Wie die Welt wirklich funktioniert -  Vaclav Smil

Wie die Welt wirklich funktioniert (eBook)

Die fossilen Grundlagen unserer Zivilisation und die Zukunft der Menschheit

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
392 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-80056-6 (ISBN)
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Der tschechisch-kanadische Wissenschaftler Vaclav Smil ist einer der weltweit führenden Experten für Energiefragen. In diesem Buch unterzieht er die Hoffnung auf eine schnelle Umstellung auf erneuerbare Energien einem Realitätscheck und konfrontiert die politiischen Ziele mit der wissenschaftlichen Realität. Dabei erinnert er daran, auf welchen materiellen Grundlagen unser modernes Leben beruht und wie abhängig wir bei ihrer Produktion bis auf Weiteres von fossilen Brennstoffen bleiben werden. Denn nicht Datenflüsse sind der harte Kern unserer Zivilisation, sondern so unaufregende Dinge wie Stahl, Zement, Ammoniak und Plastik. Wer die Welt verändern will, sollte erst verstehen, wie sie wirklich funktioniert. Die Menschheit hat so viel Wissen angehäuft wie noch nie in ihrer Geschichte. Doch für den Einzelnen werden immer mehr Geräte und Produkte unseres alltäglichen Lebens zu einer Art Blackbox. Wir können damit umgehen, aber verstehen nicht mehr, wie sie wirklichfunktionieren. Immer mehr Menschen haben zudem nur noch oberflächliche Vorstellungen davon, wie wir die Nahrungsmittel, Rohstoffe und Güter herstellen, auf denen unsere Gesellschaft materiell beruht. Dies führt zu Fehleinschätzungen, etwa der, wir könnten unsere Zivilisation in kurzer Zeit von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energien umstellen. Denn es geht nicht nur um eine nachhaltige Stromproduktion, sondern etwa auch um alternative Verfahren bei der Herstellung von Zement, Stahl, Plastik und Dünger. Technische Innovationen allein reichen nicht, sie müssen auch kommerziell funktionieren und weltweit implementiert werden - in hunderttausenden Fabriken und Produktionsstätten. Wer sich über die Zukunft unseres Planeten Gedanken macht, der sollte die Fakten kennen, die Vaclav Smil in diesem Buch liefert.

Vaclav Smil ist Professor em. für Umweltwissenschaften an der University of Manitoba. Er ist Autor von über 40 Büchern über Energie und Umweltfragen, darunter das Grundlagenwerk "Energy and Civilization". Von keinem anderen lebenden Wissenschaftler wurden mehr Bücher in "Nature" besprochen. Smil gilt als Bill Gates Lieblingswissenschaftler und wurde 2010 von "Foreign Policy" unter die "Top 100 Global Thinkers" gezählt.

Einleitung: Wozu dieses Buch?


Jede Epoche darf von sich behaupten, einzigartig zu sein. Doch obgleich die Erfahrungen der letzten drei Generationen – also der Jahrzehnte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – vielleicht nicht von so grundstürzenden Umwälzungen geprägt waren wie die der drei Generationen vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, mangelte es auch ihnen nicht an ungeahnten und unerhörten Geschehnissen und Fortschritten. Beeindruckender als alles andere ist, dass sich heute mehr Menschen eines höheren Lebensstandards erfreuen können – und das bei höherer Lebenserwartung und besserer Gesundheit – als das jemals zuvor in der Geschichte der Fall war. In den Genuss dieses Fortschritts kommt allerdings nur eine Minderheit (etwa ein Fünftel) der Weltbevölkerung, deren Zahl die Acht-Milliarden-Marke mittlerweile schon überschritten hat.

Ein zweiter Fortschritt, der Bewunderung verdient, ist die beispiellose Ausweitung unseres Wissens sowohl über die anorganische Welt als auch über alle Formen des Lebens. Unser Wissen erstreckt sich von umfassenden Theorien über komplexe Systeme auf kosmischer (Galaxien, Sterne) und planetarischer Ebene (Atmosphäre, Hydrosphäre, Biosphäre) bis zu Erkenntnissen im Bereich der Atome und Gene: Die in die Oberfläche der leistungsstärksten Mikroprozessoren geätzten Leiterbahnen haben nur noch ungefähr den doppelten Durchmesser eines menschlichen DNA-Strangs. Wir haben dieses Wissen in Ideen und Baupläne für ein immer weiter wachsendes Sortiment von Maschinen, Geräten, Verfahrensweisen, Protokollen und Interventionen übersetzt, die unsere Zivilisation am Laufen halten. Unser kollektives Wissen und die daraus hervorgegangenen technischen Anwendungen, die wir uns zunutze machen können, haben ein so enormes Ausmaß erreicht, dass kein einzelnes menschliches Gehirn in der Lage ist, mehr als einen kleinen Bruchteil davon zu überblicken.

