Das Wesen der Natur (eBook)
168 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7578-6673-0 (ISBN)
Alfred North Whitehead OM studierte Mathematik und Naturwissenschaften an der Universität Cambridge und wurde später Professor für Mathematik an der University of London. Zusammen mit Bertrand Russell veröffentlichte er zwischen 1910 und 1913 das bahnbrechende Werk "Principia Mathematica", das bis heute als Klassiker der Logik gilt. Während seiner Zeit in London von 1911 bis 1924 beschäftigte sich Whitehead intensiv mit Fragen der Naturphilosophie, Wissenschaftstheorie und Erziehung. Nach seiner Berufung an die Harvard University im Jahr 1924 widmete er sich hauptsächlich der Ausarbeitung seiner prozessphilosophischen Metaphysik. Alfred North Whitehead starb am 30. Dezember 1947 in Cambridge, Massachusetts.
KAPITEL II
THEORIEN ÜBER DIE VERZWEIGUNG DER NATUR
In meinem letzten Vortrag habe ich das Konzept der Materie als die Substanz, deren Eigenschaften wir wahrnehmen, kritisiert. Diese Denkweise der Materie ist meines Erachtens der historische Grund für ihre Einführung in die Wissenschaft, und sie ist immer noch die vage Sichtweise im Hintergrund unseres Denkens, die die gegenwärtige wissenschaftliche Doktrin so offensichtlich erscheinen lässt. Wir stellen uns nämlich vor, dass wir die Eigenschaften der Dinge wahrnehmen, und die Materieteile sind die Dinge, deren Eigenschaften wir wahrnehmen.
Im siebzehnten Jahrhundert erhielt die süße Einfachheit dieses Aspekts der Materie einen herben Schock. Die Übertragungslehren der Wissenschaft befanden sich damals im Prozess der Ausarbeitung und waren am Ende des Jahrhunderts unbestritten, auch wenn ihre besonderen Formen seither verändert wurden. Die Etablierung dieser Übertragungstheorien markiert einen Wendepunkt in der Beziehung zwischen Wissenschaft und Philosophie. Die Lehren, auf die ich hier besonders anspiele, sind die Theorien über Licht und Schall. Ich zweifle nicht daran, dass diese Theorien schon vorher als offensichtliche Vorschläge des gesunden Menschenverstandes vage im Umlauf waren; denn nichts im Denken ist jemals völlig neu. Aber in jener Epoche wurden sie systematisiert und präzisiert, und ihre vollständigen Konsequenzen wurden rücksichtslos abgeleitet. Es ist die Etablierung dieses Verfahrens des Ernstnehmens der Konsequenzen, die die wirkliche Entdeckung einer Theorie kennzeichnet. Die systematischen Lehren von Licht und Schall als etwas, das von den emittierenden Körpern ausgeht, wurden definitiv aufgestellt, und insbesondere der Zusammenhang von Licht und Farbe wurde von Newton aufgedeckt.
Das Ergebnis zerstörte die Einfachheit der "Substanz- und Attributtheorie" der Wahrnehmung vollständig. Was wir sehen, hängt von dem Licht ab, das in das Auge eintritt. Außerdem nehmen wir nicht einmal das wahr, was in das Auge eintritt. Das, was übertragen wird, sind Wellen oder - wie Newton dachte - kleine Teilchen, und das, was gesehen wird, sind Farben. Locke begegnete dieser Schwierigkeit mit einer Theorie der primären und sekundären Qualitäten. Es gibt nämlich einige Eigenschaften der Materie, die wir wahrnehmen. Dies sind die primären Qualitäten, und es gibt andere Dinge, die wir wahrnehmen, wie zum Beispiel Farben, die keine Eigenschaften der Materie sind, aber von uns so wahrgenommen werden, als wären sie solche Eigenschaften. Dies sind die sekundären Eigenschaften der Materie.
Warum sollten wir sekundäre Qualitäten wahrnehmen? Es scheint eine äußerst unglückliche Konstellation zu sein, dass wir viele Dinge wahrnehmen, die nicht da sind. Doch genau darauf läuft die Theorie der sekundären Qualitäten hinaus. In der Philosophie und in der Wissenschaft herrscht heute eine apathische Akzeptanz der Schlussfolgerung, dass es keine kohärente Darstellung der Natur geben kann, wie sie sich uns in der Sinneswahrnehmung offenbart, ohne ihre Beziehungen zum Geist mit einzubeziehen. Die moderne Darstellung der Natur ist nicht nur, wie es sein sollte, eine Darstellung dessen, was der Verstand von der Natur weiß, sondern sie wird auch mit einer Darstellung dessen verwechselt, was die Natur mit dem Verstand macht. Das Ergebnis war sowohl für die Wissenschaft als auch für die Philosophie katastrophal, vor allem aber für die Philosophie. Es hat die große Frage nach den Beziehungen zwischen Natur und Geist in die kleinliche Form der Interaktion zwischen dem menschlichen Körper und dem Geist verwandelt.
Berkeleys Polemik gegen die Materie basierte auf dieser Verwirrung, die durch die Übertragungstheorie des Lichts entstand. Er plädierte, meiner Meinung nach zu Recht, für die Abschaffung der Lehre von der Materie in ihrer jetzigen Form. Er hatte jedoch nichts an ihre Stelle zu setzen, außer einer Theorie über die Beziehung des endlichen Geistes zum göttlichen Geist.
Aber wir bemühen uns in diesen Vorträgen, uns auf die Natur selbst zu beschränken und nicht über die Entitäten hinauszugehen, die in der Sinneswahrnehmung offenbart werden.
