Ich und Wir (eBook)
400 Seiten
Gütersloher Verlagshaus
978-3-641-30766-0 (ISBN)
Heute kennt man Martin Buber vor allem als Übersetzer der Hebräischen Bibel und als den Philosophen, der mit seiner Schrift »Ich und Du« vor genau 100 Jahren einen wesentlichen Beitrag zur Dialogphilosophie leistete.
Was bisher kaum wahrgenommen wurde: Buber überwand nicht nur die Subjektorientierung des Idealismus durch ein Denken von dem Anderen her, er war auch ein ausgesprochener »Philosoph der Gemeinschaft«, der die Verantwortung des Individuums für die Anderen betonte. Isabelle Fries rückt diesen Aspekt im Denken Martin Bubers in einzigartiger Weise ins Zentrum. Vom Begriff der Gemeinschaft her analysiert sie das vielschichtige Werk Martin Bubers im jeweiligen biografischen und historischen Kontext. Vor dem geschichtlichen Hintergrund der Umstürze und Katastrophen des 20. Jahrhunderts zeigt sie, wie sich Bubers Gemeinschaftsbegriff über seine Lebenszeit hinweg und in kritischer Resonanz zu den jeweiligen politischen Debatten entwickelt. Dabei wird deutlich: Bubers Denken hat bleibende Aktualität und ein diagnostisches Potential, das dabei helfen kann, das Miteinander in der pluralisierten Gesellschaft der Gegenwart zu gestalten.
Isabelle Fries, geb. 1986, Studium der Evangelischen Theologie sowie der Journalistik und Publizistik in Tübingen, Erlangen, Edinburgh und Berlin; nach dem Vikariat 2015 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Systematische Theologie und Sozialethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz; von 2018 - 2021 zunächst Referentin für Medienpolitik und Publizistik der Württembergischen Landeskirche, dann Online-Redakteurin für Wissenschaftskommunikation der Universität Stuttgart; seit 2021 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Angewandte Ethik im dtec.bw-Projekt LIONS an der Universität der Bundeswehr in München.
Annäherung an »Gemeinschaft« um 1900
Kapitel 1: Erlebnisgemeinschaft – »Alte und neue Gemeinschaft« (1901)
1.1 Soziokultureller Kontext der Entstehung von »Alte und neue Gemeinschaft«
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war »Gemeinschaft« weitreichendes Gesprächsthema und praktisches Anliegen. Angesichts anbrechender Moderne, Verstädterung und Technisierung trafen neoromantische1 Sehnsüchte wie revolutionäres Gedankengut auf fruchtbaren Boden. Ferdinand Tönnies (1855–1936) Gemeinschaft und Gesellschaft2 prägte den Diskurs. Nietzsche-Begeisterung3, neomystisches Interesse und monistische Bestrebungen flossen ein.4
Im Kontrast zum Wilhelminismus entstanden alternative Formen von Spiritualität.5 Freireligiöse Vereine, geprägt von Institutionenkritik wie Betonung von Unmittelbarkeit und Individualität6, begannen sich zu etablieren. Auch in »intellektuellen Landkommunen und Künstlerkolonien«7 fand ein neues bürgerliches Selbstverständnis Ausdruck. Gerade Berlin bot Nährboden für die Entstehung literarischer Cafés und kultureller Kreise.8 Die Rede von neuer Gemeinschaft im Gegensatz zu etablierter Gesellschaft wurde »quer durch das Spektrum literarisch-kultureller Vereine der Jahrhundertwende [zum] konstitutive[n] Bestandteil programmatischer (Selbst-)Beschreibung«9. Als verbreitet macht Rolf Parr teleologisches Denken von ursprünglicher Gemeinschaft über Gesellschaft hin zu neuer Gemeinschaft aus.10 Dieser Dreischritt wird sich auch in Bubers Rede Alte und neue Gemeinschaft (1901) zeigen.
