Ovids Weltgedicht der ›Metamorphosen‹ (eBook)

Zur Intertextualität als Multiplikationsfaktor

(Autor)

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2023
343 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-078509-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ovids Weltgedicht der ›Metamorphosen‹ - Eltje Böttcher
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Eltje Katharina Böttcher, Christian-Albrechts-Universität Kiel, Deutschland.

1 Einleitung


In nova fert animus mutatas dicere formas

corpora: di, coeptis (nam vos mutastis et illa)

adspirate meis primaque ab origine mundi

ad mea perpetuum deducite tempora carmen.

Mich drängt der Sinn, von Gestalten zu singen, die in neue Körper verwandelt

wurden; Götter, inspiriert mein Vorhaben (denn ihr habt auch dieses verwandelt)

und führt mein Lied ununterbrochen fort vom ersten Anfang der Welt

bis in meine Gegenwart.

(Ov. met. 1,1–4)

Dicht und programmatisch beginnt das Proöm der Metamorphosen – der Sinn dieser ersten vier Verse gibt sich dabei schillernd und pointenreich.1 Zunächst werden dem Leser dichterische Originalität und Verwandlungserzählungen in Aussicht gestellt. Die Anfangsidee für das Werk, so erfährt er im zweiten Vers, habe bereits selbst einen Wandel vollzogen und solle nun durch göttliche Inspiration in eine neue Richtung weitergeführt werden. Im Ergebnis solle eine fortlaufende Geschichte entstehen, die von Anbeginn der Welt bis in die Gegenwart des Erzählers führe. Insgesamt finden sich über 250 Einzelmythen im Gesamtwerk, denn anders als andere antike Epen erzählt das Werk nicht die Abenteuer eines einzelnen Helden und seiner Nebenfiguren, sondern widmet sich einer Vielzahl unterschiedlicher Figurenschicksale in ihrem Wandel durch Raum, Zeit, ihrer Gestalt und ihrem individuellen Charakter.

Zur Beschreibung der Metamorphosen fällt häufig der Begriff eines „Weltgedichts“,2 und tatsächlich weist das Werk Eigenschaften auf, welche diese Bezeichnung auf unterschiedlichste Weisen verdient machen. Zunächst umfasst die Erzählung in ihrer zeitlichen Dimension, wie bereits im Proömium angekündigt, die gesamte Weltgeschichte vom Chaos über die mythische Zeit der Götter und Heroen bis hin zur Zeitgeschichte von Cäsar und Augustus. Rückblenden, Figurenreden und Prophezeiungen sorgen dabei für chaotisch anmutende Zeitsprünge – und doch wird die Kohärenz der Chronologie in diesem carmen perpetuum widerspruchsfrei gewahrt. Doch nicht nur die Zeit, auch der literarisch beschreibbare Raum der Welt wird in einer detaillierten Facettenschau zur Darstellung gebracht: Jede Erzählung weist ihren eigenen Handlungsort auf, vom Olymp bis zur Unterwelt, von Italien bis nach Indien uvm. All diese Einzelorte werden wiederum erzählerisch miteinander verbunden und in ihrer kohärenten Beziehung zueinander gezeigt. So breitet sich im Laufe des Gedichts Puzzleteil für Puzzleteil die gesamte Weltkarte vor dem Leser aus.