Das Wahrnehmen an sich wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Wir betrachten zwar die Bedingungen der Wahrnehmung, aber nur insofern, als diese Bedingungen zu den Offenbarungen der Wahrnehmung gehören. Die Synthese von Wissendem und Gewusstem überlassen wir der Metaphysik. Eine weitere Erläuterung und Verteidigung dieser Position ist notwendig, wenn die Argumentation dieser Vorlesung verständlich sein soll.
Die unmittelbare These, die zur Diskussion steht, ist, dass jede metaphysische Interpretation ein illegitimer Import in die Philosophie der Naturwissenschaften ist. Unter einer metaphysischen Interpretation verstehe ich jede Diskussion über das Wie (jenseits der Natur) und das Warum (jenseits der Natur) des Denkens und der Sinneswahrnehmung. In der Wissenschaftsphilosophie suchen wir nach den allgemeinen Begriffen, die für die Natur gelten, nämlich für das, was wir in der Wahrnehmung wahrnehmen. Sie ist die Philosophie des Wahrgenommenen und darf nicht mit der Metaphysik der Wirklichkeit verwechselt werden, deren Bereich sowohl den Wahrnehmenden als auch das Wahrgenommene umfasst. Kein Rätsel, das den Gegenstand der Erkenntnis betrifft, kann gelöst werden, indem man sagt, dass es einen Geist gibt, der ihn kennt [2].
[2] Vgl. Enquiry, Vorwort.
Mit anderen Worten: Das Sinnesbewusstsein ist ein Bewusstsein von etwas. Was ist dann der allgemeine Charakter dieses Etwas, dessen wir uns bewusst sind? Wir fragen nicht nach dem Wahrnehmenden oder nach dem Prozess, sondern nach dem Wahrgenommenen. Ich betone diesen Punkt, weil Diskussionen über die Wissenschaftsphilosophie in der Regel extrem metaphysisch sind - meiner Meinung nach zum großen Nachteil des Fachs.
Der Rückgriff auf die Metaphysik ist so, als würde man ein Streichholz in das Pulvermagazin werfen. Damit wird die ganze Arena in die Luft gesprengt. Das ist genau das, was wissenschaftliche Philosophen tun, wenn sie in eine Ecke gedrängt und der Inkohärenz überführt werden. Sie ziehen sofort den Verstand heran und sprechen von Entitäten im Verstand oder außerhalb des Verstandes, je nachdem, was der Fall ist. Für die Naturphilosophie ist alles Wahrgenommene in der Natur. Wir können uns nicht alles aussuchen. Für uns gehört das rote Leuchten des Sonnenuntergangs ebenso zur Natur wie die Moleküle und die elektrischen Wellen, mit denen die Naturwissenschaftler das Phänomen erklären würden. Es ist Aufgabe der Naturphilosophie, zu analysieren, wie diese verschiedenen Elemente der Natur zusammenhängen.
Mit dieser Forderung mache ich mir unsere unmittelbare, instinktive Haltung gegenüber Wahrnehmungswissen zu eigen, die erst unter dem Einfluss der Theorie aufgegeben wird. Wir sind instinktiv bereit, zu glauben, dass man mit der nötigen Aufmerksamkeit mehr in der Natur finden kann als das, was man auf den ersten Blick sieht. Aber wir werden uns nicht mit weniger zufrieden geben. Was wir von der Wissenschaftsphilosophie verlangen, ist eine Erklärung für die Kohärenz der wahrgenommenen Dinge.
Dies bedeutet eine Ablehnung jeglicher Theorie über psychische Zusätze zu dem in der Wahrnehmung bekannten Objekt. Was zum Beispiel in der Wahrnehmung gegeben ist, ist das grüne Gras. Dies ist ein Objekt, das wir als Bestandteil der Natur kennen. Die Theorie der psychischen Zusätze würde das Grün als einen psychischen Zusatz behandeln, der vom wahrnehmenden Geist geliefert wird, und würde der Natur lediglich die Moleküle und die Strahlungsenergie überlassen, die den Geist zu dieser Wahrnehmung beeinflussen. Mein Argument ist, dass dieses Heranziehen des Verstandes, der eigene Ergänzungen zu dem Ding macht, das von der Sinneswahrnehmung für die Erkenntnis postuliert wird, nur eine Art ist, sich vor dem Problem der Naturphilosophie zu drücken. Dieses Problem besteht darin, die Beziehungen zwischen den bekannten Dingen zu erörtern, abstrahiert von der bloßen Tatsache, dass sie bekannt sind. Die Naturphilosophie sollte niemals fragen, was im Geist und was in der Natur ist. Dies wäre ein Eingeständnis, dass sie es versäumt hat, die Beziehungen zwischen den wahrnehmbar bekannten Dingen auszudrücken, d.h. jene natürlichen Beziehungen auszudrücken, deren Ausdruck die Naturphilosophie ist. Es mag sein, dass die Aufgabe zu schwer für uns ist, dass die Beziehungen zu komplex und zu vielfältig sind, um von uns erfasst zu werden, oder dass sie zu trivial sind, um die Mühe der Darstellung wert zu sein. Es ist in der Tat wahr, dass wir bei der angemessenen Formulierung solcher Beziehungen nur einen sehr kleinen Schritt vorangekommen sind. Aber lassen Sie uns wenigstens nicht versuchen, unser Scheitern unter einer Theorie über das Spiel des wahrnehmenden...
Erscheint lt. Verlag | 24.3.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Erkenntnistheorie / Wissenschaftstheorie |
ISBN-10 | 3-7578-6673-8 / 3757866738 |
ISBN-13 | 978-3-7578-6673-0 / 9783757866730 |
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