Chronische Schmerzen verstehen und behandeln (eBook)
200 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-034240-8 (ISBN)
Dr. med. Doris Ch. Klinger ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, spezielle und psychosomatische Schmerztherapeutin, Musikpädagogin und leitet als Klinische Direktorin die Vitos-Klinik für Psychosomatische Medizin in Weilmünster. Prof. Dr. med. Ulrich T. Egle ist Vorsitzender der Interdisziplinären Gesellschaft für Psychosomatische Schmerztherapie. 2016 bekam er den HEIGL-Preis für seine Forschung im Bereich Psychosomatische Schmerztherapie und die Entwicklung eines wirksamen Therapiekonzepts bei stressinduzierten Schmerzstörungen.
Dr. med. Doris Ch. Klinger ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, spezielle und psychosomatische Schmerztherapeutin, Musikpädagogin und leitet als Klinische Direktorin die Vitos-Klinik für Psychosomatische Medizin in Weilmünster. Prof. Dr. med. Ulrich T. Egle ist Vorsitzender der Interdisziplinären Gesellschaft für Psychosomatische Schmerztherapie. 2016 bekam er den HEIGL-Preis für seine Forschung im Bereich Psychosomatische Schmerztherapie und die Entwicklung eines wirksamen Therapiekonzepts bei stressinduzierten Schmerzstörungen.
2 Bio-psycho-soziale Anamnese1
Der erste Kontakt zwischen Arzt und Patient geschieht üblicherweise bei der Erhebung der Anamnese. Durch die Technisierung der Medizin ist das Erlernen ebenso wie die Durchführung einer umfassenden Anamnese in den Hintergrund getreten. Studenten werden von ihren Dozenten – mit Hinweis auf den Zeitdruck des Klinikalltags – auf »Schnell-Anamnesen« trainiert, welche von den spezifischen Gesichtspunkten des jeweiligen Faches geprägt sind. Dabei findet die Abklärung psychosozialer Aspekte in der Regel kaum statt. Dies verhindert eine integrative bio-psycho-soziale Diagnostik und begünstigt die Überbewertung technisch-apparativer Zufallsbefunde und Normvarianten. Ein besonders eklatantes Beispiel ist die Überbewertung von CT- und MRT-Befunden bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen.
Vor dem Hintergrund seines bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells entwickelte G. L. Engel (Morgan & Engel 1977) ein integratives Konzept zur Erhebung der Krankengeschichte (»biographischen Anamnese«), das im deutschsprachigen Raum durch die Arbeitsgruppe von Rolf Adler (Adler & Hemmeler 1992) Verbreitung fand. Im Vordergrund steht dabei – neben dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung – zunächst eine sorgfältige Abklärung der körperlichen und psychischen Beschwerden des Patienten und deren Vorgeschichte sowie die Erhebung vorausgegangener Erkrankungen. Exploriert werden zeitliche Zusammenhänge mit psychosozialen Belastungen (äußere und innere Stressoren) beim jeweiligen Auftreten der Beschwerden. Ausgehend von der Familienanamnese erfolgt dann die Erhebung der biographischen Entwicklung. Dabei sind v. a. jene Einflussfaktoren zu klären, von denen heute als wissenschaftlich gesichert gilt, dass sie zu einer erhöhten Stressvulnerabilität führen können. Zusätzlich sind kompensatorisch wirksame Resilienzfaktoren zu eruieren.
Auch für den betroffenen Patienten ist diese Art der Anamnese als Einstieg in die diagnostische Abklärung ausgesprochen nützlich, macht sie für ihn doch von Anfang an deutlich, dass biologische, psychische und soziale Faktoren zusammengehören und dem Untersucher ihr Ineinandergreifen wichtig ist. Damit kann auch früh der Schwierigkeit entgegengewirkt werden, dass sich der Patient nach Beendigung einer ausschließlich somatischen Diagnostik als Simulant etikettiert fühlt, falls diese keine hinreichenden Befunde erbracht hat.
2.1 Ziele
Diese integrative Form der Anamneseerhebung verfolgt folgende Ziele:
- a)
Den Aufbau einer Beziehung zum Patienten als Grundlage für ein tragfähiges Arbeitsbündnis.
- b)
Die Klärung sowohl der aktuellen körperlichen als auch der psychischen und der sozialen Situation des Patienten (Querschnittsbefund).
- c)
Das Verstehen dieser Situation vor dem Hintergrund der bisherigen biographischen Entwicklung des Patienten (Längsschnittsbefund).
- d)
Die Erkennung seines Beziehungsverhaltens und seiner Strategien im Umgang mit dem Stressor Krankheit.
- e)
Die Exploration von sozialer Unterstützung, individuellen Ressourcen und protektiven Faktoren (Resilienz).
- f)
Das Ergebnis sollte ein valider und reliabler bio-psycho-sozialer Befund sein, der für eine differenzierte Therapieplanung eine fundierte Grundlage bietet.
Die Erhebung einer bio-psycho-sozialen Anamnese hat somit eine Informations- ebenso wie eine Beziehungsfunktion. Durch die Reflexion der im Gespräch ablaufenden Interaktion kann der dafür sensibilisierte Arzt oder Psychologe sich eine weitere diagnostische und therapeutische Dimension erschließen. Aufgrund seiner großen klinischen Erfahrung – vor allem auch als psychosomatischer Konsiliarius – entwickelte Engel das im Folgenden dargestellte Vorgehen der Anamneseerhebung, das natürlich stark schematisiert ist und nur als idealtypischer Leitfaden verstanden werden sollte, der vor allem dem klinisch noch unerfahrenen Untersucher eine Orientierungshilfe bietet.
