Ehrenamtliche Wegbegleitung in der Kinder- und Jugendhilfe (eBook)
208 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61778-4 (ISBN)
Julius Daven, Köln, ist ehrenamtlicher Wegbegleiter und Vormund für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge und freier Autor. Er engagiert sich seit Jahren in den Sozialen Hilfen. Prof. Dr. phil. Andreas Schrenk, Marxzell im Schwarzwald, ist Dipl.-Sozialpädagoge mit über 25 Jahren Erfahrung in Leitungstätigkeiten und der Jugendhilfepraxis. Er ist Experte für SGB VIII- und SGB IX-konforme Schutzkonzepte und Führungskräfteentwicklung.
Julius Daven, Köln, ist ehrenamtlicher Wegbegleiter und Vormund für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge und freier Autor. Er engagiert sich seit Jahren in den Sozialen Hilfen. Prof. Dr. phil. Andreas Schrenk, Marxzell im Schwarzwald, ist Dipl.-Sozialpädagoge mit über 25 Jahren Erfahrung in Leitungstätigkeiten und der Jugendhilfepraxis. Er ist Experte für SGB VIII- und SGB IX-konforme Schutzkonzepte und Führungskräfteentwicklung.
1 Resilienz und Wegbegleitung
Von Christoph Steinebach und Ursula Steinebach
„Komm, ich begleite Dich.“ Es ist spät, vielleicht schon dunkel und es gibt die Sorge, dass der Gast nicht gut allein nach Hause kommen wird. Mit dem Begriff Wegbegleitung entsteht ein Bild, das vieles vom pädagogischen Angebot der sozialen Wegbegleitung im Lebenslauf widerspiegelt: Zwei Menschen sind gemeinsam unterwegs. Sie haben ein gemeinsames Ziel. Wie alle Metaphern bietet das Bild des Wegs eine gute Beschreibung des Sinns und einen Impuls für die Reflexion (Witte 2016). Zunächst ist der Lebensweg Teil der Metapher für pädagogische Wegbegleitung. Der Lebensweg führt über die Lebensspanne. Für den persönlichen Lebensweg ist dann offen, ob er ganz oder nur einen Abschnitt lang mit anderen zurückgelegt wird. Der Weg kann zuweilen beschwerlich, steinig, anregend oder lehrreich sein. Er kann Umwege erfordern, wenn wir plötzlich auf Hindernisse stoßen. Karten und Navigationssysteme helfen, Wegmarken geben Orientierung und Kreuzungen verlangen Entscheidungen. Wo Kräfte fehlen, werden Pausen wichtig. Pilgerwege stehen für Lebenssinn, die Walz für die Lehr- und Wanderjahre. Hindernisse lassen nach Auswegen, Lösungswegen und Königswegen suchen. Kurz: Das Bild des Wegs regt an zu Imagination und Assoziation.
Sicher ist die pädagogische Wegbegleitung eine besondere Konstellation. Sie versteht sich als Angebot in besonderen Lebensphasen. Sie ist gerade dann wichtig, wenn Jugendliche die pädagogische Einrichtung verlassen und noch stärker auf sich gestellt sind. Wegbegleitung ist aber sicher nicht nur ein Angebot in besonderen Lebensphasen. Idealerweise setzt sie früher an, um eine Beziehung aufzubauen, die auch in Krisenzeiten oder in Zeiten des Übergangs trägt. Damit ist die Wegbegleitung im Sinne der Patenschaft oder eines Mentorings über die ganze Kindheit und Jugendzeit eine wichtige Hilfe. Mit dem pädagogischen Anspruch verbinden sich aber auch Forderungen nach einer Ausbildung und Supervision der WegbegleiterInnen. Was wird gebraucht, damit Wegbegleitung gelingt? Im Folgenden wollen wir zeigen, dass der Bereich der Psychologie, der sich mit Resilienz beschäftigt, auf diese Frage einige Antworten bereithält.
