Verfolgung – Diskriminierung – Emanzipation (eBook)
252 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-108615-6 (ISBN)
Die Lebenssituationen homosexueller Menschen in Deutschland und Europa wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Widersprüchen geprägt: Während die staatliche Strafverfolgung weitgehend endete, erwiesen sich gesellschaftliche Diskriminierungen als deutlich langlebiger, bevor sie schließlich emanzipativen Entwicklungen Raum geben mussten. Ausgehend von den Nachwirkungen der NS-Homosexuellenverfolgung in den Nachkriegsgesellschaften der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und Österreichs, betrachtet dieser Band die Vielfalt von Repressionen nach 1945. Die thematische Breite reicht von der Ausgrenzung innerhalb der Kommunistischen Partei über die Kriminalisierung homosexueller Handlungen im Strafrecht und antilesbische Ausrichtungen im Familienrecht bis hin zur homophoben Diskriminierung innerhalb der Bundeswehr. Untersucht werden auch die Rolle der Kirchen als Seismographen sexueller Ausgrenzung oder Liberalisierung sowie die emanzipativen Trends in den Transformationszeiten des späten 20. Jahrhunderts einschließlich ihrer Begrenzungen durch neue Formen mehrheitsgesellschaftlicher Anpassung und Normalisierung.
Michael Schwartz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Michael Mayer ist Leiter des Arbeitsbereichs Zeitgeschichte der Politischen Akademie in Tutzing und Lehrbeauftragter an der Universität Augsburg.
Teil I: Der Nationalsozialismus und seine Folgen
Kontinuitäten und Brüche
Die Strafverfolgung wegen gleichgeschlechtlicher Sexualhandlungen in Österreich nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft
Die Beantwortung der Frage, inwiefern nationalsozialistische Praktiken der Homosexuellenverfolgung nach dem Ende der NS-Herrschaft in Österreich fortwirkten, gestaltet sich schwierig. Die rechtliche Ausgangslage ist weit weniger eindeutig als jene in Deutschland. So kann der Fortbestand des vom NS-Regime 1935 verschärften § 175 Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) nach 1945 in Westdeutschland als eine Kontinuität zum Nationalsozialismus bzw. dessen Reformierung in der DDR, dem östlichen deutschen Teilstaat ab 1949, als Distanzierung von selbigem gewertet werden.1 In Österreich hingegen überstand der Wortlaut der entsprechenden Gesetzesstelle, die von 1852 bis 1971 die Grundlage für die Strafverfolgung wegen gleichgeschlechtlicher Sexualhandlungen bildete, den Wechsel der Regime unverändert: „Unzucht wider die Natur, das ist mit Personen desselben Geschlechts“ (§ 129 Ib Strafgesetz, StG)2 – im internationalen Vergleich bildete Österreich insofern eine seltene Ausnahme, als auch Sexualakte zwischen Frauen und nicht nur solche zwischen Männern kriminalisiert wurden. Die schärfsten Maßnahmen, die das NS-Regime zur „Ausmerzung“ vor allem von männlicher Homosexualität eingeführt hatte, wurden nach dem Ende der NS-Herrschaft auch in Österreich aufgehoben, wie etwa die polizeilich verhängte Vorbeuge- bzw. Schutzhaft in Konzentrationslagern3 oder die Möglichkeit der Verhängung der Todesstrafe für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“, worunter auch nach § 175 RStGB bzw. § 129 Ib StG Verurteilte fallen konnten.4 Kriminalstatistische Untersuchungen deuten aber daraufhin, dass zumindest der vom NS-Regime erhöhte Verfolgungsdruck gegenüber Homosexuellen nach 1945 fortwirkte, wie sogleich ausführlich erörtert wird.
