Der Magier im Kreml (eBook)
265 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-79994-5 (ISBN)
Giuliano da Empoli ist ein italo-schweizerischer Schriftsteller und Wissenschaftler. Er ist der Gründer von Volta, einem pro-europäischen Think Tank mit Sitz in Mailand, und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Sciences-Po Paris. Zuvor war er stellvertretender Bürgermeister für Kultur in Florenz und Berater des italienischen Ministerpräsidenten Renzi. Er ist Autor zahlreicher, international veröffentlichter Essays, darunter zuletzt "Ingenieure des Chaos" (2020) über neue Propagandatechniken, das auch ins Deutsche übersetzt wurde. "Der Magier im Kreml" ist sein erster Roman. <br> <br> <div> Michaela Messner lebt als Literaturübersetzerin in München und hat u.a. Werke von Alexandre Dumas, Anne und Emily Brontë, César Aira und Négar Djavadi ins Deutsche übertragen. 1992 erhielt sie den Raymond-Aron-Preis. </div>
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Es kursierten schon lange die unterschiedlichsten Gerüchte über ihn. Manche sagten, er habe sich in ein Kloster auf dem Berg Athos zurückgezogen, um zwischen Steinen und Eidechsen zu beten, andere schworen, ihn in einer Villa in Sotogrande gesehen zu haben, umschwärmt von vollgekoksten Models. Wieder andere behaupteten, sie seien auf der Startbahn des Flughafens von Schardscha, im Hauptquartier der Donbass-Milizen oder in den Ruinen von Mogadischu auf seine Spuren gestoßen.
Seit Wadim Baranow sein Amt als Berater des Zaren niedergelegt hat, haben sich die Geschichten über ihn nicht in Luft aufgelöst, sondern vervielfacht. So ist das manchmal. Die meisten Machtmenschen beziehen ihre Aura aus der Position, die sie innehaben. Sobald sie diese verlieren, ist es, als habe man ihnen den Stecker gezogen. Sie fallen in sich zusammen wie die Puppen vor den Vergnügungsparks. Man begegnet ihnen auf der Straße und kann nicht verstehen, warum so unbedeutende Menschen so große Leidenschaften wecken konnten.
Baranow gehörte einer anderen Spezies an. Auch wenn ich beim besten Willen nicht sagen könnte, welcher. Auf Porträtfotos erblickte man einen kräftigen, wenngleich wenig athletischen Mann, der nahezu immer dunkle Farben und Anzüge trug, die ihm etwas zu groß waren. Er hatte ein unscheinbares, geradezu kindliches Gesicht, einen blassen Teint, schwarze, sehr glatte Haare und eine Erstkommunionsfrisur. In einem Video, das bei irgendeinem offiziellen Treffen aufgenommen wurde, sah man ihn lachen, was in Russland, wo schon ein einfaches Lächeln als Zeichen von Schwachsinn gilt, höchst selten ist. Tatsächlich erweckte er den Eindruck, nicht sonderlich auf seine äußere Erscheinung zu achten. Ein seltsamer Zug, wenn man bedenkt, dass genau das seine Aufgabe war: Spiegel im Kreis aufzustellen, um aus einem Fünkchen die größte Zauberwirkung zu schlagen.
Baranow bewegte sich in einer Wolke von Rätseln durchs Leben. Die einzige mehr oder minder gesicherte Tatsache war sein Einfluss auf den Zaren. In den fünfzehn Jahren, die er in dessen Diensten stand, hat er entscheidend zum Aufbau seiner Macht beigetragen. Man nannte ihn den «Magier im Kreml», den «neuen Rasputin».
