Die Macht zu sein (eBook)
193 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4290-7 (ISBN)
Jean-Michel Le Lannou lehrt als Professor für Philosophie in Versailles. Er forscht zur französischen Philosophie des 19. Jahrhunderts (Ravaisson, Lachelier, Lagneau), zur zeitgenössischen Ästhetik und zur idealistischen Philosophie. Seit »La puissance sans fin« (2005) hat er eine radikale Kritik des Neo-Aristotelismus (sowohl des Hegelianismus als auch des Heideggerianismus) entwickelt und hinterfragt die Bedingungen und Modalitäten eines nicht mehr »repräsentativen« Idealismus.
I
DIE BEGIERDE DER UNERMESSLICHKEIT
Wir begehren Intensität und Unermesslichkeit. In ihren ontologischen Eigenschaften durchdacht, bestimmen sie nichts im Endlichen und können nicht in ihm entstehen. Die Unermesslichkeit und unsere Erfahrung schließen sich durch eine strikte Trennung aus. Wir begehren, was das Dasein weder geben noch empfangen kann. Was wollen wir wirklich? Sein, ohne durch eine Grenze gemessen, ohne in und von Besonderheit eingeschlossen, ohne von Mangelhaftigkeit umhüllt zu werden. Was begehren wir also? Nach Allgemeinheit strebend uns von der Endlichkeit zu lösen.
Was legt die Philosophie dar? Zunächst, was wir nicht mehr begehren. Sie spricht das Zurücklassen und den Bruch aus, in welchem sich die Begierde abkoppelt und von ihrer spontanen Tätigkeit befreit. Wir begehren nicht mehr, was im Horizont des Endlichen erscheint, nichts, was die Erfahrung geben kann, nichts, wozu sie fähig ist. In ihr erscheint alles der Trennung unterworfen. In ihr ziehen sich Macht und Substantialität in die Abwesenheit zurück. Dem Endlichen, also dem Repräsentativ, nicht mehr zuzustimmen, heißt zugleich, sich zu weigern, in einer Figur eingeschlossen zu bleiben. Von nun an stimmen wir der Gefangenschaft in einer Besonderheit nicht mehr zu. Die Begierde der Unendlichkeit löst sich aus ihrer Verstrickung mit der Begierde der Vorstellung. In dieser und durch diese Diskrimination, in dem Zurücklassen der Begierde, in welcher wir geboren sind, kündigt sich die Weise an, in der wir die Begierde der Intensität als die einzig wahrhaft unsrige empfangen. Die Philosophie ist also nichts anderes als diese ihre Bedingungen, Modalitäten und ihren Ursprung reflektierende Begierde. In dieser Reflexion entdeckt die Philosophie sich als Begierde der Unermesslichkeit und erhellt sich selbst, indem sie in ebendieser Begierde ihre eigene Macht wiedererkennt. Indem sie diese Identität klar ausdrückt, setzt die Philosophie dem anfänglichen Schein ihrer Verschiedenheit von dieser Begierde ein Ende. Woher stammte diese Illusion? Von einem doppelten Missverständnis, das sich sowohl auf die Begierde als auch auf die Philosophie bezog. Vor dieser suchten wir die Intensität außerhalb des Denkens. Wir hatten diese absurderweise mit dem Gefühl, dem Affekt oder dem Leben identifiziert. Das Denken verstand sich damals als die Forderung seiner Selbstpassivierung, seines Machtverzichts. Gefordert wurde, die Produktion der Passivität für die Bedingung der Erfahrung der Intensität zu halten. Jede Philosophie, die das Sein mit dem Leben identifiziert, fordert nämlich die Negation des Denkens als ihre Bedingung. Wir wissen von nun an, wie widersprüchlich und eitel dieses Streben ist. Wohin führt es, wenn nicht zu einer eingebildeten Passivität, die durch eine unausweichliche Gefangenschaft in der Mangelhaftigkeit des Repräsentativs verschlimmert wird? Alle Versuche haben dies zur Genüge gezeigt: Kein Exzess der Vorstellung zum Leben hin ist durchführbar. Von nun an ist der in sich aporetische Charakter dieses Vorgangs offenbar.
Das dogmatische und unreflektierte Streben, der Vorstellung zu entkommen, führte jedoch lange dazu, die Intensität im Leben zu suchen. In der postkantischen Struktur wurde das Leben in seinem spezifischen Seinsmodus als das Andere der Vorstellung bezeichnet: Sinnlichkeit und Affekt oder sinnliche Materie. Was ist diese These? Sicherlich das gravierendste Missverständnis, da sie, indem sie das Denken auf die Vorstellung reduziert, die Intensität von der Wahrheit trennt. Die Begierde der Intensität unterscheidet sich jetzt von jeglicher Art der »Vitalisierung«. Wir weigern uns, die Begierde vom Denken zu trennen, wir haben den Glauben aufgegeben, die Begierde habe einen anderen Ursprung als das Denken selbst. Intensität außerhalb der intellektuellen Aktivität ist nicht. Indem wir erkennen, dass Unermesslichkeit sich nur in der Macht des Denkens produziert, hören wir zugleich auf, sie voneinander trennen zu wollen, und setzen damit dem angeborenen Missverständnis ein Ende. Unter dieser Bedingung findet sich die Begierde wieder, unter dieser Bedingung können wir sie als die von der Endlichkeit befreiende Macht wiedererkennen. Allein das Denken übersteigt nämlich die Vorstellung, allein seine Aktivität befreit uns von Mangelhaftigkeit und Substanzlosigkeit. Nichts könnte uns dazu bringen, Intensität weiter im Leben zu suchen. Dies gilt jedoch nur unter der Voraussetzung, dass wir zeigen, dass sich das Denken in der von der Begierde der Unermesslichkeit offenbarten Spur nicht auf das Vorstellen reduziert. In dieser Unterscheidung gibt der Idealismus dem Denken zugleich seine Begierde und seine Macht zurück.
