Atheismus (eBook)

Fünf Einwände und eine Frage
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
147 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4511-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Atheismus -  Winfried Schröder
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Wirft man einen Blick auf die greifbare Literatur zum Atheismus, stellt man rasch eine Lücke fest. Zwar gibt es eine Reihe von ausgezeichneten Darlegungen atheistischer Positionen (Ansgar Beckermann, Norbert Hoerster, John L. Mackie), nicht aber eine Diskussion der gegen den Atheismus erhobenen Einwände. Darunter sind etwa die folgenden: Atheisten könnten die Nichtexistenz Gottes nicht beweisen (verträten also eine dogmatische Position); prominente atheistische Argumente (etwa Russells »teapot argument«) seien Fehlschläge; die atheistische Weltsicht sei im Lichte neuerer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse unplausibel; Atheisten bezögen sich auf einen veralteten Gottesbegriff, der nicht mehr der heutigen Theologie entspreche; der Atheismus sei in existenzphilosophischer Perspektive defizitär und mit Verlusten verbunden. Schröder diskutiert diese Einwände mit großer Genauigkeit und kommt zu einem abgewogenen Urteil. Sein Buch leistet einen wichtigen Beitrag zu einer noch längst nicht abgeschlossenen Debatte.

Winfried Schröder ist Professor für Geschichte der Philosophie an der Philipps-Universität Marburg. - Bücher: Spinoza in der deutschen Frühaufklärung (1987). ? Ursprünge des Atheismus (1998; ²2012). - [Hg.] Freidenker der europäischen Aufklärung (1994ff.) - [Hg.] Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung (1999ff.) - Moralischer Nihilismus (2002; ²2005). - Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit (2011; ²2013). - [Hg., mit Christine Haug und Franziska Mayer] Geheimliteratur und Geheimbuchhandel in Europa im 18. Jahrhundert (2011). - [Hg.] Gestalten des Deismus in Europa (2013). - [Hg., mit Sascha Salatowsky] Duldung religiöser Vielfalt - Sorge um die wahre Religion. Toleranzdebatten in der Frühen Neuzeit (2016). - [Hg.] Reading between the Lines. Leo Strauss and the History of Early Modern Philosophy (2016). - [Hg., mit Sonja Lavaert] The Dutch Legacy. Radical Thinkers of the 17th Century and the Enlightenment (2017). - [Hg., mit Sonja Lavaert] Aufklärungs-Kritik und Aufklärungs-Mythen. Horkheimer und Adorno in philosophiehistorischer Perspektive (2018).

ERSTES KAPITEL


ATHEISMUS UND DOGMATISMUS


1 Die Reichweite der These, dass es keinen Gott gibt, variiert in den historischen und aktuellen Spielarten des Atheismus. Der ›globale Atheismus‹ bestreitet die Existenz eines jeden, wie auch immer beschaffenen Gottes; ›lokale‹ Varianten negieren bestimmte Gottesvorstellungen, insbesondere die des Standardtheismus, die denen der abrahamitischen Religionen entspricht (vgl. Diller: Global and Local Atheisms). Auch der epistemische Status der Negation der Existenz Gottes wird unterschiedlich gefasst. Manche Atheisten erheben für ihre Überzeugung einen Wissensanspruch. Andere halten sie insoweit für begründet, als sie als wahrscheinlich zu gelten hat. Allen ist jedoch der Anspruch gemeinsam, dass sie eine argumentativ gesicherte philosophische These vertreten, bei der es sich um mehr als eine bloß rational zulässige Meinung handelt.

Dieses Selbstverständnis ist aus der Sicht vieler Kritiker des Atheismus »dogmatisch«.9 Mit diesem Vorwurf ist zumeist gemeint, dass Atheisten für die Überzeugung von der Nichtexistenz Gottes einen Wissensanspruch erheben, obwohl sie mangels durchschlagender Argumente tatsächlich »nur den Status eines Glaubens« (Rohs: Der Platz zum Glauben [2016], 519) besitze. Die Militanz mancher Atheisten verdecke nur, dass die Negation der Existenz Gottes letztlich ein Glaubenssatz und nicht mehr als der Ausdruck einer »fundamentalistischen« weltanschaulichen Entscheidung, eine säkularistische und zugleich dogmatische »Quasi-Religion« sei.10