Innerhalb dieser Dimensionen von Zeit und Raum bevölkert ein umfangreiches Figureninventar die Werkwelt. Neben bereits vorher prominentem Personal der griechisch-römischen Mythologie und Geschichte, wie etwa Hercules (met. 9,1–315 u.a.), Medea (met. 7,1–158 u.a.), Circe (met. 14,8–439 u.a.), Aeneas (met. 13,623–14,608) oder Cäsar (met. 15,745–851 u.a.), finden sich zahlreiche bis dahin unbekanntere (und manchmal vielleicht sogar neu erfundene Figuren) wie Dianas thebanische Friseurin Crocale (met. 3,168–179), die babylonischen Liebenden Pyramus und Thisbe (met. 4,55–166), der sizilische Flussgott Acis (met. 13,750–897) oder die italische Nymphe Canens (met. 14,320–385) erzählerisch miteinander zu einem Netzwerk verbunden, das in seiner Gänze die ganze Weltgeschichte durchzieht. Bisweilen werden dabei Figuren, die in der Tradition als unwichtige Nebenfiguren fungierten, in den Fokus der Erzählung gerückt, indem sie eine handlungsrelevantere Rolle, einen Namen oder eine Innenperspektive auf das Geschehen erhalten. Dies ist etwa der Fall, wenn der einsichtige Seeräuber Acoetes, im homerischen Dionysoshymnos als namenloser Steuermann genannt, in einer späteren Station seines Lebens als Anhänger des Bacchus gezeigt wird, der Pentheus rückblickend von Bacchusʼ Entführung berichtet (Hom. Hymn. 7, 15–55; met. 3,572–700), oder wenn Odysseusʼ ehemaliger Gefährte Macareus erzählt, was ihm eine Magd in Circes Palast über ihre Herrin berichtet habe (met. 14,320–385). Dies führt so weit, dass die gesamte tyrrhenische Seeräubermannschaft (met. 3,615–619) und sogar die Jagdhundmeute des Actaeon (met. 3,206–236) jeweils passende Eigennamen, eine Genealogie und individuelle Eigenschaften und Interessen für das Geschehen erhalten. Die Metamorphosen scheinen somit den Versuch darzustellen, so viele Geschichten wie möglich innerhalb einer komplexen, kohärenten Einheit darzustellen und zugleich jede noch so kleine Figur darin in ihrer jeweils individuellen Rolle für das gesamte Weltgeschehen zu zeigen.

Neben der Einheit dieser zahlreichen Figuren und ihrer Geschichten innerhalb einer einzigen Weltgeschichte wird außerdem die Facettenvielfalt ihrer individuellen Charaktere zur Darstellung gebracht. Indem immer wieder ähnliche Typen von Figuren und ihren Schicksalen miteinander parallelisiert oder kontrastiert dargestellt werden, sind sie stets vor der Folie der vorausgegangenen Darstellungen zu lesen, was die Variation der Details in den Vordergrund rückt. Diese Vielfalt von Facetten wird wiederum noch weiter aufgefächert, indem die Erzählungen aus den Perspektiven vieler unterschiedlicher Figuren berichtet werden – bisweilen erhalten wir auf diese Weise sogar auf ein und dieselbe Handlung verschiedene Blickweisen, die zu unterschiedlichen Zeiten und von mehreren Figuren eingenommen werden. Diese Figurenreden machen mit 52% einen Großteil des Werkes aus.3 All diese Erzählfiguren sind unsichere Erzähler und auch der Primärerzähler selbst wird in seinen 48% Textanteil vielfach als parteiischer, unzuverlässiger Erzähler markiert, der obendrein seine Erzählhaltung und Wertung dem Geschehen gegenüber mehrfach ändert. Scheinbare Widersprüche in der Handlungskohärenz lassen sich zumeist mit einem Blick auf die Sprechsituation und die Figurensicht auf das jeweils Erzählte auflösen.

Alle redenden Figuren und auch der Primärerzähler selbst lassen sich als interne Erzähler innerhalb der Werkwelt fassen. Bereits der dritte Vers nach dem Proömium verweist außerdem auf weitere, anonyme Erzählinstanzen, welche die Welt bereits vor ihrer eigentlichen Schöpfung beobachten und sprachlich kommentieren (met. 1,5–7: Ante mare et terras et, quod tegit omnia, caelum / unus erat toto naturae vultus in orbe / quem dixere chaos).4 Kommentare wie dieser, welche auf eine geschichtstradierende Instanz noch über dem Primärerzähler selbst verweisen, finden sich im Laufe des gesamten Werkes in großer Zahl und schließen das Gedicht sogar ab (met. 15,875–879, bes. 878f.: ore legar populi, perque omnia saecula fama, / siquid habent veri vatum praesagia, vivam).5

