Bürgerliche Kälte (eBook)

Affekt und koloniale Subjektivität
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
406 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45389-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bürgerliche Kälte -  Henrike Kohpeiß
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»Bürgerliche Kälte« bezeichnet eine Gefühlslage der Gegenwart, mit der sich Bürger:innen vor der Gewalt schützen, die sie selbst verursachen. Den Kolonialismus und die Philosophie der Aufklärung im Blick, legt Henrike Kohpeiß dar, wie sich rassistische Gefühlsstrukturen ausbilden. Dafür treten die klassischen, kritischen Texte von Adorno und Horkheimer in einen Dialog mit dem Feld der Black Studies und Denker:innen wie Saidiya Hartman, Fred Moten und Denise Ferreira da Silva. Diese beiden intellektuellen Traditionen verbindet die radikale Kritik an der kapitalistischen und kolonialen Einrichtung der Welt. Die Gewaltgeschichte des europäischen Kolonialismus wird so als Affekttheorie bürgerlicher Subjektivität gelesen, ihr wird jeder Anschein von Unschuld genommen.

Henrike Kohpeiß, Dr. phil., ist Philosophin und arbeitet in den Bereichen Kritische Theorie, Black Studies und Affekttheorie.

Henrike Kohpeiß, Dr. phil., ist Philosophin und arbeitet in den Bereichen Kritische Theorie, Black Studies und Affekttheorie.

Ägäis


In der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ist der Held Odysseus das Subjekt der Heimkehr. Odysseus, der mit seinen Gefährten zehn Jahre lang auf dem Mittelmeer herumirrt, schafft es in Homers Mythos schließlich nach Hause, nach Ithaka, wo ihn seine Frau Penelope erwartet. Odysseus rettet sich. Er übersteht die zahlreichen Gefahren, die das Meer bereithält, und erzählt in Form einer langen Abenteuergeschichte – den Gesängen 9–12 in Homers Odyssee – von seiner Reise. Die einzelnen Bedrohungen beschreibt Odysseus in seinem Bericht für den Phaiakenkönig Alkinoos, der ihn freundlich aufnimmt, als er alleine am Strand der Insel Scheria landet. Obwohl der Bericht für den Phaiakenkönig Spannung entfaltet, darf die heutige Leserin von Beginn an gewiss sein, dass Odysseus Ithaka lebend erreichen wird. Das Epos beginnt anti-chronologisch mit der Verhandlung der Götter über die Heimkehr und eignet sich deshalb eigentlich gar nicht als spannungsgeladene Erzählung. Odysseus’ Nacherzählung seiner Erfahrungen auf dem Meer folgt in der Odyssee also nicht dem serial-dramaturgischen Prinzip einer Aneinanderreihung von Cliffhangern (obgleich sie es könnte). Die Geschichte entfaltet sich vielmehr als Rückblick. So wird sie mit dem Gewicht und der Würde des Abenteuers versehen. Beides speist sich aus der Gewissheit, dass Odysseus alle Herausforderungen, von denen die Erzählung handelt, erfolgreich gemeistert hat. Adornos und Horkheimers Auseinandersetzung mit dem Epos, das ihnen als dialektisches Paradigma für die Herausbildung einer europäischen Subjektstruktur sowie als Artikulationsfläche der historischen Prinzipien Mythos und Aufklärung dient, macht es zu mehr als nur einem von vielen Beispielen ihrer Theorie. Vielmehr ist die besondere Stellung der Odyssee in der Dialektik der Aufklärung als Auseinandersetzung mit einem europäischen Gründungsmythos zu bewerten. Die Figur Odysseus und die Art und Weise, wie sie durch die Odyssee vermittelt wird, erlaubt eine kritische Betrachtung der scheinbar natürlichen Existenz von selbstbewussten Subjekten. Die Bedingungen der Subjektwerdung und der Selbstverständigung Odysseus’ werden als spezifische Anordnungen von Verfügungsmacht, Sinnlichkeit und Erzähltechnik sichtbar. Theoretisch-materialistisch betrachtet, sind die zahlreichen Referenzen, die auf Homers Text zurückweisen, Grund genug, dieses Werk in der Mitte des 20. Jahrhunderts erneut zu betrachten.48 Doch Adorno und Horkheimer greifen aus einem spezifischen, dringlichen Grund darauf zurück: Für sie ist die sich im 20. Jahrhundert entfaltende Konstellation der industriellen Vernichtung von Menschen, dem Glauben an die Ideale des 18. Jahrhunderts und der Zurichtung von Individuen sowie ihrer Weltwahrnehmung im Kapitalismus bereits in der Odyssee angelegt – ohne dass daraus auf die lineare Entfaltung dieser Zusammenhänge im Laufe der Weltgeschichte zu schließen wäre. Vielmehr ist die Spiegelung im alten, über verschiedene Epochen hinweg geschätzten Text ein Versuch, das Verehrte als Blendendes zu entlarven und die gefeierten Handlungen als konkrete menschliche Taten zu entsakralisieren, indem die ihnen zugrundeliegenden Tauschverhältnisse in die Bewertung einbezogen werden. Die Art und Weise, wie Adorno und Horkheimer Odysseus’ Überleben beschreiben, richtet sich auf genau diese Aspekte und ihre Verwobenheit. Sie werfen einen kritischen Blick auf Odysseus’ strategisches Vorgehen (die List), auf seine Charakterisierung als Held und auf sein Verhältnis zum Naturnotwendigen. Aber auch auf jene seiner Handlungen, welche die Natur als eine durch den Menschen zu unterwerfende Kraft zu regieren suchen – und nicht zuletzt auf seine Anfälligkeit für die Verführung durch das Sinnliche, das hier ebenfalls als »Natur« bezeichnet wird. Zum gegebenen Zeitpunkt verbinden sich diese Aspekte zu der verstörenden Feststellung, dass die von Odysseus ersehnte und schließlich geleistete Unterwerfung der Natur einer technischen Beherrschung der Welt und der in ihr lebenden Menschen nicht allzu fern ist und in Gewaltexzessen und Unterdrückung verwirklicht wird. Und dass all dies mit den Idealen der europäischen Aufklärung – Freiheit durch Autonomie und Selbstbestimmung – zusammenhängt. Diese provokative Beobachtung von Adorno und Horkheimer lässt den uneingeschränkten Fortschritt der Vernunft plötzlich primär als Gefahr erscheinen. Auch weil sich diese Ideale innerhalb des europäischen Demokratie-Diskurses bis heute hartnäckig halten und in ihrem Kern unangetastet erscheinen, lohnt es sich, Adornos und Horkheimers öffnende Lektüre zu wiederholen. Die Honorierung heldenhafter Leistungen Einzelner ist genauso Symptom von Fortschrittsideologien wie die europäische Abschottung gegenüber als »weniger zivilisiert« bezeichneten Anderen auf der »uns« gegenüberliegenden Seite des Mittelmeers.

