog-Astronautin ist eine Raumfahrerin, die auf der Erde wissenschaftliche Erkenntnisse für zukünftige astronautische Raumfahrtmissionen sammelt. Dafür simuliert sie mit einem sechsköpfigen Team einen Aufenthalt auf dem Planeten Mars mit allem, was dazugehört. Weltraumdusche. Astronautenfutter. Experimente. Vier Wochen lang. Ein silbernes Habitat – eine Art Wohnkuppel – zum Schlafen, Essen und »zur Erde« Kommunizieren. Spaziergänge durch die »Marswüste« finden nur in einem schweren Raumanzug statt. Währenddessen sitze ich in Innsbruck in einer Lagerhalle, die als Mission Support Center dient. Aus dem Fenster fällt mein Blick auf den ersten Winterschnee, den ich auf den Berggipfeln erahnen kann. Ganz andere Welt!
Plötzlich fliegt die Tür zum Flight Control Room auf, und die Frau, die sich um die Durchführung aller wissenschaftlichen Experimente kümmert, kommt hereingestürmt. »Was ist da los? Ich dachte, heute machen wir das Experiment. Die Wissenschaftler brauchen endlich ihren Datensatz.« Neben mir schüttelt der Arzt den Kopf: »Die müssen wohl erst mal warten. Es ist zu warm im Anzug. Du weißt doch: Safety first! Und dann erst Science und Simulation! Es geht immer erst mal darum, dass es unseren Analog-Astronauten gut geht!« Die Frau schaut nicht gerade begeistert. »Wir haben auch eine Rückmeldung direkt aus dem Feld«, schaltet sich nun eine weitere Stimme ein. »Earth Com« – also die Person, die mit den Menschen im Feld über Chat spricht: »Die Astronautin möchte weitermachen. Sie sagt, sie fühle sich fit!« Ich blicke in ratlose Gesichter. Wer soll nun entscheiden? »Das ist knifflig«, sage ich, »auf der einen Seite müssen wir die Telemetrie beachten und die Astronauten davor schützen, wenn sie sich selbst überschätzen. Aber auf der anderen Seite müssen wir auch die Erfahrungswerte aus den letzten zwei Wochen im Feld beachten, die das Team dort gesammelt hat.« Ich merke, dass sich Spannung bei allen Beteiligten im Mission Support Center aufbaut. Alle wollen, dass die Mission erfolgreich verläuft, aber natürlich schaut jedes Teammitglied auch auf seine eigenen Bereiche. Experimente durchführen, medizinische Sicherheit gewährleisten oder im Raumanzug auf dem Rover durch die Wüste fahren. Und ich? Was will ich? Ich möchte in meiner Rolle als Teampsychologin, dass es allen Beteiligten bei dieser Analog-Mission, psychisch so gut wie möglich geht. Das ist unter den Bedingungen, unter denen wir zusammenarbeiten, ziemlich komplex. Kommunikation zwischen dem simulierten Mars – einem Habitat in der israelischen Wüste – und der Erde – eine Lagerhalle in Innsbruck – findet ausschließlich über Chat statt. Um die Entfernung zwischen Erde und Mars nachzuahmen, dauert es zehn Minuten, bis Nachrichten übermittelt werden. Temperaturumschwünge werfen unsere Pläne oft um. Im Habitat ist es meist zu laut oder zu eng zum Schlafen. Dichte Arbeitspläne stressen die kleine Crew. Und ab und an hat auch mal jemand Heimweh nach einer echten Dusche, oder es herrscht dicke Luft in der Gruppe.
Kommt dir bekannt vor? Für solche Situationen muss man sich weder auf dem Mars noch auf einer Analog-Mission in der Wüste befinden. Undefinierte Arbeitshierarchien. Eine viel zu enge Wohnung. Und auf WhatsApp wieder keine Antwort bekommen? Auch unser eigenes Leben kann sich manchmal wie eine Extremexpedition anfühlen. Wir jonglieren Kinderversorgung, Job und Angehörigenpflege innerhalb eines viel zu kurzen Arbeitsalltags. Manche von uns fühlen sich so einsam und entfremdet von ihren Mitmenschen, als würden sie Planeten voneinander trennen. Wir balancieren zwischen Langeweile und Überforderung, führen Konflikte und versuchen, über 13-Zoll-Bildschirme Beziehungen mit Menschen am anderen Ende der Welt herzustellen.
Und außerhalb deines Mikrokosmos? Auch da herrschen krasse Krisen. Oder wie es die Wissenschaft formuliert: »kollektive Grenzsituationen«[1], die den Verlust an Stabilität in unserer Welt beschreiben. Lassen wir die Nachrichten-Pop-ups im Handy mal Revue passieren: Menschengemachte Krisen, wo man hinsieht, und alle stellen uns täglich vor neue Herausforderungen. Pandemie, Klimakrise, Kriege, Inflation und Energieknappheit reihen sich aneinander und übertünchen nur marginal schon bestehende Alltagsprobleme wie Fachkräftemangel, mangelhafte Betreuungs- und Ausbildungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche, Pflegenotstand, Mieterhöhungen und das Gefühl, trotz fünf verschiedener Dating-Apps eigentlich niemanden zum Reden zu haben. Wie soll man damit klarkommen? Und wie soll man sich dabei fühlen?
