Die Anfänge des letzten Zarentums (eBook)
417 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-079073-3 (ISBN)
Im Laufe des 15. Jahrhunderts verwandelte sich das lose Konglomerat der russischen Teilfürstentümer schrittweise in eine christliche Autokratie mit dem Moskauer Großfürsten und späteren Zaren an der Spitze. Eine entscheidende Rolle in der Legitimation des entstehenden Zarentums spielten Endzeiterwartungen. Sie hingen mit dem Glauben an das Ende der Welt im Jahre 1492 zusammen. Das ausgebliebene Jüngste Gericht wurde dabei zum entscheidenden Impuls, Moskau erstmalig zum neuen Konstantinopel zu proklamieren.
Im Fokus dieser komparativen Arbeit stehen die ersten russischen politisch-eschatologischen Herrschaftsvorstellungen, die an der Schwelle zur Neuzeit entworfen wurden. Es wird gezeigt, auf welche Art und Weise solche Vorstellungen in der Moskauer Rus' zum Zweck der Herrschaftslegitimation herangezogen wurden und worin die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Aktualisierung dieses Gedankenguts in der Moskauer Rus' im Vergleich zu den anderen christlichen Reichen bestanden.
Die vergleichende Perspektive auf die politische Eschatologie ermöglicht es, eine Brücke zwischen den west- und osteuropäischen Endzeitvorstellungen zu schlagen und dadurch die Geschichte der Rus' als Geschichte des christlichen Europas zu untersuchen.
David Khunchukashvili, Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin
1 Einführung
Carolus der groß ein Franck des geblüts
Ein thewrer Fürst eins edlen gmüts
Kühn/weyß/mechtig/vnd grosser sterck
Das zeugt sein that/vnd all sein werck
Erlangt von wegn seins hohen rhums
Die Monarchey des Keyserthumbs
Welch er mit ehrn vnd großer macht
Hat erstlich an die Deutschen bracht
Welchs auch in ehrn in Deutschen landen
Hat bey acht hundert jarn gestanden
Da es biß an das endt wol bleybt
Wie der Prophet Daniel schreybt.1
‚Carolus Magnus der erst deutsche Keyser‘
Burkhard Waldis, 1543
Diese Strophen stammen aus dem Gedicht des ehemaligen Franziskaners Burkhard Waldis, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits zum Anhänger Luthers geworden war. Obwohl der protestantische Pastor der katholischen Kirche nun kritisch gegenüberstand, änderte sich an seiner Vorstellung vom Römischen Reich als jenem christlichen Imperium, das bis zum Jüngsten Gericht bestehen bleiben wird, nichts: Da es biß an das endt wol bleybt, Wie der Prophet Daniel schreybt.
Die Vorstellung von einem Kausalitätsverhältnis zwischen dem Fortbestehen des letzten christlichen Imperiums und dem Fortbestehen der Welt prägte die Herrschaftsvorstellungen aller christlichen Reiche bis an das Ende der Frühen Neuzeit, und dieses heutzutage kaum bekannte Gedicht ist nur eines von unzähligen Beispielen aus der ganzen Epoche. Auch im Mittelalter wurde dieses Gedankengut mit immer neuen politisch-eschatologischen Topoi immer wieder aktualisiert.
Ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts fing das lose Konglomerat der russischen Teilfürstentümer schrittweise an, sich in eine christliche Autokratie mit dem Moskauer Großfürsten und späteren Zaren an der Spitze zu verwandeln. Eine entscheidende Rolle in der Legitimation des christlichen Zarentums spielten die in der gesamten orthodoxen Ökumene weit verbreiteten Endzeiterwartungen. Sie hingen mit dem Glauben an das Ende der Welt im Jahre 7000/1492 zusammen. Sowohl der Fall Konstantinopels im Jahre 1453 als auch das nicht eingetretene Jüngste Gericht brauchten eine theologische Erklärung. Diese bestand in der erstmaligen Projektion der im Gedicht von Burkhard Waldis angeklungenen Vorstellung vom letzten christlichen Reich auf das aufstrebende Moskauer Großfürstentum durch den Metropoliten Zosima im Vorwort zur Ostertafel für das angebrochene 8. Millennium.