Während die Analyse und Kritik, die Adorno und Horkheimer an den Begriffen Mythos und Aufklärung vornehmen, um allzu einstimmigen Affirmationen »der Aufklärung« eine dialektische Betrachtung entgegenzusetzen, noch immer uneingeschränkt gelten können, steht die Übersetzung dieser Kritik in gesellschaftliche Praxis noch immer aus. Auch die Besinnung auf eine spezifische Idee von Selbstbestimmung – die meist mit Säkularität und materieller Unabhängigkeit durch eigene kapitalistische Wertschöpfung assoziiert ist und als primäres emanzipatives Mittel und Ziel herangezogen wird – deutet darauf hin, dass das Idealsubjekt der Aufklärung nach wie vor die Imagination beherrscht. Adorno und Horkheimer haben Kritik an solchen Ideen von Individuum und Gesellschaft vielerorts geleistet.49 Der feministische Diskurs hat die Analyse der Verschränkungen von moderner Subjektivität und Kapitalismus allerdings um wichtige Argumente ergänzt. Die Einbeziehung reproduktiver Arbeit in die Ökonomiekritik50 sowie die postkoloniale Kritik an universellen Vorstellungen von Emanzipation51 sind nur zwei von vielen Aspekten, die zeigen, dass Adornos und Horkheimers Ausgangspunkte inzwischen aktualisiert und ausdifferenziert worden sind. Damit fällt auch die Vorstellung eines sogenannten Hauptwiderspruchs – der Ausbeutung im Kapitalismus als primärer Quelle von gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, durch deren Beseitigung auch alle anderen Unterdrückungsverhältnisse überwunden werden würden. Die Dialektik der Aufklärung muss in der Gegenwart multifaktoriell analysiert werden, um die Komplexität von emanzipativen Kämpfen theoretisch begleiten zu können.

Ein kurzer Blick auf einige Motive in der Odyssee, die bei Adorno und Horkheimer unterbelichtet bleiben, zeigt die Veränderungen im kritischen Diskurs direkt am Material. Dies betrifft zum Beispiel die Position der rudernden, also dienenden Gefährten sowie die Beschreibung der Sirenen als »unwiderstehliche« Kraft weiblicher Verführung. Beide Bilder verlangen nach differenzierten Machtanalysen, die sich nicht auf die Identifikation von Tauschlogiken reduzieren lassen. Welchen Anteil haben die Gefährten am Überleben Odysseus’ und in welchem Verhältnis stehen sie zu ihm? Wie konstruiert die Bezeichnung des Sirenengesangs als »unwiderstehlich« eine Gleichsetzung von Weiblichkeit und Natur und greift damit auf ein über Jahrhunderte gängiges Motiv vor, das Frauen Rationalität abspricht und dadurch ihre Unterdrückung rechtfertigt?

Die Dialektik der Aufklärung erneut zu lesen und dabei zu fokussieren, wie die Autor*innen52 die Geschichte der Odyssee als Subjektivierungsprozess erzählen, bringt das Epos und seine Reflexion durch Adorno und Horkheimer mit subjektphilosophischen Fragen der Gegenwart produktiv in Verbindung. Dabei wird vor allem die Grundproblematik bürgerlicher Subjektivität aktualisiert – oder eher: bürgerliche Subjektivierung als Grundproblem noch in der Gegenwart verständlich. Im Folgenden vollziehe ich die Interpretation der Figur Odysseus durch Adorno und Horkheimer als bürgerliches Selbst nach. Zunächst geht es dabei um die List als Mittel des Umgangs mit Gefahren und als Merkmal heldenhafter Intelligenz. Dieses Thema bietet Gelegenheit, der oft verharmlosten Gewalttätigkeit ...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2023
Reihe/Serie Philosophie & Kritik
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Black Studies • bürgerlich-koloniale Ordnung • Gewaltverhältnisse der Moderne • koloniale Gewaltverhältnisse • Kritische Theorie • Philosophie • Saidiya Hartman • westliche Moderne
ISBN-10 3-593-45389-4 / 3593453894
ISBN-13 978-3-593-45389-7 / 9783593453897
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