Das Trauma in dir (eBook)
656 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2788-4 (ISBN)
Dr. Bessel van der Kolk, geboren 1943 in Den Haag, ist Gründer des Trauma Centers in Boston, USA, Professor der Psychiatrie an der Boston University School of Medicine und leitet das 'National Complex Trauma Treatment Network'. Dr. van der Kolk arbeitet und lebt in Boston. Sein Buch wurde in den USA und England zum Millionenbestseller.
Dr. Bessel van der Kolk, geboren 1943 in Den Haag, ist Gründer des Trauma Centers in Boston, USA, Professor der Psychiatrie an der Boston University School of Medicine und leitet das "National Complex Trauma Treatment Network". Dr. van der Kolk arbeitet und lebt in Boston. Sein Buch wurde in den USA und England zum Millionenbestseller.
Prolog
Konfrontation mit dem Trauma
Man braucht nicht als Soldat in einem Krieg gekämpft und kein Flüchtlingslager in Syrien oder im Kongo besucht zu haben, um Traumata zu kennen. Wir selbst erleben sie ebenso wie unsere Freunde, Familien und Nachbarn. Untersuchungen der Centers for Disease Control and Prevention zufolge wurde einer von fünf Amerikanern als Kind sexuell belästigt; einer von vier wurde von den eigenen Eltern so brutal geschlagen, dass am Körper dauerhafte Spuren zurückgeblieben sind; und in einer von drei Paarbeziehungen kommt es zu körperlicher Gewalt. Außerdem wächst ein Viertel aller amerikanischen Bürger bei alkoholkranken Verwandten auf, und einer von acht hat mit angesehen, wie die eigene Mutter zum Opfer häuslicher Gewalt wurde.1
Menschen sind eine erstaunlich widerstandsfähige Spezies. Seit unvordenklicher Zeit haben wir uns von unablässigen Kriegen, zahllosen (sowohl von der Natur als auch von Menschenhand verursachten) Katastrophen sowie von Gewalt und Verrat immer wieder erholt. Doch traumatische Erlebnisse hinterlassen Spuren, unabhängig davon, ob sie in größeren Zusammenhängen (wie in unserer Geschichte und in ganzen Kulturen) oder in unserem unmittelbaren Umfeld und in unserer Familie stattfinden, indem dunkle Geheimnisse unmerklich von einer Generation auf die nächste übertragen werden. Auch in unserem Geist und in unseren Emotionen hinterlassen diese Dinge Spuren, und sie können unsere Fähigkeit, Freude und Intimität zu erleben, und sogar unsere biologischen Grundlagen einschließlich unseres Immunsystems beeinflussen.
Traumata wirken sich nicht nur auf diejenigen aus, die solche Ereignisse direkt erleben, sondern auch auf Menschen, die den Traumatisierten nahestehen. Soldaten, die aus dem Kampf zurück nach Hause kommen, können durch ihre Wutanfälle und ihre emotionale Unnahbarkeit ihre Familien ängstigen. Frauen, deren Männer unter PTBS leiden, werden häufig depressiv, und die Kinder depressiver Mütter entwickeln sich oft zu unsicheren und ängstlichen Erwachsenen. War ein Kind in seiner Familie häufig Gewalttätigkeit ausgesetzt, fällt es ihm als Erwachsenem vielfach schwer, stabile und vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen.
Traumata sind ihrem Wesen nach unerträglich. Die meisten Vergewaltigungsopfer, Kriegsveteranen und Menschen, die in ihrer Kindheit sexuell belästigt oder missbraucht wurden, regen sich so stark auf, wenn sie über das Erlebte nachdenken, dass sie mit allen verfügbaren Mitteln versuchen, es aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen, so zu tun, als sei nichts Besonderes geschehen, und dementsprechend zu leben. Es kostet sehr viel Energie, den Anschein eines völlig normalen Lebens aufrechtzuerhalten, obwohl man in Wahrheit ständig an entsetzliche Dinge erinnert wird und sich der eigenen Schwäche und Verletzlichkeit schämt.