Die Brüder Heinrich (1855–1906) und Julius Hart (1859–1930) waren es, die sich zum Ziel setzten, »eine Erkenntnis- und Lebensgemeinschaft«11 vor den Toren Berlins zu gründen: die namentliche »Neue Gemeinschaft«.12 Hier verkehrten Künstler, Literatinnen und andere politisch bunt gemischte13 Angehörige der Boheme, die dem Trubel und der Anonymität der Großstadt entflohen. Hier traf man etwa auf Else Lasker-Schüler (1869–1945), Julius Bab (1880–1955) oder Erich Mühsam (1878–1934). Mühsam erinnerte sich später:
»Alles, was Namen hatte, ging damals gelegentlich oder regelmäßig zur Tür der neuen Gemeinschafts-Wohnung hinein und wieder hinaus«14.
Die Mitglieder und Sympathisanten vereinten freireligiöse, sozialutopische, sozialaristokratische wie neomystische Ansichten.15 Hans Kohn (1891–1971) nannte sie »[d]ie Generation der Jahrhundertwende«16, zeichnete ihre Jugend, ihren Enthusiasmus, die Hochschätzung des Menschen nach. Einheit wollten sie erlangen, Gegensätze überwinden17, »[d]as Reich der Erfüllung«18 begründen. Die Welt sei in steter Wandlung begriffen. Vielheit und Einheit müssten dialektisch gedacht werden.19 Wissenschaft, Religiosität und Kunst seien zu versöhnen.20 Konkret stellten sich die Harts eine besondere Herzlichkeit vor, die sich in Umarmungen oder der gemeinsamen Feier von Agape-Mahlen21 mit dionysischen Zügen ausdrückte.22 Der Gedanke, gemeinsam ein kommendes neues Reich zu antizipieren bzw. zu bereiten, war dabei konstitutiv.
Der knappe Verweis auf Gedanken der Harts deutet darauf hin, wie praktizierte Gemeinschaft als Pendant zu philosophischer Einheit verstanden wurde. Gleich vielen Künstlerpersönlichkeiten der Zeit suchten die beiden naturalistischen Literatur- und Theaterkritiker einen weltanschaulichen Überbau für ihre Praxis, die sie in »eine[r] Art Orden«23 verwirklichen wollten. Thomas Auwärter nennt in seiner Dissertation Spiritualität um 1900 vergleichend Wassily Kandinsky (1866–1944) oder den der »Neuen Gemeinschaft« nahe stehenden Künstler Fidus (1868–1948), verweist überdies als Parallele auf den George-Kreis und die Anthroposophie Rudolf Steiners (1861–1925).24 Leben wurde als »Schauplatz für die Verwirklichung der ersehnten Einheit«25 angesehen, konstatiert auch Mendes-Flohr. »Verwirklichung« – ein Hauptbegriff Bubers – zielt hier auf praktische Lebensführung. Mit Ausblick gilt zu beachten: Akteur ist dabei in der Nachfolge Nietzsches allein der Mensch. So formulierte auch Julius Hart:
»Den neuen Menschen rufen wir, den weltengestaltenden! […] Centrum und Kreis, Gott und Schöpfer seiner Dinge.«26
Mendes-Flohr27 betont die gedankliche Nähe zu Gustav Landauer (1870–1919), einem bedeutenden Mitglied der »Neuen Gemeinschaft« und späteren Freund Bubers. Landauer teilte bereits das Umfeld des Friedrichshagener Dichterkreises. Personell gab es zur späteren »Neuen Gemeinschaft« Überschneidungen.28 Allerdings hat sich Landauer früh schon, genau wie sein Freund Mühsam, von der »Neuen Gemeinschaft« distanziert29 und dies inhaltlich begründet.30 Der Gedanke der Dialektik mit harmonisierendem Grundzug tue erfahrbares Leid allenfalls als ein in der Bewegung zu überwindendes Moment ab. Die Wirklichkeit, verstanden als das Leben31, sei so doch gerade nicht getroffen, lautete Landauers Position – eine Position, die denn auch von Buber geteilt wird. Greifbar wird sie in Landauers Schrift Skepsis und Mystik (1903)32, in der er sich auf den ebenfalls in der Neuen Gemeinschaft verkehrenden und sich explizit auf Immanuel Kants (1724–1804) Erkenntniskritik33 berufenden Fritz Mauthner (1849–1923) und seine Sprachkritik34 bezieht. Mit Kohns Worten hat Landauer in Skepsis und Mystik »mit den Brüdern Hart abgerechnet«35. Vom »beißende[n] Spott«36, den Landauer gegen die Harts an den Tag legt, spricht völlig zutreffend auch Elke Dubbels.