* * *
Philosophisch ist die Begierde, die nicht mehr Begierde des Repräsentativs ist: die Begierde danach, was in diesem nicht erscheinen kann, danach, was dieses übersteigt. Was begehren wir also? Intensität und Macht, die nicht auf die figurale Beschränkung reduzierbar sind. In dieser prinzipiellen Unterscheidung befreit die Philosophie die Begierde des reinen Denkens. In unserer anfänglichen Situation erscheint diese Begierde im Vorstellen, d. h. in dem, was ihre Anwesenheit ausschließt. Also findet sie sich als Exzess wieder, als die Weigerung, der Mangelhaftigkeit des Repräsentativs zuzustimmen.
So entsteht im Idealismus die erste Schwierigkeit: Wir streben danach, die Intensität in uns zu erfahren, was im Repräsentativ nicht stattfinden kann. Da Unermesslichkeit und Vorstellung sich in einem disjunkten Verhältnis befinden, kann die Vorstellung nicht den Horizont der Befriedigung unserer Begierde bilden. Jede Figur – in sich selbst unbefriedigend – schließt die Anwesenheit von Intensität aus. Wir begehren, wovon wir in der Figur keine Erfahrung machen können. Ist es nicht eitel und widersprüchlich, das zu begehren, was unsere Erfahrung ausschließt? Das Repräsentativ schließt die Anwesenheit von Unermesslichkeit aus, in der von ihm eröffneten Erfahrung kann sie nicht entstehen. Muss man also nicht anerkennen, dass das Erleben der Unermesslichkeit die Abschaffung dessen verlangt, was wir sind, was wir zu sein gewiss sind? Die Aporie scheint unausweichlich und uns sogar dazu führen zu müssen, auf diese Begierde zu verzichten.
Die Forderung nach Unermesslichkeit kann aber nicht aufgegeben werden: Dies würde bedeuten, der Ohnmacht zuzustimmen, das Unerträgliche zu akzeptieren. Wir können uns auch nicht damit befriedigen, uns den Exzess des Repräsentativs vorzustellen, so mit der bloßen Ankündigung der Befreiung ohne ihre Erfahrung zufrieden, was widersprüchlich wäre. Bloß vorgestellte Unermesslichkeit wüsste uns nicht zu befriedigen.
Was entsteht also in der Philosophie? Das größte Paradox: Die Begierde der Unermesslichkeit akzeptiert es nicht mehr, sich der figuralen Beschränkung oder irgendetwas zu unterwerfen, was Ohnmacht und Sklaverei als schicksalhaft aufzwingt. Wir glauben nicht mehr daran, was uns damals der Mangelhaftigkeit zustimmen ließ. In einem radikalen Widerstand entlarvt die Begierde der Unermesslichkeit die angebliche Realität, also alles, was zur Liebe dessen führt, was die Unermesslichkeit hemmt. Die Philosophie, die einzige Subversion, lehrt uns gegen die Herrschaft des Repräsentativs den Exzess.
Was gebietet uns der Exzess? Nicht mehr im Repräsentativ eingeschlossen zu bleiben, sogar nicht mehr danach zu streben, was in ihm erscheint. Diesem zuzustimmen, heißt, unmittelbar auf die Macht des Denkens zu verzichten, implizit vorauszusetzen, nur die Ohnmacht wollen zu können, sogar zu glauben, wir seien nur in ihr und durch sie. So lautet jedoch die prinzipielle Entscheidung der neoaristotelischen These, aus welcher Hegel die letzte Konsequenz zog. Wider dieses Schicksal der Knechtung müssen wir dem scheinbaren Widerspruch entgegentreten: Intensität zu wollen, heißt zugleich, sich dem Repräsentativ zu verweigern, Unermesslichkeit zu wollen, heißt, zuzustimmen, dass diese Forderung unsere Erfahrung dekonstruiert. Aber liegt immer noch ein Widerspruch vor, wenn wir anerkennen, dass wir nach dieser Abschaffung streben? Die Philosophie, Treue zum Exzess, fordert, dass wir in uns die Macht des Denkens entfesseln und wir für diese Befreiung alle Bedingungen produzieren. Die Forderung kann nur denjenigen beunruhigen, der sich als Repräsentativ versteht, der in der figuralen Verschlossenheit sein und sich damit begnügen will. Für ihn ist der philosophische Aufstand nämlich gefährlich.
* * *
Dies ist die erste Aufgabe: zu zeigen, dass die Begierde der Unermesslichkeit weder eitel noch widersprüchlich ist, dass es keineswegs unausweichlich ist, dass ihr durch uns widersprochen wird, und dass das, worauf sie de facto stößt – unsere Erfahrung –, sie nur relativ behindert. Nichts zwingt das Denken, seiner Ohnmacht zuzustimmen, und damit zuzulassen, dass die Schwäche des Repräsentativs uns ohne Ende unterwirft. Die...
Erscheint lt. Verlag | 8.12.2022 |
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Reihe/Serie | Blaue Reihe | Blaue Reihe |
Übersetzer | Thurid Bender |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Französische Philosophie • Freiheitstheorie • Idealismus • Ontologie |
ISBN-10 | 3-7873-4290-7 / 3787342907 |
ISBN-13 | 978-3-7873-4290-7 / 9783787342907 |
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