Dieser Beitrag widmet sich unter Anwendung qualitativer Methoden erstmals der Frage, inwiefern spezifisch nationalsozialistische Eingriffe in die Strafrechtspflege in der Zweiten Republik fortwirkten. Nach einer knappen Zusammenfassung der bisher publizierten quantitativen Studien werden drei Aspekte der Strafverfolgungspraxis thematisiert: die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (OGH), die erstinstanzliche Rechtsprechung und schließlich die Rechtslehre. Es wird gezeigt, dass, mangels einer klar gesetzten Zäsur seitens des Höchstgerichts, in der Strafverfolgung wegen gleichgeschlechtlicher Sexualhandlungen im Österreich der Zweiten Republik eine Grauzone vorhanden war, die Bezugnahmen zu spezifisch nationalsozialistischen Strafverfolgungspraktiken ermöglichte. Nicht behandelt wird die späte Rehabilitierung der Opfer der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung. In dieser Hinsicht verlief die Entwicklung in Österreich ähnlich wie in Deutschland.5
Kriminalstatistik
Kriminalstatistisch wurde die eingangs aufgeworfene Frage bereits in mehreren Studien untersucht. Hans-Peter Weingand etwa wies nach, dass die Zahlen der Verurteilungen von Männern und Frauen wegen § 129 Ib StG österreichweit in den Jahren 1952 bis 1956 und 1959/60 sogar über dem Höchstwert der NS-Zeit lagen.6 Der Anteil der Frauen lag österreichweit im 20. Jahrhundert im Durchschnitt bei rund 5 Prozent7, konnte aber regional in bestimmten Jahren auch deutlich höher sein, wie etwa in Wien im Jahr 1941.8 Bei den Verurteilungszahlen handelt es sich jedoch um absolute Werte. Wird die Strafverfolgung wegen § 129 Ib StG im Verhältnis zur gesamten Strafverfolgungstätigkeit der Gerichte betrachtet, so zeigt sich, dass die Intensität der Verfolgung während der Zeit der NS-Herrschaft ihren Höhepunkt erreichte, sich nach 1945 aber immer noch auf höherem Niveau fortsetzte als vor dem „Anschluss“ Österreichs an Hitlers Deutschland im Jahre 1938.9 Auch die durchschnittlich verhängte Haftdauer ging in der Zweiten Republik zwar zurück, lag aber immer noch höher als vor 1938.10 Der Anteil der Verfahren, die mit der Verhängung einer Haftstrafe endeten, stieg nach 1945 sogar noch weiter an; der Anteil der Verfahrenseinstellungen ging unter das Niveau von vor 1938 zurück, nur der Anteil der Freisprüche nahm in der Zweiten Republik zu.11 Kriminalstatistisch betrachtet hatten demnach die nationalsozialistischen Maßnahmen der Homosexuellenverfolgung in Österreich eine nachhaltige Folge-Wirkung in der Zweiten Republik.
Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs
§ 129 Ib StG definierte keine Tathandlung: „Unzucht wider die Natur, das ist mit Personen desselben Geschlechts“. Die Rechtslehre kritisierte dies immer wieder.12 Der Rechtsprechung blieb damit ein großer Spielraum zur Auslegung des Gesetzes, wodurch Verschärfungen wie auch Lockerungen des Tatbestands ohne gesetzgeberischen Eingriff möglich waren. So wies die Rechtshistorikerin Elisabeth Greif nach, dass der Oberste Gerichtshof ab der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine extensive Auslegung vertrat und das Tatbild auf masturbatorische Handlungen ausweitete. Dies sei angeregt worden durch die zeitgenössische Sexualwissenschaft, die „den Blick statt auf die sexuelle Handlung vermehrt auf die sexuelle Lust zu richten begann“.13 Der OGH führte zudem die Tatsache, dass der Gesetzgeber auch Frauen erfasst hatte, als einen zentralen Grund für eine extensive Auslegung an.14 Die österreichische Rechtsprechung erfasste somit bis 1935 ein breiteres Spektrum sexueller Handlungen als die deutsche, die bis zur Verschärfung des § 175 RStGB im Jahr 1935 nur beischlafähnliche Handlungen als tatbildlich interpretierte.15 Auf Druck des Reichsjustizministeriums glich das Reichsgericht schließlich am 4. Juni 1940 die Auslegung des Begriffs der „Unzucht“ im österreichischen Strafrecht an die Judikatur zu § 175 RStGB in der verschärften Fassung von 1935 an.16 Die Verschärfung der Rechtslage wurde in Österreich somit nicht durch eine Gesetzesänderung herbeigeführt, sondern durch eine politisch motivierte Änderung der Spruchpraxis des Höchstgerichts.