Beispielhaft bringt Landauer das Bild vom Schaf, das vom Löwen gefressen wird. Nach der Logik Julius Harts, so Landauer, liege lediglich eine Verwandlung vom Schaf in den Löwen vor. Man kann an wechselnde Aggregatszustände denken. Landauer betont, dass es »sehr schafsmäßig«37 sei, diese Beliebigkeit nicht einzusehen. Einen sozialistischen Vergleich zieht er denn zum Arbeiter, der vom Kapitalisten ausgebeutet wird. Nach Julius Hart sei dies in Ordnung, zumal es doch auf dasselbe hinauslaufe, ob sich der hungernde Arbeiter einen Braten denke oder ihn tatsächlich verspeise.38 Julius Hart wird von Landauer im Anschluss an die Terminologie Mauthners als »Begriffspriester«39 bezeichnet, der Wunden mit Begriffen heile. Sein Vorgehen sei »Scharlatanerei«40, »Sophisterei«41, biete »leere Wortspiele ohne Sinn«42. Gemäß Landauer ist Julius Hart andererseits mit der Forderung nach der Aufhebung sprachlicher Gegensätze nicht weit genug gegangen. Mit Mauthner müsse man sich nicht nur von den Gegensätzen in der Sprache verabschieden, »sondern von den Sätzen überhaupt«43.
Buber schloss sich während seines zweiten Studienaufenthaltes in Berlin (1899–1901)44 1900 der »Neuen Gemeinschaft« an.45 Damals gehörten ihr etwa 50 bis 60 Personen an.46 Buber führte »das Leben eines Bohemian und Literaten«47, ging regelmäßig ins Kaffeehaus, stand dort im intellektuellen Austausch, arbeitete als Journalist.48 In der »Neuen Gemeinschaft« lernte er Landauer und dessen Gedanken zur Gemeinschaft kennen.49 Am 18. Juni 1900 hielt Landauer vor der »Neuen Gemeinschaft« im Berliner Architektenhaus in der Wilhelmstraße die Rede Durch Absonderung zur Gemeinschaft.50 In zeitlicher Nähe51 sprach Buber über Alte und neue Gemeinschaft, wobei er Gedanken aus Durch Absonderung zur Gemeinschaft aufnahm.52 Martin Treml zufolge war Buber vom Vortrag des acht Jahre Älteren ungemein beeindruckt53. Auch Mühsam war angetan, erzählte noch in seinen Unpolitischen Erinnerungen (1927–1929) von der entscheidenden Beeinflussung durch...
Erscheint lt. Verlag | 30.8.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | 2023 • Antisemitismus • Berühmte Personen • Deutsche Geschichte • Dialogische Philosophie • eBooks • Geschichte • Gesellschaftliches Miteinander • Gesellschaftliche Spaltung • Gesellschaftsordnung • Gesellschaftstheorie • gespaltene Gesellschaft • ich und du • Machtergreifung • Miteinander reden • Neuerscheinung • Philosophie • Plurale Gesellschaft • Solidarität • soziologische Theorien • Volksgemeinschaft • Zukunft der Menschheit |
ISBN-10 | 3-641-30766-X / 364130766X |
ISBN-13 | 978-3-641-30766-0 / 9783641307660 |
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