Auch außerhalb des Werkes reflektiert der Dichter im Rückblick auf die Metamorphosen dessen Erzählprozess. Dabei führt er unter anderem ebendieses Beispiel einer Überlieferung über das Chaos sowie über die Angewiesenheit der Götter auf Dichter an (Pont. 4,8,55–58: Di quoque carminibus, si fas est dicere, fiunt / tantaque maiestas ore canentis eget. Sic Chaos ex illa naturae mole prioris / digestum partes scimus habere suas).6 Es scheint daher, dass das Werk der Metamorphosen nicht nur eine Geschichte vom Wandel ist oder eine ‚Erzählung von der Weltgeschichte‘ darstellt; es scheint vielmehr eine ‚Erzählung von der Erzählung der Weltgeschichte‘ zu bieten und bildet auch in diesem Sinne ein „Weltgedicht“.

Die 12.000 Verse der Metamorphosen bieten nun durchaus die Möglichkeit, eine Vielzahl von Einzelfiguren zu vielen Zeiten an zahlreichen Orten in ihren jeweiligen Geschichten und Blickweisen auf das Weltgeschehen darzustellen. Doch auch ein Großwerk von 15 Büchern stößt an seine Grenzen, wenn es die gesamte Weltgeschichte mit all ihren Zeiten, Orten, Figuren und Facetten fassen will. Zugleich finden sich immer wieder intertextuelle sowie intermaterielle Bezüge, die auf weitere Sagen verweisen, die im Metamorphosenwerk selbst nicht erzählt werden. Solche Bezüge sind schon Ovids Zeitgenossen in dessen Werken aufgefallen; der ältere Seneca stellt Ovids intertextuelle Strategie Vergil und anderen Autoren gegenüber so dar, dass Ovid bewusst bewirken wollte, dass seine Leser die Bezüge bemerken und, so lässt sich der Gedanke wohl fortführen, die Kenntnisse aus dem Vorgängertext in ihr Sinnverständnis des vorliegenden Textes mit einbeziehen (Sen. Suas. 3,7: fecisse illum, quod in multis aliis versibus Vergilii fecerat, non subripiendi causa sed palam mutuandi, hoc animo ut vellet agnosci).7 Mithilfe dieser Bezüge, so lautet die These, werden die Grenzen der dargestellten Werkwelt erzählerisch erweitert und überwunden, indem durch lose Erzählfäden, Andeutungen und Verweise auf die Tradition oder konkrete Werke weiterer Autoren auch unerzählte Sagen Teil der Werkwelt werden.

In der Untersuchung Ovids Weltgedicht der Metamorphosen. Zur Intertextualität als Multiplikationsfaktor wird nach der Diskussion des Forschungsstandes (Kap. 2 und 3) zunächst gezeigt, dass die Einheit dieser Vielheit im „Weltgedicht der Metamorphosen“ tatsächlich widerspruchsfrei und kohärent konzipiert ist (Kap. 4). Weiter wird die auffallende Vielfalt der Figuren, ihrer Handlungen und Facetten vorgestellt (Kap. 5). Auf dieser Grundlage wird schließlich exemplarisch untersucht,...

Erscheint lt. Verlag 20.11.2023
Reihe/Serie Göttinger Forum für Altertumswissenschaft. Beihefte N.F.
Göttinger Forum für Altertumswissenschaft. Beihefte N.F.
ISSN
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Zusatzinfo 3 col. ill.
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie Altertum / Antike
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte Intertextualität • Intertextuality • Metamorphosen • Metamorphoses • Ovid • weltgedicht • world poem
ISBN-10 3-11-078509-9 / 3110785099
ISBN-13 978-3-11-078509-8 / 9783110785098
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