Nachdem die NS-Herrschaft in Österreich beendet war, beschloss die provisorische Staatsregierung bereits am 12. Juni 1945 die Wiederherstellung des österreichischen Strafrechts „in der Fassung vom 13. März 1938“ und hob zugleich 33 Verordnungen respektive Bestimmungen auf, mit denen das nationalsozialistische Regime das österreichische Strafrecht abgeändert bzw. ergänzt hatte.17 Eine vergleichbare Zäsur setzte der OGH nicht. Angesichts der Arbeitsweise des Höchstgerichts, nämlich nur in Einzelfällen, die ihm vorgetragen werden, zu entscheiden, wäre eine allgemeine und grundlegende, nicht auf einen konkreten Fall bezogene Äußerung auch nicht denkbar gewesen. Der OGH nahm aber auch in keinem der ab 1945 amtlich veröffentlichten Judikate betreffend § 129 Ib StG Stellung zur Frage der Verwendung von reichsgerichtlichen Entscheidungen aus der NS-Zeit – obgleich sich dies angeboten hätte, wie noch gezeigt werden wird. Eine diesbezügliche Regelung durch den Gesetzgeber wäre wahrscheinlich als ein verfassungswidriger Eingriff der Legislative in die Judikative gewertet worden und so beschloss der Gesetzgeber lediglich im Zuge der Wiederherstellung des österreichischen Straf- und Strafprozessrechts in Form von Übergangsbestimmungen, dass „Entscheidungen des Reichsgerichtes, die nach dem 27. April 1945 gefällt worden sind, […] im Bereich der Republik Österreich keine Wirkung [haben]“, und dass „Entscheidungen, die vom Reichsgerichte vor diesem Zeitpunkte gefällt worden sind“, wirksam bleiben sollten, wenn diese „bis spätestens 1. Oktober 1945 der ersten Instanz zukommen“.18
Bis zur Aufhebung des Totalverbots gleichgeschlechtlicher Sexualhandlungen im Jahr 1971 veröffentlichte der OGH nur noch wenige Entscheidungen betreffend § 129 Ib StG. Erst 1969 legte er in einem amtlich veröffentlichten Judikat die Auslegung des Begriffs der „Unzucht“ fest auf die „Herstellung unmittelbarer und intensiver sexuell motivierter Berührungen des Geschlechtsteiles eines Partners mit dem Körper des anderen“ und beschrieb diese Auslegung als „restriktiv“.19 Der Grad der „Restriktivität“ mag bestritten werden. Mit Blick auf die Entwicklung der Spruchpraxis im 20. Jahrhundert markiert dieses Judikat dennoch eine deutliche, wenn auch nicht explizite Distanzierung zur nationalsozialistischen Spruchpraxis.
Die Rechtsprechung in erster Instanz
Die Beantwortung der Frage, inwiefern es Kontinuitäten oder Brüche zur nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung auf Ebene der erstinstanzlichen Rechtsprechung in Österreich nach 1945 gab, ist äußerst schwierig, müssten doch die...
Erscheint lt. Verlag | 24.7.2023 |
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Reihe/Serie | ISSN |
ISSN | |
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte | Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte |
Zusatzinfo | 9 b/w ill. |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Zeitgeschichte |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Schlagworte | Bundesrepublik 1945-2000 • Diskriminierung • Emanzipation • Homosexualität |
ISBN-10 | 3-11-108615-1 / 3111086151 |
ISBN-13 | 978-3-11-108615-6 / 9783111086156 |
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