Philosophie der Kindheit (eBook)

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2023 | 1. Auflage
468 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77604-9 (ISBN)

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Philosophie der Kindheit -
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Was macht eigentlich ein Kind zu einem Kind? Was ist eine gute Kindheit? Sollen Kinder an demokratischen Wahlen teilnehmen dürfen? Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich die Philosophie der Kindheit. Es geht ihr um den moralischen, politischen und rechtlichen Status von Kindern, um den intrinsischen und instrumentellen Wert der Kindheit, um Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen sowie um Kindheit als soziale Konstruktion und anthropologische Universalie. Der Band bietet einen umfassenden Einstieg in die philosophischen Debatten zu diesem Thema. Mit Texten u. a. von Harry Brighouse, Rutger Claassen, Anca Gheaus, James Griffin, Gareth Matthews, Amy Mullin und Adam Swift.



Johannes Drerup ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der TU Dortmund und Gastprofessor an der Freien Universität Amsterdam. Gottfried Schweiger ist Senior Scientist am Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg.

10Johannes Drerup und Gottfried Schweiger

Einleitung: Philosophie der Kindheit


Philosophie der Kindheit beschäftigt sich mit philosophischen Fragen und Problemen, die die Themenfelder Kinder und Kindheit betreffen. Hierzu zählen zum Beispiel Fragen nach dem moralischen, politischen und rechtlichen Status von Kindern und dem instrumentellen oder intrinsischen Wert der Kindheit, nach spezifischen Differenzen zwischen Kindern und Erwachsenen und dem Verhältnis von Kindheit als historisch wandelbarer Konstruktion und anthropologischer Universalie – falls es so etwas wie anthropologische Konstanten gibt – sowie danach, ob es angesichts der historischen und gegenwärtigen Pluralität und kulturellen Varianz von unterschiedlichen Konstruktionen, Gestaltungen und Erfahrungen von Kindheit überhaupt Sinn ergibt, von der Kindheit als Kollektivsingular zu sprechen.

Philosophie der Kindheit kann auf eine lange – selbstverständlich nicht nur westliche – philosophische Tradition zurückblicken[1]  und beginnt sich in den letzten Jahren in der internationalen Diskussion – analog zu anderen philosophischen Arbeits- und Themenfeldern, wie etwa politische Philosophie, Ethik und Moralphilosophie, Philosophie der Religion oder Wissenschaftsphilosophie – als philosophische Disziplin fest zu etablieren. Dies gilt in Ansätzen auch für die deutschsprachige philosophische Debatte, in der sich ein kohärentes und kontinuierlich bearbeitetes Forschungs- und Diskussionsfeld zu den Themenfeldern Kinder und Kindheit herauszubilden beginnt.[2] 

11Die Relevanz der hier verhandelten Themen beschränkt sich gleichwohl nicht auf die sich entwickelnde philosophische Fachdiskussion, da die entsprechenden Fragen in vielen unterschiedlichen humanwissenschaftlichen Disziplinen immer schon, wenn auch oftmals eher implizit, präsent sind und mitverhandelt werden, ohne dass aber die dabei zu berücksichtigenden philosophischen Fragen und Prämissen immer auch systematisch als solche ins Blickfeld gerückt und geklärt würden. Dies ist einer der Gründe dafür, Philosophie der Kindheit als philosophisches Forschungsfeld zu begreifen, das in fließenden Übergängen und enger Kooperation zu unterschiedlichen Disziplinen zu verorten ist, die sich auf die eine oder andere Art mit den Themen Kinder und Kindheit befassen. Dabei gilt es wechselseitig voneinander zu lernen und sich auf blinde Flecken aufmerksam zu machen, statt zwecks Durchsetzung disziplinär gebundener Deutungshoheiten oder Wahrung disziplinärer Traditionsbestände künstliche Grenzen zu ziehen. Kinder und Kindheit betreffende philosophische Fragen und Probleme lassen sich schließlich kaum angemessen in der gebotenen Komplexität bearbeiten, ohne auf Erkenntnisse aus den Einzelwissenschaften zurückzugreifen, das heißt etwa ohne Rekurs auf Erkenntnisse aus der Geschichte der Kindheit, der Soziologie der Kindheit und der Kindheitsforschung, der (Entwicklungs-)Psychologie, der Erziehungswissenschaft und der Erziehungsphilosophie. So muten einige philosophische Auseinandersetzungen, die das Themenfeld Kindheit sozusagen für sich neu entdecken, aus Sicht anderer Disziplinen manchmal eher naiv an, da jahrzehntelange Forschung und noch viel ältere Theorietraditionen zu dem Thema ignoriert werden.[3]  Dies gilt etwa dann, wenn nicht berücksichtigt wird, dass es selbstverständlich internationale erziehungswissenschaftliche und -philo12sophische Auseinandersetzungen mit dem Themenfeld Kinder und Kindheit gibt. Von deren Warte könnte man in einigen wenigen Fällen zu der skeptischen Einschätzung kommen, dass manche mit Novitätsansprüchen versehenen Versuche einer philosophisch ambitionierten Auseinandersetzung mit Kindheit bloß auf eine Form von philosophisch recycelter Reformpädagogik hinauslaufen. Auch werden – so lässt sich vermuten – manche Kindheitsforscher gegebenenfalls mit den Augen rollen, wenn sie mit philosophischen Argumentationen über eine gute Kindheit oder Rechtfertigungen von pädagogischem Paternalismus konfrontiert sind (etwa aufgrund generalisierter Skepsis gegenüber normativen Argumentationen oder auch, weil man solche Argumente angesichts der historischen Gewordenheit, Wandelbarkeit und der Pluralität von Kindheiten für naiv hält), während man umgekehrt aus philosophischer Perspektive darauf hinweisen könnte, dass die genannten methodologischen und metaethischen Selbstfestlegungen im Umgang mit normativen Fragen einer genaueren Prüfung bedürfen, allein schon deshalb, weil solche normativen Fragestellungen und Argumentationsmuster immer schon ständige Begleiter von Kindheitsforschung waren. Dies wird jedoch nur selten in der gebotenen analytischen Klarheit auf den Punkt gebracht und äußert sich stattdessen in den gängigen und eingewöhnten metaphorischen – normativ konnotierten – Konzeptualisierungen von Kindern und Kindheit (etwa in der Debatte über die agency von Kindern, in der oftmals normative und forschungsmethodologische Fragen miteinander vermengt werden und deshalb auch unklar bleibt, ob man davon ausgehen soll, dass Kinder wirklich über eine wie auch immer verstandene agency verfügen oder es sich vielmehr um eine universalistische moralphilosophische Position handelt, wonach sie darüber verfügen sollten[4] ). Und auch in Bezug auf deutschsprachige Erziehungs- und Bildungsphilosophie kann man festhalten, dass die Themen Kinder und Kindheit als dezidiert philosophisch zu bearbeitende Themen – vielleicht mit Blick auf die Disziplin ironischerweise – in den letzten Jahren nicht unbedingt ganz oben auf der Agenda standen und ebenso wie in der allgemeinen philosophischen Diskussion eher randständig blieben.