Ausgehend von dieser Entwicklung, die bereits in der vorrevolutionären Forschung Aufmerksamkeit erlangte2 und die besonders in den letzten 30 Jahren immer ausführlicher thematisiert wird,3 wird in der vorliegenden Arbeit zum ersten Mal der Versuch unternommen, in transkultureller Perspektive systematisch folgende Fragen zu beantworten: Auf welche Weise wurde das politisch-eschatologische Gedankengut in der Moskauer Rus’ rezipiert und zum Zweck der Herrschaftslegitimation herangezogen? Worin bestehen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Aktualisierung dieses Gedankenguts in der Moskauer Rus’ im Vergleich zu den anderen christlichen Reichen? Und schließlich: Wie können diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede erklärt werden? Diese Fragestellungen sind bedeutend, weil sie erlauben werden, aus der transkulturellen Perspektive auf eschatologische Herrschaftsvorstellungen nachzuweisen, dass die Geschichte der Rus’ ein immanenter Bestandteil der Geschichte des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europas ist.
Politische Eschatologie als Untersuchungsobjekt
Der Terminus technicus Eschatologie besteht aus zwei griechischen Wörtern: τὰ ἔσχατα – die letzten Dinge, und λόγος – die Lehre. Unter diesem Begriff werden somit „alle diejenigen Anschauungen und Glaubensvorstellungen zusammengefasst, die die ,letzten Dinge‘ zum Gegenstand haben.“4 Wie die allermeisten historisch-philosophischen Termini, taucht auch das Wort Eschatologie erst mehrere Jahrhunderte später als das Gedankengut auf, das es definiert. Zum ersten Mal verwendete es der lutherische Theologe Philipp Heinrich Friedlieb (1603–1633) in seiner 1644 erschienenen Dogmatik.5 Ihm folgte zeitnah ein anderer lutherischer Theologe, Abraham Calov (1612–1686), der diese Terminologie „für den Schlussteil der Dogmatik und die darin begegnenden Ausführungen über die sog. letzten Dinge“ verwendete.6 Das Wort geht dabei etymologisch auf die im Buch Jesus Sirach (Sir 7,36) zu findende Ermahnung, immer an das Ende zu denken – τὰ ἔσχατά σου (das Ende von Dir) – zurück.7
In der Forschung wird üblicherweise zwischen der Universal- und der Individualeschatologie unterschieden. Die Universaleschatologie beschäftigt sich mit dem Schicksal der ganzen Welt im Jüngsten Gericht, während die Individualeschatologie dementsprechend das Geschick des einzelnen Menschen zum Gegenstand hat. Oft wird auch von kleiner und großer Eschatologie gesprochen. Diese Terminologie ist weniger überzeugend, weil sie zum einen eine gewisse Hierarchie zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiven suggeriert und zum anderen, weil sie weiterer Erklärung bedarf. Die Unterscheidung zwischen der individuellen und universalen Eschatologie ist hingegen nahezu selbsterklärend.