Damals war seine Rolle nicht scharf umrissen gewesen. War das Tagesgeschäft abgewickelt, tauchte er im Büro des Präsidenten auf. Dabei hatten ihn die Sekretäre gar nicht benachrichtigt. Vielleicht rief ihn der Zar höchstpersönlich über eine Direktleitung an. Oder aber er selbst erriet den genauen Zeitpunkt, dank jener außerordentlichen Fähigkeiten, die in aller Munde waren, von denen aber niemand genau sagen konnte, worin sie eigentlich bestanden. Manchmal gesellte sich jemand zu ihnen. Ein beliebter Minister etwa oder der Chef eines Staatsunternehmens. Doch da in Moskau grundsätzlich niemand jemals etwas sagt, und das schon seit Jahrhunderten, konnte die Anwesenheit dieser gelegentlichen Zeugen auch kein Licht auf die nächtlichen Aktivitäten des Zaren und seines Beraters werfen. Es kam jedoch vor, dass man über die Folgen aufgeklärt wurde. Eines Morgens erfuhr Russland beim Erwachen, der reichste und bekannteste Geschäftsmann des Landes, das Symbol des neuen kapitalistischen Systems, sei verhaftet worden. Ein andermal waren alle vom Volk gewählten Präsidenten der Republiken der Russischen Föderation entlassen worden. Von nun an würde der Zar und niemand sonst sie ernennen, hatten die ersten Morgennachrichten den noch im Halbschlaf liegenden Bürgern verkündet. Meist blieben die Folgen dieser schlaflosen Nächte allerdings unsichtbar. Erst Jahre später stellte man Veränderungen fest, die völlig natürlich erschienen, obwohl sie in Wirklichkeit das Ergebnis gründlicher Arbeit waren.
In jenen Jahren war Baranow sehr zurückhaltend. Er trat nie in Erscheinung und ein Interview zu geben kam ihm nicht in den Sinn. Eine Angewohnheit hatte er jedoch angenommen. Hin und wieder schrieb er etwas, entweder einen kleinen Essay, den er in einer obskuren unabhängigen Zeitschrift veröffentlichte, oder eine Studie über Militärstrategie für die Spitzen der Armee, manchmal sogar eine Erzählung, in der er in bester russischer Tradition einen Hang zum Paradoxen bewies. Er zeichnete diese Texte nie mit seinem Namen, spickte sie aber mit allerlei Anspielungen, als Schlüssel zur Interpretation der neuen Welt, die aus den schlaflosen Nächten im Kreml hervorgegangen war. Zumindest glaubten das die Moskauer Höflinge und die ausländischen Kanzlerämter, die darum wetteiferten, Baranows obskure Formeln als Erste zu entschlüsseln.
Das Pseudonym, hinter dem er sich bei solchen Gelegenheiten versteckte, Nicolas Brandeis, sorgte für weitere Verwirrung. Die Eifrigsten hatten erkannt, dass sich hinter diesem Namen die Nebenfigur aus einem zweitrangigen Roman von Joseph Roth verbarg. Ein Tartarus, eine Art deus ex machina, der in den entscheidenden Momenten der Erzählung auftauchte, um sogleich wieder zu verschwinden. «Denn es gehört keine Stärke dazu, etwas zu erobern», sagte er. «Alles ist morsch und ergibt sich ihnen. Aber verlassen, verlassen, darauf kommt es an.» Ganz wie die Figuren in Roths Roman die Handlungen des Tartarus hinterfragten, dessen ungeheure Gleichgültigkeit die Garantie für allen Erfolg war, jagten die Würdenträger des Kreml und ihre Entourage dem kleinsten Hinweis hinterher, der Baranows Gedanken und damit die Absichten des Zaren enthüllen könnte. Diese Mission war umso aussichtsloser, als der Magier im Kreml davon überzeugt war, die Grundlage des Fortschritts sei das Plagiat, weshalb man nie wusste, inwieweit er nun die eigenen Ideen zum Ausdruck brachte oder mit denen eines anderen spielte.