2.2 Durchführung
1. Der Untersucher begrüßt den Patienten mit seinem Namen, stellt sich vor und definiert seine Rolle (»Vorstellung«). Auch wenn dies vielleicht banal erscheint, so ist es trotzdem erwähnenswert, da vor allem in der Klinik diese Art der Kontaktaufnahme nicht selten übersprungen bzw. nicht hinreichend wichtig genommen wird, sodass der Patient im Nachhinein oft nicht weiß, mit wem er geredet hat und welche Funktion derjenige hat.
Er klärt, ob sich der Patient in der Lage sieht, ein längeres Gespräch zu führen und kümmert sich darum, dass die Rahmenbedingungen (Vertraulichkeit und Datenschutz) hinreichend gewährleistet sind, d. h. möglichst keine Störungen stattfinden und ggf. Mitpatienten in dieser Zeit den Raum verlassen. Er erkundigt sich nach dem augenblicklichen Befinden des Patienten und ergreift die nötigen Maßnahmen, um für das Gespräch eine angenehme Atmosphäre zu schaffen (»Anteilnahme«) und ggf. kommunikative Hindernisse auszuräumen.
2. Wichtig ist auch die Mitteilung des für das Gespräch zur Verfügung stehenden Zeitrahmens, sodass der Patient dieses mitgestalten kann. Der Untersucher skizziert seine Zielsetzung für das Gespräch und die dabei zu erörternden Themen. Er versucht dann, die Themen zusammenzustellen, deren Klärung für den Patienten wichtig sind (z. B. spezielle Symptome und damit verbundene Befürchtungen, besondere Anliegen und Erwartungen, offene Fragen). Falls für den verfügbaren Zeitrahmen zu viele Themen zusammenkommen, versucht der Untersucher eine Priorisierung vorzunehmen und für die ggf. verbleibenden Themen auf einen weiteren Termin zu verweisen.
3. Der Untersucher fordert den Patienten mit einer allgemeinen und offenen Frage auf, alle seine Beschwerden und den Grund für das Aufsuchen des Arztes in seinen Worten zu schildern (»Landkarte der Beschwerden«). Dabei erhält er gleichzeitig einen ersten Einblick in die psychosoziale Situation des Patienten, z. B. wenn der Patient wichtige Bezugspersonen nennt, die ihn in irgendeiner Weise seit dem Auftreten der Beschwerden unterstützen bzw. bereits zuvor unterstützt haben. Im Verhalten des Untersuchers steht aufmerksames Zuhören (offene Fragen, Fördern des Gesprächsflusses des Patienten, nonverbale Ermunterungen, Pausen zulassen, neutrale Äußerungen, Blickkontakt) im Vordergrund. Dadurch gewinnt er zusätzlich Informationen auf der nonverbalen Ebene, z. B. nonverbales Verhalten, Äußeres bzw. Kleidung, vegetative Veränderungen, körperliche Auffälligkeiten. Adler und Hemmeler (1992) wiesen darauf hin, dass aus dem Verhalten des Patienten und der Art der Beschwerdeschilderung erste Hinweise auf seinen Persönlichkeitsstil abgeleitet werden können. So kann etwa eine Darstellungsform, bei der der Patient vor lauter Einzelheiten die Übersicht verliert, auf einen zwanghaften Persönlichkeitsstil hindeuten, ein Überfluten des Untersuchers mit Angaben, sodass dieser keine Fragen stellen kann, auf die Tendenz hinweisen, Wesentliches hinter Vordergründigem zu verbergen, oder sehr abstrakte Darstellungen unter Verwendung von Fachjargon können Anzeichen für die Abspaltung von Gefühlen sein. Neigt der Patient dazu, immer wieder das Gleiche zu wiederholen und lange Pausen einzulegen, aus denen der Interviewer ihn herausholen muss, kann dies als erster Hinweis auf eine zerebrale Insuffizienz oder auch auf ein dissoziatives Geschehen gesehen werden. Die Wahrnehmung und Hypothesenbildung solcher oder ähnlicher Beobachtungen hilft dem Untersucher relativ früh, sein eigenes Vorgehen bei der Gestaltung der Anamnese zu planen, so etwa bei einem immer wieder abschweifenden, detailversessenen Patienten das Gespräch zu straffen.
4. Der Untersucher erforscht die jetzigen Beschwerden (»Symptomabklärung«), indem er jedes der beim 3. Schritt erwähnten Symptome nach den folgenden sieben Kategorien abklärt:
- a)
Lokalisation und Ausstrahlung,
- b)
Qualität,
- c)
Quantität und Intensität,
- d)
Zeitpunkt des Auftretens und zeitlicher Verlauf bis heute,
- e)
Umstände, unter denen das Symptom auftritt,
- f)
Umstände, unter denen es sich intensiviert oder bessert,
- g)
Zusammenhang mit anderen Beschwerden, Begleitsymptome.
Die zu a) bis g) gewonnenen Informationen sind vom Untersucher später mit den bio-psycho-sozialen Informationen in den Schritten 5 bis 8 zu verknüpfen (▸ Abb. 2.1).
Abb. 2.1:Bio-psycho-soziale Anamnese (Egle 2020, nach Adler & Hemmeler 1992)
5. Der Untersucher fragt nach früheren Krankheiten, indem er bereits gemachte Angaben des Patienten aufgreift und versucht, dabei die bisherigen...
Erscheint lt. Verlag | 31.10.2023 |
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Zusatzinfo | 14 Abb., 2 Tab. |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | biopsychosozial • Chronische Schmerzen • Fallbuch • Kasuistik • Psychosomatik • Schmerz |
ISBN-10 | 3-17-034240-1 / 3170342401 |
ISBN-13 | 978-3-17-034240-8 / 9783170342408 |
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Größe: 4,7 MB
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