Obwohl wir alle uns irgendwo wünschen, erlebte Traumata zu überwinden, ist der Teil unseres Gehirns, dessen Aufgabe die Sicherung unseres Überlebens ist (und der tief unter dem für das rationale Denken zuständigen Gehirnteil liegt), nicht besonders gut im Leugnen. Noch lange nach einem traumatischen Erlebnis kann es beim kleinsten Anzeichen einer akuten Gefahr reaktiviert werden, mobilisiert dann gestörte Gehirnschaltkreise und initiiert die Ausschüttung großer Mengen von Stresshormonen. Und dadurch werden unangenehme Emotionen, starke körperliche Empfindungen und impulsive und aggressive Aktivitäten ausgelöst. Posttraumatische Reaktionen dieser Art empfinden die Betroffenen als unerklärlich und überwältigend. Und wenn Traumatisierte das Gefühl haben, dass ihr Leben ihrer Kontrolle entgleitet, fürchten sie oft, bis in ihr tiefstes Inneres geschädigt worden zu sein und von dieser Schädigung nie mehr genesen zu können.
Die nach meiner Erinnerung erste Situation, in der ich auf die Idee kam, Medizin zu studieren, war ein nächtliches Gespräch mit meinem Vetter Michael in einem Sommercamp, in dem er mir damals Vierzehnjährigem erklärte, wie die Nieren arbeiten, wie sie die Abfälle aus dem Körper entfernen und wie sie die chemischen Stoffe, die sie dazu benötigen, reabsorbieren, um die chemische Balance innerhalb des Körpers zu erhalten. Michaels Bericht über die Funktionsweise des menschlichen Körpers fesselte mich. Später, während meiner gesamten medizinischen Ausbildung, ob im Bereich der Chirurgie, der Kardiologie oder der Kinderheilkunde, war für mich klar, dass der Schlüssel zur Heilung im Verständnis der Funktionsweise des menschlichen Organismus zu suchen ist. Doch als ich mein Pflichtpraktikum in der Psychiatrie absolvierte, verblüffte mich der Kontrast zwischen der einerseits unglaublichen Komplexität des Geistes und der Art, wie wir Menschen miteinander verbunden sind, und andererseits der Tatsache, wie wenig Psychiater über die Ursprünge der Probleme, die sie behandelten, wussten. Würden wir eines Tages über das Gehirn, den Geist und die Liebe ebenso viel wissen wie über andere Systeme unseres Organismus?
Von einem solch detaillierten Verständnis sind wir offenbar noch Lichtjahre entfernt; aber die Entstehung dreier neuer Zweige der Naturwissenschaft hat zu einer wahren Explosion des Wissens über die Auswirkungen von psychischen Traumata, Missbrauch/Misshandlung und Vernachlässigung geführt. Die neuen Disziplinen sind die Neurowissenschaft, die erforscht, welche Rolle das Gehirn bei den mentalen Prozessen spielt, die Entwicklungspsychopathologie, die sich mit der Wirkung negativer Erlebnisse auf die Entwicklung des Geistes und des Gehirns befasst, und die interpersonale Neurobiologie, die den Einfluss unseres Verhaltens auf die Emotionen, die Biologie und die Geisteshaltung der Menschen um uns herum studiert.
Untersuchungen in diesen drei neuen Wissenschaftsbereichen haben ergeben, dass Traumata zu physiologischen Veränderungen führen, unter anderem zu solchen, die sich auf das Alarmsystem des Gehirns auswirken, zu einer verstärkten Ausschüttung von Stresshormonen und zu Veränderungen in dem System, das relevante Informationen von irrelevanten trennt. Wir wissen heute, dass Traumata sich negativ auf den Gehirnbereich auswirken, der das physische, verkörperte Empfinden des Lebendigseins vermittelt. Diese Veränderungen erklären, warum Traumatisierte auf Gefahren mit Hypervigilanz reagieren und warum dies ihre Fähigkeit zu spontanem Verhalten im Alltagsleben beeinträchtigt. Außerdem helfen sie uns zu verstehen, weshalb diese Menschen so oft immer wieder die gleichen Probleme bekommen und weshalb es ihnen so schwerfällt, aus Erfahrung zu lernen. Wir wissen heute, dass ihr Verhalten keine Folge eines moralischen Mangels, unzureichender Willenskraft oder einer Charakterschwäche ist, sondern dass es durch reale physische Veränderungen in ihrem Gehirn verursacht wird.