1.1 Resilienz als Kompass auf dem Weg
Heute erscheint menschliche Entwicklung als ein Prozess, der in vielfältiger Weise durch die Menschen selbst gestaltet wird. Im Laufe der Entwicklung stellen sich Aufgaben und Herausforderungen, die es zu meistern gilt. Eigene Wünsche und Ziele stehen nicht selten in Konflikt mit kritischen Lebensereignissen und Lebenskrisen. Zwischen eigenen Schwächen und Fähigkeiten und den umweltseitigen Erschwernissen und Chancen müssen gute Entscheidungen getroffen werden (Ungar et al. 2013; Steinebach/Gharabaghi 2018). Über die ganze Lebensspanne eignen sich Menschen Kompetenzen an, um neue Herausforderungen zu meistern, sie nehmen Einfluss auf ihre Umwelt, um notwendige Ressourcen zu aktivieren oder überzogene Anforderungen aus der Umwelt, falls notwendig, zu korrigieren. Resilienz bedeutet also nicht, hart zu sein, damit abprallt, was schaden könnte.
Resilienz steht viel mehr für „die positive Anpassung und nachhaltige Entwicklung eines Systems mit Blick auf kurzfristige oder langfristigere Herausforderungen des Alltags und schwerwiegende Belastungen. Auf der Grundlage interner Systemprozesse und durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt definiert das System neue Referenzgrößen und notwendige Kompetenzen und verbessert so seine Fähigkeiten, künftige Belastungen zu meistern“ (Steinebach 2015, 557; Übersetzung des Autors).
In vielerlei Hinsicht macht es Sinn, von einem System zu sprechen. Zum einen können wir jedes Individuum als System verstehen – das Kind, den Jugendlichen, den Erwachsenen. Zum anderen können wir die Wegbegleitung als soziales System betrachten. So können wir auch nach der Resilienz dieser besonderen Dyade fragen. Zudem ist es möglich, die Perspektive zu erweitern und nach der Resilienz des ganzen Hilfesystems zu fragen. Dies kann insbesondere dann hilfreich sein, wenn die Begleiteten, die Wegbegleitung gemeinsam mit den Fachkräften und der Familie des Kindes oder Jugendlichen, vor großen Herausforderungen stehen (Schär/Steinebach 2015).
Orientierung – Wegmarken im Lebenslauf
Grundlegende Veränderungen im Lebenslauf sind oft verbunden mit Veränderungen in der Umwelt, der eigenen Aufgaben und Rolle sowie in den sozialen Beziehungen. Die Auseinandersetzung mit solchen ökologischen Übergängen (Bronfenbrenner 1995) birgt viele Risiken, aber auch Chancen. In der Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen eignen wir uns neue Kompetenzen an und damit das Rüstzeug, künftige Herausforderungen besser zu meistern. Um also einschätzen zu können, ob die anstehende Herausforderung gut gemeistert werden kann, lohnt sich ein Blick auf die individuellen Stärken und umweltseitigen Schutzfaktoren (Steinebach/Gharabaghi 2018).
Dazu zählen auf Seiten des Kindes oder Jugendlichen gute körperliche Grundlagen, Gesundheit, Ausgeglichenheit, Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer, hoher Selbstwert und Selbstwirksamkeit, soziale Kompetenzen und Wertorientierung. Auf Seiten der Umwelt schlagen positive Kommunikation, eine der Entwicklung angemessene Gestaltung von Nähe und Distanz, die Bildungsnähe der Eltern und die Verbundenheit der Familie mit der sozialen Umwelt zu buche.
Für Kinder und Jugendliche sind natürlich auch Schule und Ausbildungsbetrieb wichtig. Hier spielen gute Beziehungen zu den Fachkräften wie zu den Peers eine besondere Rolle. Sozial kompetente und unterstützende Peers bilden einen wichtigen sozial-emotionalen Rückhalt für die Kinder und Jugendlichen. Sportverein, Jugendzentrum, Kirchengemeinde, Nachbarschaft in der Wohngemeinde können so zu Orten werden, an denen die Kinder Rückhalt und Unterstützung erfahren. Das Schul- und Betriebsklima ist wichtig, genauso wie angemessene Anforderungen und Regeln. Vorbilder und Rollenmodelle können eine positive Entwicklung unterstützen. Zudem ist wichtig, dass Schule, Ausbildungsbetrieb und Familie in engem Austausch stehen (Steinebach/Gharabaghi 2018).
Damit wird deutlich, dass Wegbegleitung in verschiedenerlei Hinsicht Resilienz fördern kann: Der/die WegbegleiterIn kann als Vorbild dienen und dafür sorgen, dass eine positive soziale Beziehung entsteht, in der sich die Kinder bzw. Jugendlichen geborgen, geschätzt und gefördert fühlen. Er oder sie kann darauf achten, dass im Miteinander von Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen die genannten individuellen Stärken und umweltseitigen Ressourcen ganz konkret gefördert werden.