Einem Universalgelehrten, wie die Renaissance ihn sich idealerweise vorstellte, konnte man auf der Piazza Signoria in Florenz im Jahr 1500 vielleicht noch begegnen, aber danach wohl nicht mehr lange. Mitte des 18. Jahrhunderts sahen sich zwei französische Gelehrte, Denis Diderot und Jean le Rond d’Alembert, noch in der Lage, unter Mitarbeit einer ausgewählten Gruppe kenntnisreicher Mitautoren das gesammelte Wissen ihres Zeitalters in ziemlich detailgenauen Artikeln zusammenzufassen und in einem vielbändigen Lexikon – Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers – zu publizieren. Nur wenige Generationen später hatten sich Umfang und Spezialisierungsgrad unseres Wissens bereits potenziert, nicht zuletzt dank grundlegender neuer Erkenntnisse und Entdeckungen in Bereichen wie der magnetischen Induktion (Michael Faraday 1831, Grundlage für die Erzeugung elektrischen Stroms), dem pflanzlichen Stoffwechsel (Justus von Liebig 1840, Grundlage für die Nutzpflanzendüngung) oder dem Elektromagnetismus (James Clerk Maxwell 1861, Grundlage sämtlicher Techniken der drahtlosen Kommunikation).

1872, ein Jahrhundert nach Erscheinen des letzten Bandes der Encyclopédie, waren Anthologien des menschlichen Wissens nur noch als provisorische Überblicke über ein sich in rascher Expansion befindliches Spektrum von Gegenständen denkbar, und heute, weitere eineinhalb Jahrhunderte später, ist es unmöglich geworden, den Stand unseres Wissens selbst innerhalb eng umschriebener Spezialdisziplinen zusammenzufassen – Rubriken wie «Physik» oder «Biologie» sind zu eher bedeutungslosen Etiketten geworden, sodass etwa ein Fachexperte für Teilchenphysik sich sehr schwer damit täte, auch nur die erste Seite eines neuen Forschungsberichts aus dem Bereich der viralen Immunologie zu verstehen. Dass diese Atomisierung unseres Wissens gesellschaftliche Entscheidungsprozesse zunehmend erschwert, liegt auf der Hand. Viele hochspezialisierte Teildisziplinen heutiger Naturwissenschaft sind so «exklusiv» geworden, dass viele, die sich ihnen verschreiben, zehn oder mehr Studienjahre benötigen, um sich den aktuellen Wissensstand zu erarbeiten und mit Anfang oder Mitte 30 die Aufnahme in den neuen Hohepriesterorden zu schaffen.

Auch wenn ihnen allen die lange Lehrzeit gemein ist, kommt es oft genug vor, dass sie sich nicht auf die beste Vorgehensweise einigen können. Wie im Verlauf der COVID-19-Pandemie deutlich wurde, können sich Meinungsverschiedenheiten zwischen Experten sogar auf scheinbar simple Fragen wie die nach dem Nutzen von Gesichtsmasken erstrecken. Ende März 2020, drei Monate nach Ausbruch der Pandemie, empfahl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Tragen einer Maske ausdrücklich nur infizierten Personen; die Kehrtwende hin zu einer allgemeinen Maskenempfehlung kam schon Anfang Juni 2020. Wie können Leute ohne einschlägiges Fachwissen aus solchen wissenschaftlichen Wendemanövern schlau werden, die heute oft damit enden, dass eine bis vor kurzem vorherrschende Lehrmeinung verworfen oder für überholt erklärt wird?

