Philoktet (eBook)
144 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61313-1 (ISBN)
Sophokles, geboren 497/496 v. Chr. in Kolonos, gestorben 406/405 v. Chr. in Athen, ist neben Euripides und Aischylos einer der großen drei Dichter der griechischen Klassik. Er schrieb etwa 123 Stücke, von denen nur sieben erhalten sind, darunter die Dramen ?König Ödipus?, ?Antigone? und ?Elektra?. Sie gehören zu den meistgespielten Tragödien der Weltliteratur und inspirierten über Jahrtausende hinweg das dramatische Schaffen nachfolgender Generationen.
Szene: Gelände in der Nähe des Meeresstrandes auf der unbewohnten Insel Lemnos. Im Hintergrund eine Höhle mit einem vorderen und hinteren Eingang, zu der ein Pfad hinaufführt.
Odysseus und Neoptolemos (mit einem Begleiter, s.V. 45) kommen vom Strand herauf und bleiben in einiger Entfernung von der Bühne stehen.
ODYSSEUS
Die raue Küste ist dies hier des rings umströmten Lands
von Lemnos, unbetreten und auch nicht bewohnt von Sterblichen,
wo ich, du Sohn des Besten der Hellenen,
Kind des Achilleus, Neoptolemos,
5den Melier, Sohn des Poias, einst hab ausgesetzt –
beauftragt so zu handeln von den Herrschenden –
da er von einem schwärenden Geschwür troff an dem Fuß,
als uns kein Weihguss und kein Räucheropfer
in ungestörter Ruhe zu vollziehen möglich war, vielmehr
10erfüllte er mit wilden Jammerrufen ständig das gesamte Heereslager
durch sein Geschrei und Brüllen. Doch wozu ist’s nötig, noch davon
zu reden? Denn für lange Reden ist für uns jetzt nicht die rechte Zeit,
damit er nicht noch merkt mein Kommen,
und ich den ganzen schlauen Plan vermassele, mit dem ich ihn sogleich zu fangen denke.
15Doch jetzt ist’s deine Sache, mitzuhelfen mir bei dem, was noch zu tun,
und auszuspähen, wo hier eine Felsenhöhle mit zwiefachem Eingang ist,
so, dass bei Kälte sich auf beiden Seiten ein besonnter Platz
zum Sitzen findet, und ein Luftzug in der Sommerglut
den Schlaf durch eine beiderseits durchbrochene Behausung schickt.
20Ein wenig unterhalb, zur Linken, könntest du vielleicht,
um draus zu trinken, eine Quelle sehn, falls sie noch fließt.
Da geh mir schweigend hin und gib ein Zeichen, ob er noch
an eben dieser Stelle wohnt, ob anderswo,
damit dann du den Rest, was noch zu sagen ist, vernimmst,
25und ich es dir erkläre und der Plan gemeinsam von uns beiden werde umgesetzt.
NEOPTOLEMOS
Ist zur Höhle aufgestiegen
Odysseus, Herr, der Auftrag, den du nennst, erfordert keinen langen Weg:
Ich glaube nämlich eine Höhle, wie du sie beschrieben hast, zu sehn.
ODYSSEUS
Wo? Über oder unter dir? Denn eine klare Vorstellung besitz ich nicht.
NEOPTOLEMOS
Hier, oben, und kein Hall von einem Tritt.
ODYSSEUS
30Sieh nach, ob er nicht drinnen haust und schläft!
NEOPTOLEMOS
Ich sehe die Behausung leer, ganz menschenlos.
ODYSSEUS
Und ist kein Hausrat drin, der diese wohnlich macht?
NEOPTOLEMOS
Doch, eine festgedrückte Schütte Blätter, wie von einem, der drauf ruht.
ODYSSEUS
Sonst alles kahl? Und ist nichts weiter unterm Dach?
NEOPTOLEMOS
35Aus rohem Holz ein Becher, eines Stümpers
›Kunstwerk‹, und dabei, hier, diese Feuersteine.
ODYSSEUS
Sein sind die Kostbarkeiten, die du mir da nennst!
NEOPTOLEMOS
Iuh! Iuh! Da trocknen außerdem noch Lumpen,
vom Eiter ganz durchtränkt aus einer schlimmen Wunde.
ODYSSEUS
40Der Mann haust hier an diesen Plätzen, das ist klar,
und ist nicht weit entfernt hier irgendwo. Wie sollte denn ein Mann, der krankt
am Bein durch altes Leiden, weit zu Fuß noch gehn?
Nein, er ist wohl zur Nahrungssuche fortgegangen, oder, wenn
er irgendwo hier eines kennt, zu finden ein schmerzstillend Kraut.
Odysseus (mit dem Begleiter) ist inzwischen näher an die Höhle und Neoptolemos herangekommen.
45Drum schick den Mann hier (Neoptolemos’ Diener) aus zum Spähen,
dass jener mich nicht unversehens überfällt. Denn lieber möchte er
wohl meiner habhaft werden als der Griechen insgesamt.
NEOPTOLEMOS
Gibt dem Begleiter ein Zeichen, den Spähgang anzutreten
Nun denn, er geht, der Pfad wird überwacht.
Du aber, wenn du etwas wünschst, setz deine Rede fort!