Solche Blickverengungen und Fragwürdigkeiten, von denen 13auf die eine oder andere Weise kein wie auch immer methodologisch ausgerichteter Ansatz gänzlich verschont bleiben dürfte, gilt es zu benennen und nach und nach in der Diskussion abzubauen, ohne dass dies aber Anlass für die Begründung disziplinärer Superioritätsansprüche böte, deren Behauptung ja manchmal schon auszureichen scheint, eine dezidierte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Theorietraditionen gar nicht erst in Angriff zu nehmen.[5]  Sinnvoller scheint stattdessen die Ausgangsannahme: Jeder Ansatz, jede Tradition und jede Form der Forschung zu Kindern und Kindheit hat jeweils eigene blinde Flecken, stellt andere Fragen, sieht bestimmte Probleme und andere nicht. Gemeinsam kommt man am Ende, so kann man hoffen, bei der Diskussion und analytischen Klärung der relevanten Fragen weiter.[6] 

Viele der zentralen Fragen der Philosophie der Kindheit sind darüber hinaus nicht nur für akademische philosophische und wissenschaftliche Debattenzusammenhänge relevant, sondern betreffen auch dezidiert praktische Probleme[7]  des alltäglichen ethischen, politischen und pädagogischen Umgangs mit Kindern (zum Beispiel im Kontext von Familien oder pädagogischen Institutio14nen) und sind daher zugleich Themen öffentlicher politischer und pädagogischer Auseinandersetzungen (zum Beispiel Debatten über Kinderrechte und ihre Implementierung). Was (wenn überhaupt irgendetwas) gibt Erwachsenen (Eltern, Lehrern etc.) das Recht, advokatorisch für Kinder Entscheidungen zu fällen? Was macht ein Kind eigentlich zu einem Kind? Und welche Unterschiede bestehen zwischen Kindern und Erwachsenen? Gibt es spezifische Güter der Kindheit, die für Kindheit als Lebensphase kennzeichnend und nur Kindern zugänglich sind? Hat Kindheit als Lebensphase überhaupt einen besonderen Wert? Und was macht dann eine gute Kindheit aus? Wie müssten sich gesellschaftliche Verhältnisse ändern, soll allen Kindern eine hinreichend gute Kindheit ermöglicht werden, und wer ist eigentlich dafür verantwortlich? Was sind konstitutive Merkmale einer Familie, und wie sollten die Verhältnisse zwischen Familien und Kindern im liberalen Staat arrangiert und bewertet werden? Wie soll entschieden werden, wenn dabei unterschiedliche Interessen und Rechte, Verantwortlichkeiten und Autoritätsansprüche miteinander kollidieren?

Diese und viele andere Fragen und Probleme sind Thema dieses Bandes, der gleichwohl nur einen Ausschnitt einer überaus vielgestaltigen Debatte vorstellen kann. Mit den vorgenommenen Schwerpunktsetzungen, die eher im Bereich der praktischen und weniger ...

Erscheint lt. Verlag 29.10.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Adam Swift • aktuelles Buch • Amy Mullin • Anca Gheaus • Bildungsgerechtigkeit • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • demokratische Beteiligung • Entwicklungspsychologie • Erziehung • Erziehungswissenschaften • Ethik • Familie • Gareth Matthews • Harry Brighouse • James Griffin • Kinderrechte • Kindheit • Kindheitsforschung • Moralischer Status • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Pädagogik • Paternalismus • philosophische Debatte • Reader • Rutger Claassen • Schulpolitik • STW 2406 • STW2406 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2406
ISBN-10 3-518-77604-5 / 3518776045
ISBN-13 978-3-518-77604-9 / 9783518776049
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