Dennoch, solche immer wieder auftretenden Ungewissheiten und Dispute dürfen nicht als Entschuldigung für das hochgradige Unverständnis der meisten Menschen für die grundlegende Funktionsweise der modernen Welt dienen. Eine zumindest ungefähre Ahnung davon, wie Weizen angebaut wird (Kapitel 2 dieses Buches) oder wie Stahl hergestellt wird (Kapitel 3), oder ein Wissen darum, dass die Globalisierung weder neu noch unvermeidlich ist (Kapitel 4), ist schließlich nicht dasselbe wie die Forderung, der Normalbürger müsse etwas von Femtochemie (der Lehre von chemischen Reaktionen in der zeitlichen Größenordnung von 10−15 Sekunden, Ahmed Zewail, Nobelpreis 1999) oder von Polymerase-Kettenreaktionen verstehen (dem schnellen Kopieren von DNA-Sequenzen, Kary Mullis, Nobelpreis 1993).

Warum haben die meisten Angehörigen moderner Gesellschaften aber dennoch so oberflächliche Kenntnis davon, wie die Welt wirklich funktioniert? Die Komplexität der modernen Welt bietet sich als Erklärung an: Menschen von heute interagieren ständig mit Artefakten vom Typ «Blackbox», Gerätschaften, die sich relativ leicht bedienen lassen und einen gewünschten Output liefern, ohne dass der Bediener versteht oder verstehen muss, was im Inneren des Geräts vor sich geht. Das gilt für so allgegenwärtige Geräte wie Handys oder Laptops (die uns nicht mehr abverlangen als das Eingeben einer einfachen Frage) ebenso wie für großangelegte Maßnahmen wie Imfpungen (für die das Jahr 2021 mit Sicherheit das beste Beispiel auf dem Planeten geliefert hat und wobei typischerweise das Hochkrempeln des Ärmels der einzige für jeden verständliche Teil war). Doch bei der Suche nach Erklärungen für dieses Verständnisdefizit sollten wir über den Gemeinplatz hinausgehen, dass die schiere Menge unseres Wissens uns zu einer Spezialisierung nötigt, deren Kehrseite eine zunehmende Verflachung unseres Verständnisses grundlegender Dinge ist.

Zwei wichtige Ursachen für dieses auf Ignoranz zustrebende Verständnisdefizit heißen Verstädterung und Mechanisierung. Seit 2007 lebt die Weltbevölkerung zu mehr als der Hälfte in Städten (in den reichen Ländern sogar mehr als 80 Prozent), wobei sich die Erwerbsarbeit in den modernen Großstädten, anders als in den großen Industrierevieren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, überwiegend im Dienstleistungssektor abspielt. Das führt dazu, dass die meisten heutigen Stadtbewohner jeden persönlichen Bezug nicht nur zur Erzeugung unserer Nahrungsmittel verloren haben, sondern auch zu der Art und Weise, wie wir unsere Maschinen und Geräte bauen. Die zunehmende Mechanisierung der industriellen Produktion hat zur Folge, dass heute nur noch ein sehr kleiner Teil der Weltbevölkerung mit der Bereitstellung der Rohstoffe, Treibstoffe und Gebrauchsgüter beschäftigt ist, aus denen sich unsere moderne Welt materiell zusammensetzt.

In den Vereinigten Staaten sind heute nur noch rund drei Millionen Männer und Frauen (als selbstständige Landwirte und Lohnarbeiter) unmittelbar in der Nahrungsmittelerzeugung tätig; sie sind es, die den Ackerboden umpflügen, Saat und Düngemittel ausbringen, Unkraut ausmerzen, die Ernte einbringen (wobei das Ernten von Obst, Beeren und Gemüse die arbeitsintensivsten Teilprozesse sind) und sich um das Vieh kümmern. Diese drei Millionen entsprechen weniger als einem Prozent der US-Bevölkerung, und somit ist es kein Wunder, dass die meisten Amerikaner keine – oder nur eine sehr ungefähre – Ahnung davon haben, wie die Brotschnitten und Wurstscheiben, die auf ihrem Teller landen, entstanden sind. Mähdrescher ernten Weizenkörner – aber ernten sie auch Sojabohnen oder Linsen? Wie lange dauert es, bis aus einem winzigen Ferkel ein Schweineschnitzel wird?...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2023
Übersetzer Karl Heinz Siber
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
ISBN-10 3-406-80056-4 / 3406800564
ISBN-13 978-3-406-80056-6 / 9783406800566
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