ODYSSEUS
50Achilleus’ Sohn, du musst bei dem, wofür du hergekommen bist,
dich würdig zeigen deiner angestammten Art, nicht nur mit deinem Leib,
vielmehr, wenn etwas Unerhörtes du, wovon bislang du nichts
gehört, vernimmst, mir Hilfe leisten; denn als Helfer bist du hier.
NEOPTOLEMOS
54aWas denn gebietest du?
ODYSSEUS
54b Du sollst die Seele Philoktets
55mit Reden täuschend hintergehn.
Wenn er dich fragt, wer und woher du bist,
so sage: des Achilleus Sohn – dabei braucht’s kein Vertuschen;
doch dann erzähle, dass du heimwärts segeln willst, nachdem
das Schiffsheer der Achaier du verlassen hast, da großen Hass du fasstest gegen sie,
60die dich mit Bitten hatten aufgefordert, von zu Haus zu kommen,
weil einzig so sie Aussicht hatten, Troia zu erobern,
doch dich der Rüstung des Achilleus nicht für würdig hielten,
sie dir zu geben, als du angekommen und rechtsgültig Anspruch drauf erhobst, nein,
Odysseus schanzten sie sie zu; dabei magst du, soviel du willst,
65schlimmste Lästerworte fallen lassen gegen mich.
Denn damit wirst du mich in keiner Weise kränken, aber lehnst
du mein Ersuchen ab, so wirst du allen Griechen Leid zufügen.
Denn wenn wir seinen Bogen nicht in unsre Hand bekommen,
nie wirst du dann das Land des Dardanos zerstören.
70Wieso zwar nicht für mich, jedoch für dich der Umgang
mit diesem Mann vertrauensvoll und sicher ist, erfahre nun:
Du bist nach Troia hingesegelt, niemandem durch Eid verpflichtet,
noch unter Zwang, noch an der ersten Fahrt beteiligt,
wogegen ich von alle diesem nichts bestreiten kann,
75sodass, wenn er, Gebieter seines Bogens, mich bemerken wird,
ich gleich verloren bin und dich als dein Begleiter mit in das Verderben reiß.
Nein, grade dies gilt’s listig anzuzetteln, wie zum Dieb
du seiner unbezwungnen Waffen wirst.
Ich weiß genau, mein Sohn, du bist von deinem Wesen her nicht so geschaffen,
80solch arge Dinge auszusprechen und sie listig durchzuführen.
Jedoch – denn süß ist der Besitz des Siegs –
gewinn es über dich! Ein andermal dann wieder zeigen wir als ehrlich uns.
Doch jetzt verschreib dich mir für eines Tages kurze Spanne
zu unverschämter Tat, und dann für deines Lebens Rest
85sollst aller Sterblichen Gewissenhaftester du heißen!
NEOPTOLEMOS
Ich hass es, Worte, die zu hören mich schon schmerzt,
Sohn des Laërtes, auch noch umzusetzen in die Tat.
Denn meine Wesensart ist’s, nichts mit übler Hinterlist zu tun,
ich selber nicht noch, wie man sagt, der mich gezeugt.
90Doch bereit bin ich, den Mann gewaltsam wegzuführen,
nur nicht mit Tücke. Denn nicht wird er – mit einem Fuß nur – uns,
so viele!, mit Gewalt in seine Hand bekommen.
Indes, da ich als Helfer dir bin mitgeschickt, scheu ich davor zurück,
dass ich Verräter werd genannt. Doch lieber will ich, Herr, mit Anstand handeln und
95mein Ziel verfehlen als erfolgreich sein auf schnöde Art.
ODYSSEUS
Sohn eines edlen Vaters, auch ich selbst war einst, als jung ich war,
träg mit der Zunge, aber schneidig mit der Faust.
Jetzt aber, da die Sache ich geprüft, erkenne ich, dass bei den Sterblichen
die Zunge, nicht die Taten, alles lenkt.
NEOPTOLEMOS
100Was denn befiehlst du andres mir, als dass ich lügen soll?
ODYSSEUS
Ich trag dir auf, mit List den Philoktet zu fangen.
NEOPTOLEMOS
Warum ist’s zwingend, eher ihn mit List nach Troia hinzubringen als mit Überzeugen?
ODYSSEUS
Nie lässt er überzeugen sich; und mit Gewalt fängst du ihn nicht.
NEOPTOLEMOS
Vertraut er so gewaltig denn auf seine Körperkraft?
ODYSSEUS
105Er hat die Pfeile, unentrinnbar und den Tod aussendend.
NEOPTOLEMOS
Noch nicht einmal sich ihm zu nähern darf man also wagen?
ODYSSEUS
Nein, nur wenn man mit List ihn hat gefangen, wie ich...
Erscheint lt. Verlag | 26.10.2022 |
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Übersetzer | Kurt Steinmann |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Latein / Altgriechisch |
Schlagworte | Bogenschütze • Drama • Griechische Tragödie • Held • Herakles • Lemnos • Odysseus • Sophokles • Verrat • Wahrheit |
ISBN-10 | 3-257-61313-X / 325761313X |
ISBN-13 | 978-3-257-61313-1 / 9783257613131 |
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