Der gewaltige Zuwachs an Wissen über die Traumata zugrunde liegenden Prozesse hat uns auch neue Möglichkeiten erschlossen, bereits entstandene Schädigungen zu verringern oder sogar völlig zu beheben. Wir sind heute in der Lage, die natürliche Plastizität des Gehirns zu nutzen, um Traumatisierten zu helfen, sich wieder völlig lebendig und in der Gegenwart verwurzelt zu fühlen und ein normales, von belastenden Empfindungen weitgehend freies Leben zu führen. Wenn wir dies anstreben, stehen uns grundsätzlich drei Möglichkeiten offen: (1) top-down – durch Reden, (Wieder-)Herstellen einer Verbindung zu anderen Menschen und indem wir zulassen, dass wir erkennen und verstehen, was mit uns los ist, während wir unsere Erinnerungen an ein erlebtes Trauma verarbeiten; (2) indem wir Medikamente einnehmen, die unverhältnismäßige Alarmreaktionen unterbinden, oder indem wir andere technische Möglichkeiten nutzen, um die Organisation von Informationen im Gehirn zu verändern; und (3) bottom-up – indem wir dem Körper Erlebnisse ermöglichen, die jenen Gefühlen der Hilflosigkeit und Rage oder dem Zusammenbruch, zu dem es durch Traumata kommen kann, eindeutig entgegengerichtet sind. Welche dieser Möglichkeiten in einem bestimmten Fall die beste ist, lässt sich nur in Kenntnis der konkreten Situation beantworten. Bei den meisten Patienten, mit denen ich persönlich zu tun hatte, erwies sich eine Kombination der genannten Faktoren als sinnvoll.
Dies zu erforschen und zu praktizieren, habe ich zu meiner Lebensaufgabe gemacht. Und in diesem Bemühen haben mich meine Kollegen und Studenten im Trauma Center unterstützt, einer Einrichtung, die ich vor dreißig Jahren gegründet habe. Gemeinsam haben wir Tausende traumatisierter Kinder und Erwachsener behandelt: Opfer von Missbrauch und Misshandlung in der Kindheit, von Naturkatastrophen, Kriegen, Unfällen und Menschenhandel; Menschen, die von Partnern und nahen Verwandten oder von Fremden angegriffen worden waren. Im Trauma Center sprechen wir seit Langem jede Woche im Rahmen von Teamversammlungen über alle unsere Patienten und beobachten genau, wie gut verschiedene Behandlungsarten bei bestimmten Menschen wirken.
Unser wichtigstes Anliegen war immer, uns um die Kinder und Erwachsenen zu kümmern, die zur Behandlung zu uns kommen; aber gleichzeitig haben wir uns auch von Anfang an bemüht, die Wirkung traumatischer Belastungen auf verschiedene Gruppen und die Wirksamkeit bestimmter Behandlungsarten auf bestimmte Menschen zu erforschen. Wir wurden durch Forschungsstipendien des National Institute of Mental Health, des National Center for Complementary and Alternative Medicine, der Centers for Disease Control und verschiedener privater Stiftungen darin unterstützt, die Wirksamkeit verschiedenster Behandlungsformen zu untersuchen, die von...
Erscheint lt. Verlag | 23.2.2023 |
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Übersetzer | Theo Kierdorf, Hildegard Höhr |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Lebenshilfe / Lebensführung |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Psychologie | |
Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie | |
Medizin / Pharmazie | |
Schlagworte | Achtsamkeit • Alkoholabhängigkeit • Angst • Angststörung • Angst Störung • Angststörungen bekämpfen • autoaggressionen • bekämpfen • Drogensucht • Einheit • Einheit von Körper • Einheit von Körper, Geist und Seele • Entspannung • Forschung • Geist • Geist-Körper-Übung • Geist und Seele • Gewalt • Heilmethoden • Heilung • Körper • Missbrauch • Misshandlung • Neuropsychologie • Panikattacken • Posttraumatische Belastungsstörung • Psychische • Psychische Erkrankung • psychische Leiden • Psychologie • Psychotherapie • Resilienz • Seele • Selbstfürsorge • Therapie • Therapieformen • Trauma • Traumabewältigung • Traumaforschung • Traumaheilung • Traumata • Traumatherapie • van der Kolk • verarbeiten • Verkörperter Schrecken |
ISBN-10 | 3-8437-2788-0 / 3843727880 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2788-4 / 9783843727884 |
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