Dem Dogmatismus-Vorwurf sieht sich nicht nur der globale, sondern auch der lokale Atheismus ausgesetzt. Auch seinen Vertretern wird vorgehalten, sie erhöben für ihre Behauptung, dass der standardtheistische Gott nicht existiert, einen Wissensanspruch, den sie de facto nicht einlösen oder gar prinzipiell nicht einlösen können. Unstrittig ist, dass Nichtexistenz-Behauptungen nur in bestimmten Fällen begründet werden können. Dass zwischen mir und meinem Schreibtisch keine Autobahn verläuft, lässt sich, wenn denn mein Wahrnehmungsapparat verlässlich funktioniert, empirisch feststellen. Der Begriff eines viereckigen Kreises ist widersprüchlich und kann infolgedessen nicht instantiiert sein. Sollte nun auch der standardtheistische Gottesbegriff widersprüchlich sein, würde ihm gleichfalls nichts in der Realität entsprechen. Tatsächlich haben manche Atheisten geglaubt, dass sich ein unauflösbarer logischer Widerspruch zwischen den Gottesprädikaten aufzeigen lässt. Damit wäre die Behauptung der Nichtexistenz Gottes gerechtfertigt; sie wäre als Wissen auszuzeichnen und nicht als ›dogmatisch‹ abzuqualifizieren.

Das in diesem Zusammenhang klassische Argument ist der Theodizee-Einwand: Die Gottesprädikate Allmacht und Allgüte sowie die Annahme, dass Gott diese Welt voller Übel erschaffen hat, lassen sich nicht kohärent zusammendenken. Entweder, so lautet das sogenannte Epikur-Trilemma (überliefert von Laktanz: Vom Zorn Gottes, 13), wollte Gott das Übel verhindern und konnte es nicht – dann ergibt sich ein Widerspruch mit seiner Allmacht. Oder er konnte es, wollte es aber nicht – dann ergibt sich ein Widerspruch mit seiner Allgüte. Und die Annahme, dass er es weder wollte noch konnte, ist mit den beiden genannten Gottesprädikaten unvereinbar. Daher, so wurde oft geschlossen, ist es nicht möglich, dass ein allmächtiger und allgütiger Gott der Urheber dieser übelbehafteten Welt ist. Wir stellen also nicht die dogmatische Behauptung auf, dass Gott nicht existiert – wir wissen es.

Auf den ersten Blick scheint dieser Einwand durchschlagend zu sein. Tatsächlich ist er jedoch problematisch. Seine Achillesferse ist die Stärke der Behauptung, es sei nicht möglich, dass Gott das Übel zugelassen hat, und infolgedessen notwendig wahr, dass er nicht existiert. Dagegen wird von theistischer Seite erwidert, dass die Zulassung des Übels durch einen allmächtigen und allgütigen Gott durchaus widerspruchsfrei denkbar, also möglich ist. Dazu werden diverse Zusatzthesen ins Spiel gebracht. Der Wille Gottes, die Menschen als frei handelnde Wesen und nicht als determinierte Automaten zu erschaffen, kann (weil die menschliche Freiheit ein überragend wertvolles Gut ist) möglicherweise als ein guter Grund dafür betrachtet werden, die durch frei handelnde Menschen bewirkten Übel zuzulassen. Auch die Zulassung physischer Übel wie Krankheiten und Naturkatastrophen durch einen allmächtigen und allgütigen Gott ist nicht schlechterdings unmöglich. Es ist (auch wenn wir nicht wissen, dass es so ist) denkbar, dass »andere frei handelnde Wesen, d. h. gefallene Engel, für die natürlichen Übel verantwortlich sind«.11 Solche Zusatzthesen sind allerdings höchst umstritten. Angesichts des Hin und Her beim Schlagabtausch zwischen Atheisten und Theisten über diese Frage ist kaum zu erwarten, dass ein deduktives (aus dem Widerspruch zwischen den Gottesprädikaten und der Existenz des Übels abgeleitetes) Argument entwickelt werden wird, das den Streit endgültig zugunsten des Atheismus entscheidet (vgl. jedoch Beckermann: Das logische Problem des Übels ist nicht gelöst). Daher wird von vielen Atheisten eingeräumt, dass es logisch möglich ist, dass ein allmächtiger und allgütiger Gott diese übelbehaftete Welt erschaffen hat. Es wird also die Behauptung fallengelassen, dass das Theodizeeproblem auf einem logischen Widerspruch beruht. Vielmehr wird zumeist geltend gemacht, dass angesichts des Ausmaßes des Übels die Existenz eines allmächtigen und allgütigen Weltschöpfers derart unwahrscheinlich ist, dass sie nicht ernsthaft in Betracht zu ziehen ist. Der Unterschied zwischen dieser Kritikstrategie und dem strikten (deduktiven) Beweis der Unmöglichkeit der Existenz Gottes liegt auf der Hand. Der Ausmaß-Einwand erweist den Theismus als unplausibel, ist aber kein strenger Beweis der Nichtexistenz Gottes. Auf jeden Fall ist es also ein Irrtum zu meinen, mit dem Theodizee-Einwand ließe sich dem Standardtheismus ein ›kurzer Prozess‹ machen. Die Attacke der Atheisten gegen den Theismus, die beim Problem des Übels ansetzt, ist, wie Richard M. Gale treffend sagt, kein »Mike-Tyson-fight« (On the Nature and Existence of God, 90).