Die Apotheose dieser Doppeldeutigkeit ereignete sich an einem Winterabend, an dem sich die kompakte Masse der Prunklimousinen mit ihrem Gefolge von Sirenen und Leibwächtern zu einem kleinen Avantgarde-Theater bewegte, in dem ein Einakter aufgeführt wurde, dessen Autor Nicolas Brandeis hieß. Da sah man Bankiers, Ölmagnaten, Minister und FSB-Generäle neben ihren mit Saphiren und Rubinen behangenen Geliebten Schlange stehen, um sich in einem Saal, von dessen Existenz sie bis dahin nicht einmal etwas geahnt hatten, auf zerschlissenen Sesseln niederzulassen und einer Aufführung beizuwohnen, die sich von Anfang bis Ende über die Ticks und kulturellen Ambitionen von Bankiers, Ölmagnaten, Ministern und Generälen des Inlandsgeheimdienstes lustig machte. «In einem zivilisierten Land würde es zum Bürgerkrieg kommen», behauptete der Held des Stücks an einer Stelle, «aber bei uns gibt es keine Bürger, also wird es sich bloß um einen Krieg zwischen Lakaien handeln. Das ist nicht schlimmer als ein Bürgerkrieg, nur ein bisschen abstoßender und elender.» An jenem Abend ward Baranow im Saal nicht gesehen, doch die Bankiers und Minister spendeten vorsichtshalber frenetischen Beifall: Einige behaupteten, der Autor beobachte das Parkett durch ein winziges Bullauge rechts neben der Loge.
Doch selbst diese etwas kindischen Zerstreuungen konnten nichts gegen Baranows Unbehagen ausrichten. Ab einem bestimmten Zeitpunkt begannen die wenigen Menschen, die ihm begegneten, ihm eine immer schlechtere Laune zu attestieren. Es hieß, er sei ruhelos und müde. Sei mit den Gedanken woanders. Er hatte zu früh angefangen, und jetzt langweilte er sich. Er war von sich selbst gelangweilt. Und vom Zaren auch. Der wiederum langweilte sich nie. Und dessen war er sich auch bewusst. Und begann Baranow zu hassen. Was? Ich habe dich hierhergebracht, und du wagst es, dich zu langweilen? Die Gefühle, die in politischen Beziehungen mitschwingen, sollte man nie unterschätzen.
Bis Baranow schließlich eines Tages verschwand. In einer kurzen Mitteilung aus dem Kreml wurde der Rücktritt des politischen Beraters des Präsidenten der Russischen Föderation verkündet. Danach verlor sich jede Spur, wenn man einmal davon absah, dass er weltweit immer mal wieder irgendwo aufzutauchen schien, was jedoch niemand je bestätigen konnte.
Als ich ein paar Jahre später nach Moskau kam, schwebte die Erinnerung an Baranow wie ein undeutlicher, von einem überdies massigen Körper befreiter Schatten über mir, der hier und da in Erscheinung treten konnte, wann immer seine Erwähnung nützlich erschien, um eine besonders obskure Maßnahme des Kreml zu veranschaulichen. Und da Moskau – die unergründliche Hauptstadt einer neuen Epoche, deren Konturen niemand zu fassen vermochte – unerwartet in den Vordergrund gerückt war, besaß der ehemalige Magier im Kreml sogar unter uns Ausländern seine Exegeten. Ein BBC-Journalist hatte einen Dokumentarfilm gedreht, in dem er Baranow dafür verantwortlich machte, die Bühnentricks des Avantgarde-Theaters in die Politik implementiert zu haben. ...
Erscheint lt. Verlag | 16.2.2023 |
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Übersetzer | Michaela Meßner |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft | |
Schlagworte | Belletristik • Fake News • Graue Eminenz • Intrigen • Literatur • Lüge • Macht • Magier im Kreml • Moskau • politischer Berater • Produzent • Propaganda • Putin • Putin-Ära • Reality-TV • Regisseur • Roman • Russland • Spindoktor • Vadim Baranow |
ISBN-10 | 3-406-79994-9 / 3406799949 |
ISBN-13 | 978-3-406-79994-5 / 9783406799945 |
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