Genauso wie viele Freundinnen, Nachbarn oder Arbeitskolleginnen suche ich ebenfalls immer wieder nach Möglichkeiten, um diese Zeiten gut zu meistern. Von dieser Suche handelt mein Buch. Mein Ziel: Erkenntnisse aus zwei Bereichen zusammenbringen, die unterschiedlicher nicht sein könnten – aus der Arbeit im Weltraum beziehungsweise in Extremumgebungen und der Psychologie. Dahinter verbirgt sich eine eigene Disziplin – die »Weltraumpsychologie« oder auch »Raumfahrtpsychologie«. Wahrscheinlich hast du noch nie etwas davon gehört, oder? Dieser eher unbekannte Teilbereich der Psychologie untersucht, wie sich Astronautinnen, aber auch Menschen in extremen Umgebungen auf der Erde unter Belastung verhalten und fühlen. Von den Methoden der Weltraumpsychologie und den Erfahrungen dieser Menschen können auch wir in unserem ganz irdischen Alltag profitieren. Versprochen!
Wie komme ich dazu, mich mit Raumfahrtpsychologie zu beschäftigen? Ich gehörte schon als Kind zum Subtypus neugieriger Nerd. Von 1994 aufwärts durfte ich diverse kindertaugliche Science-Fiction-Sendungen rauf und runter schauen, die auf dem Röhrenfernseher im Wohnzimmer Raketenstarts und intergalaktische Begegnungen zeigten. 1997 kam der NASA-Lander »Pathfinder« auf dem Mars an, und ein Jahr später wurde »Sarya«, das erste Modul der ISS, ins Weltall geschossen. Das Weltraumteleskop »Hubble« schickte derweil Bilder aus dem All. Ich wollte unbedingt Astronautin werden, musste aber auf der Rückbank des Opel Corsa einsehen, dass mein Magen nicht die Resistenz hatte, die ich für einen Flug ins All brauchen würde. Trotzdem blieb ich der Raumfahrt emotional verbunden.
Was mich bis heute fasziniert, ist nicht nur die Tatsache, dass Menschen ins All reisen, sondern vor allem die dahinterstehende Mentalität. »Das geht nicht« gibt es hier nicht, sondern ein »Lass uns das Unmögliche ausprobieren«. Einfach mal machen. Dabei rückte für mich die Frage nach dem Menschen und seinen Motiven immer mehr in den Vordergrund. Warum reisen Menschen ins All? Und was fühlen sie dabei? Und um das zu verstehen, studierte ich erst mal Psychologie und approbierte als psychologische Psychotherapeutin. In meinem Alltag begegne ich nun Menschen, die psychotherapeutische Unterstützung suchen und mit Depressionen, Ängsten, Suchterkrankungen oder Lebenskrisen zu mir kommen. Psychotherapeutin zu sein bedeutet für mich, Menschen dabei zu helfen, sich zu erden, und mit ihnen gemeinsam einen sicheren Raum zu schaffen, aus dem heraus sie sich wieder neue Horizonte für ihr Leben erschließen können. Dabei hilft die astronautische Mentalität: »The sky is not the limit«. Auch wenn es uns manchmal unmöglich erscheint, für unsere Sorgen einen Ausweg zu finden, kann es uns doch gemeinsam gelingen.
Seit rund neun Jahren arbeite ich zusätzlich als Teampsychologin mit sogenannten Analog-Astronauten zusammen, die auf der Erde testen, was Menschen brauchen, um eine lange Zeit abseits der Erde psychisch und körperlich zu überleben und zurechtzukommen. Starten wir mit einem kleinen Einblick in die Weltraumpsychologie – und was sie mit unserem Alltag zu tun haben könnte.
Wie passt Raumfahrt mit Gefühlen und damit im weitesten Sinne mit Psychologie überhaupt zusammen? Fühlen ist nicht unbedingt das Erste, was man mit astronautischer Raumfahrt verknüpft. Für Astronautinnen ist es immer noch stark stigmatisierend, sich psychologische Hilfe zu holen. Das hat seinen Grund: Die Raumfahrt entspringt militärischen Strukturen. The Right Stuff, ein Spielfilm, der auf einem Roman von Tom Wolfe basiert, prägte Anfang der 1980er Jahre das Bild von Astronauten. Ulrich Walter beschreibt die damalige Wahrnehmung in seinem Buch Reiseziel Weltraum mit einem »unausgesprochenen Kodex von Tapferkeit und Machogehabe, der sie nicht nur Militärjets, sondern auch Raketen besteigen ließ, deren unbemannte Testversionen man beim Start nicht selten explodieren sah.«[2] Platz für Gefühle? So wie Astronautinnen wahrgenommen werden, eher Fehlanzeige. Dieses Bild hält sich bis heute noch hartnäckig. Chris Hadfield, ehemaliger kanadischer Astronaut, schreibt in seinem Buch Anleitung zur Schwerelosigkeit über das gesellschaftliche Bild von Astronauten: »In Filmen mühen...
Erscheint lt. Verlag | 28.8.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Angst • Astronaut • Beziehungen • Einsamkeit • Emotionen • Gefühle • Gelassenheit • innere Ruhe • Krisenbewältigung • Lebenshilfe • Mehr Widerstandskraft im Alltagsleben • Persönlichkeitsentwicklung • Psyche • Psychologie • Psychologische Methoden für mehr Zusammenhalt • Psychotherapeut • Psychotherapeutische techniken für Zuhause • Psychotherapie • Resilienz • Selbsthilfe bei Zukunftstängsten • Strategien gegen Alltagsstress • Strategien gegen Einsamkeit • Stress • Stressbewältigung • Wege zu einer stabilen mentalen Gesundheit • Weltraum • Widerstandskraft • Wissenschaftlich fundierte Krisenbewältigung |
ISBN-10 | 3-10-491812-0 / 3104918120 |
ISBN-13 | 978-3-10-491812-9 / 9783104918129 |
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