Lassen wir zunächst offen, ob der Atheismus, wie seine Kritiker behaupten, in seiner globalen wie in seiner lokalen Gestalt tatsächlich hoffnungslos dogmatisch ist. Sollte er es sein, käme jedenfalls der Agnostizismus ins Spiel. Denn er ist, weil er sich jeden Urteils über die Existenz Gottes enthält, in dieser Debatte die undogmatische Position par excellence (1.2). Aber möglicherweise sind auch drei Varianten des Atheismus von dem Dogmatismus-Vorwurf nicht betroffen: der ›negative Atheismus‹ (1.3), die Präsumtion der Nichtexistenz Gottes (1.4 und 1.5) und die Negation der Existenz Gottes mithilfe des von Bertrand Russell entwickelten Teekannen-Arguments (1.6).

2 Der Agnostizismus wird üblicherweise als diejenige Position definiert, die die Existenz Gottes weder behauptet noch bestreitet. Es leuchtet unmittelbar ein, dass er gegen den Dogmatismus-Vorwurf immun ist, und so scheint es, dass er seinen ›dogmatischen‹ Konkurrenten, dem Atheismus und dem Theismus, vorzuziehen ist. Der Agnostizismus ist im Übrigen nicht notwendig areligiös oder antireligiös. Auch ein religiöser Glaube, der nicht mit einem Wissensanspruch verbunden ist, wird gelegentlich als Agnostizismus bezeichnet (vgl. Gutting: Religious Agnosticism; Boscaljon: Agnostic Theology; Fallon/Hyman: Agnosticism).

Wenn wir uns an die Etymologie des Ausdrucks halten, können wir die Definition präzisieren: Agnostiker ist, wer keine gnôsis, also keine Erkenntnis, kein Wissen von der Existenz oder Nichtexistenz Gottes zu haben beansprucht. Wir können hierüber nichts wissen; weder die Behauptung noch die Bestreitung der Existenz Gottes lässt sich begründen. Es besteht ein Patt zwischen Theismus und Atheismus. Die Gründe für die eine oder die andere Seite mögen eine höhere Plausibilität besitzen, doch liegt insofern ein Patt vor, als für beide gleichermaßen gilt, dass die für sie vorgebrachten Gründe nicht ausreichen, um die jeweilige Annahme zu rechtfertigen (vgl. Benn: Some Uncertainties about Agnosticism, 173). Die Griffigkeit dieser landläufigen Definition ist jedoch trügerisch. Man kann nur staunen, wie viele deutlich voneinander unterschiedene Positionen unter der terminologischen Flagge des ›Agnostizismus‹ segeln. Versuchen wir also zunächst, einen Überblick über die wichtigsten Varianten zu geben.

Die Position von Thomas Henry Huxley, der diesen Terminus prägte, hat wenig mit den Vorstellungen gemein, die landläufig mit diesem Ausdruck...

Erscheint lt. Verlag 13.7.2023
Reihe/Serie Blaue Reihe
Blaue Reihe
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Atheismus • Gott • Religionsphilosophie • Theologie
ISBN-10 3-7873-4511-6 / 3787345116
ISBN-13 978-3-7873-4511-3 / 9783787345113
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