Die politische Eschatologie ist ein Zweig der Universaleschatologie. Ihre Besonderheit besteht darin, dass sie die Fortexistenz dieser Welt in den Zusammenhang mit dem Fortbestehen eines Staates oder eines Reichs, seltener einer Dynastie oder einer Person stellt. Solange die entsprechende Einheit fortbestehe, werde diese Welt weiterhin existieren: So lautet der Kerngedanke der politischen Eschatologie. Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Die Aufhebung der jeweiligen, die Existenz der Welt legitimierenden Einheit bzw. schon eine ernste Gefahr für ihr Bestehen deuten auf das baldige Ende der Geschichte hin. So wird die politische Eschatologie im Rahmen dieser Arbeit definiert.8
Derjenigen Einheit, von der das Fortbestehen der Welt abhängt, kommt die Bedeutung des paulinischen Katechon zu. Als Katechon wird im zweiten paulinischen Brief an die Thessalonicher Gemeinde (2 Thess 2,6–7) eine gewisse Kraft verstanden, die das Auftreten des Antichristen und somit das Eintreten der letzten Zeiten aufhält:
Ihr wisst auch, was ihn [den Antichristen, den Paulus allerdings so noch nicht nennt, Anm. D. V.] jetzt noch zurückhält (τὸ κατέχον), damit er erst zur festgesetzten Zeit offenbar wird. Denn die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit ist schon am Werk; nur muss erst der beseitigt werden, der sie bis jetzt noch zurückhält (ὁ κατέχων).9
Unter dem Katechon verstand bereits Tertullian das Römische Reich. Aus der Sicht des Theologen Paul Metzger war dies bereits für Paulus selbst der Fall: Er habe darunter „das Imperium Romanum bzw. dessen Kaiser“ verstanden.10 Die Interdependenz zwischen dem Fortbestehen des Katechon und der Existenz der Welt steht im Mittelpunkt der so verstandenen politischen Eschatologie. Durch diese Verbindung entsteht jenes herrschaftslegitimierende sowie unter Umständen auch herrschaftssubversive Potential, das dem politisch-eschatologischen Gedankengut eigen ist.
Die biblische Grundlage für die politische Eschatologie stellt neben dem eben erläuterten paulinischen Brief an die Thessalonicher Gemeinde das Buch Daniel (Dan 2 und 7) dar. Dieses Prophetenbuch möchte zwar den Eindruck vermitteln, dass es in der Zeit des babylonischen Exils (597–539 v. Chr.) verfasst wurde, was zumindest im Rahmen der christlichen Theologie Jahrhunderte lang als unumstritten galt. Doch bereits am Anfang des 4. Jahrhunderts n. Chr. konnte der Neuplatoniker Porphyrios in seiner polemischen Schrift ‚Gegen die Christen‘ quellenkritisch nachweisen, dass der Text zumindest in seiner heutigen Form erst aus der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. stammt, und zwar aus der Regierungszeit des Diadochen Antiochos IV. Epiphanes. Dies ist die heutzutage allgemein akzeptierte Datierung.11 Aus dem alttestamentlichen Buch Daniel stammen jene zwei berühmten Träume, die zur Grundlage für die christliche Lehre von der Abfolge der Weltreiche geworden sind.12
Beim ersten Traum (Dan 2) handelt es sich um die Vision des babylonischen Königs Nebukadnezar von einer aus unterschiedlichen Metallen bestehenden Statue, die durch einen vom Berg losgerissenen Stein zerstört worden sei. Nur Daniel habe es vermocht, dem König den Sinn des Gesehenen zu offenbaren:
Du, König, bist der König der Könige; dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht, Stärke und Ruhm verliehen. Und in der ganzen bewohnten Welt hat er die Menschen, die Tiere auf dem Feld und die Vögel am Himmel in deine Hand gegeben; dich hat er zum Herrscher über sie alle gemacht: Du bist das goldene Haupt. Nach dir kommt ein anderes Reich, geringer als deines; dann ein drittes Reich, von Bronze, das die ganze...
Erscheint lt. Verlag | 6.3.2023 |
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Reihe/Serie | Europa im Mittelalter |
Europa im Mittelalter | |
ISSN | ISSN |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Altertum / Antike |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Mittelalter | |
Schlagworte | Drittes Rom • Four kingdoms theory • friedenskaiser • Jüngstes Gericht • Last Judgment • Peace Emperor • political eschatology • Politische Eschatologie • Third Rome • Vier-Reiche-Lehre |
ISBN-10 | 3-11-079073-4 / 3110790734 |
ISBN-13 | 978-3-11-079073-3 / 9783110790733 |
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