Sichtweisen – Entwicklung gestalten lernen
Wegbegleitung ist kein Unterricht und auch keine Therapie. Wegbegleitung ist in erster Linie ein Beziehungsangebot. Und doch ist der Anspruch, dass dieses Angebot auf dem Lebensweg der Kinder und Jugendlichen einen Unterschied macht. Deshalb lässt sich Wegbegleitung auch als Lernprozess verstehen, indem eine beratende Begleitung hilft, schwierige Fragen des Lebens zu lösen.
Wenn wir Wegbegleitung als positives Lernen verstehen, dann helfen uns moderne Lerntheorien, den Prozess des Lernens besser zu verstehen. In diesen Lerntheorien wird zum Beispiel betont, wie wichtig es ist, dass sich die Lernenden aktiv mit der Situation auseinandersetzen. Es wird hervorgehoben, dass die vorhergehenden Lernerfahrungen eine wichtige Basis für die nächsten Lernschritte sind. Und sie verweist die Erwachsenen auf die Rolle von Vermittelnden und Begleitenden. Im Sinne des positiven Lernens bedeutet Wegbegleitung also nicht, das Kind oder den Jugendlichen zu dominieren und Lösungen vorzugeben. Es bedeutet vielmehr, alles, was aus der Vorgeschichte verfügbar ist und hilfreich sein kann, zu aktivieren, damit es in der jetzigen Aufgabe genutzt werden kann.
Aus Sicht der positiven Jugendpsychologie (Lerner et al. 2011) können wir sagen, dass für die Bewältigung anstehender Aufgaben nicht nur eigene Schwächen und umweltseitige Belastungen eine Rolle spielen. Individuelle Stärken und umweltseitige Ressourcen sind mindestens genauso wichtig. Es ist hilfreich, sich gerade in schwierigen Zeiten der eigenen Stärken und der Ressourcen der Umwelt zu vergewissern. Aufgabe der Wegbegleitung kann es in dem Fall sein, auf die Stärken des Kindes oder Jugendlichen hinzuweisen, Rückmeldung zu geben, sie aufzulisten oder auch spürbar zu machen. Wegbegleitung kann auch heißen, mit dem Kind oder Jugendlichen bei Familie, bei Freunden, in der Schule oder im Ausbildungsbetrieb nach Ressourcen zu suchen.
Heute verstehen wir Resilienz als Ausdruck und Zeichen von optimaler Entwicklung. Optimal bedeutet hier, das Beste aus seiner Situation zu machen – durchaus selbstbestimmt, aber in sozialer Verantwortung. Was wird gebraucht, um so durchs Leben zu gehen? Die Theorie Adaptiv selbst optimierende Systeme nennt bestimmte Elemente, die hier wichtig sind: die Wahrnehmung, ein internes Modell, das die Außenwelt und innere Prozesse spiegelt, ein Element, das für Umwelt- und Selbstideal steht, ein ausführendes Element und ein Element, das die Informationen aus den anderen Elementen benennt und bewertet. Wegbegleitung wird nicht vorschreiben, was nun als Nächstes zu tun ist. Wegbegleitung kann aber fragen, ob alle wichtigen Facetten des Problems wahrgenommen wurden, was das eigene Ideal ist, was die Wünsche und Erwartungen der anderen sind, was aus Sicht der Kinder und Jugendlichen selbst getan werden...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2023 |
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Co-Autor | Menno Baumann, Roswitha Maria Burri, Gregor Hensen, Anke Höhne, Ralph Kirscht, Vaida Lindemann, Josefin Martin, Alicia Sailer, Aaron Schulze, Mathias Schwabe, Christoph Steinebach, Ursula Steinebach, Andrea Warnke, Julius Daven, Andreas Schrenk, Volker Augustyniak |
Vorwort | Kiaras Gharabaghi |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Entwicklungspsychologie |
Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sozialpädagogik | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Beziehung • Bindung • Care Leaver • Empowerment • Kinderrechte • Kindeswohlgefährdung • Lehrbuch • Pädagogik • Partizipation • Resilienz • Schutzkonzept • Soziale Arbeit • Soziale Hilfe • Systemsprenger • Trauma • Vormundschaft |
ISBN-10 | 3-497-61778-4 / 3497617784 |
ISBN-13 | 978-3-497-61778-4 / 9783497617784 |
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