Den Zahlen einen Namen geben

Die Verlegungen von Neinstedter Pfleglingen und Fürsorgezöglingen von 1937 bis 1943
Buch | Hardcover
332 Seiten
2022
Verlag für Regionalgeschichte ein Imprint von Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG
978-3-7395-1343-0 (ISBN)
24,00 inkl. MwSt
„Den Zahlen einen Namen geben. Die Verlegungen von Neinstedter Pfleglingen und Fürsorgezöglingen von 1937-1943“ berichtet erstmals über die Schicksale von 1.019 Personen, die in diesem Zeitraum aus den Neinstedter Einrichtungen in die Zwischenanstalten der NS-„Euthanasie“-Morde verlegt worden sind.
In der mörderischen Ideologie der Nazis bekam die „Ausmerzung lebensunwerten Lebens“ eine unbedingte Priorität. Eugenisches Gedankengut, die vermeintlichen Erkenntnisse der „Vererbungs-Biologie“, die „Aussonderung der Minderwertigen“ und die damit bezweckte „Gesundung des Volkskörpers“ begannen im Deutschen Reich mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ ab Januar 1934 zur alltäglichen Realität zu werden. Auch in den Neinstedter Anstalten sind hunderte von Frauen und Männern gegen ihren Willen zwangssterilisiert worden. Als letzte Konsequenz dieses menschenverachtenden Denkens einer „Aussonderung der Erbungesunden“ wurden ab Herbst 1939 im Deutschen Reich die Morde an beeinträchtigten Menschen angeordnet und durchgeführt, in der Sprache der Täter beschönigend „Euthanasie“ genannt. Auch Menschen in besonderen Lebenslagen oder mit „sozialen Auffälligkeiten“, die sich nicht in die von den Nazis verordnete „Volksgemeinschaft“ einfügen ließen, wurden in die „Zwischenanstalten“ des Mordprogramms verlegt. Etliche sind schon dort umgekommen oder sie wurden in einer der Mordanstalten dieser „Aktion“, wie etwa in Bernburg, umgebracht.
Die Untaten und Morde an den Pfleglingen der Neinstedter Elisabethstiftung und den Fürsorgezöglingen des Lindenhofs stellten in der NS-Zeit kein einzigartiges Phänomen dar, sondern sie waren Bestandteil einer verbrecherischen Ideologie und gleichzeitig ein mit bürokratischer Energie verübter Massenmord. Die Freveltaten waren in Neinstedt ab 1941 direkt verknüpft mit der unheilbringenden Entwicklung des vom NS-Regime ausgelösten Kriegsgeschehens. Hinzu kam, dass die schrecklichen Untaten der NS-Mörder zur „Erhaltung der Volksgesundheit“ stets auch noch mit einem ökonomischen Nützlichkeitsdenken verbunden waren, das auch unter den verantwortlichen Theologen innerhalb der damaligen Diakonie zur Normalität gehörte und ab Juni 1941 mit den „Kriegsnotwendigkeiten“ begründet wurde. Denn die Verlegung und Ermordung der Neinstedter Bewohner war eng mit den NS-Kriegszielplanungen verbunden. Mit Beginn des „Russland-Krieges“ dienten die von ihren Bewohnern „freigemachten“ Gebäude ab Juni 1941 umgehend dem Wehrmachts-Lazarettbetrieb.
In den Neinstedter Anstalten regte sich gegen die von der „Aktion T4“ aus Berlin angeordneten „Verlegungen“ bis auf wenige, oft nicht erfolgreiche Versuche kaum ein Widerstand. Um sich heutzutage damit auseinanderzusetzen, werden in der Veröffentlichung die Biografien einiger der damaligen Mitarbeitenden genannt. Ebenso waren die Täterinnen und Täter der „Euthanasie“-Verbrechen keine namen- oder gesichtslosen Individuen. Unter ihnen waren einige Professoren der Medizin, doch auch junge Ärzte waren darin verstrickt, die, von der NS-Ideologie verblendet, ohne jegliche Skrupel bedenkenlos mordeten, oder weil sie sich durch den Massenmord an behinderten Menschen einen Karrieresprung und ein rasches persönliches Vorwärtskommen erhofften. Gleiches galt für das pflegerische und technische Personal in den Mord- und in den Zwischenanstalten. Doch gab es unter ihnen auch abkommandierte SS-Männer, ebenso wie dienstverpflichtete Krankenschwestern oder die Stenotypistinnen, die die Mordaktionen bürokratisch zu verwalten hatten.
Bis auf den heutigen Tag ist es unsere gemeinsame Verpflichtung im Sinn eines diakonischen Auftrags, den damals aus einem „Werk der christlichen Liebestätigkeit“ Verstoßenen und damit ihren Peinigern Ausgelieferten mit den beschränkten Möglichkeiten einer Forschungsarbeit wenigstens ihre Namen und ihre Schicksale zurückzugeben. Jeder der 1.019 aus Neinstedt fortgeschafften Menschen hatte einen Namen und damit verbunden eine ganz persönliche Biografie, keiner dieser gut eintausend Bewohnerinnen und Bewohner war nur eine nüchterne Zahl auf der entsprechenden Verlegungsliste. Ihnen ist das aktuelle Buch gewidmet, denn ihren Namen gilt es zu gedenken.

Reinhard Neumann, geb. 1956 in Bielefeld, war Dozent an der Fachhochschule der Diakonie und Historiker an der Evangelischen Bildungsstätte für Diakonie und Gemeinde der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Er forscht und veröffentlicht zu Themen der Diakonie-, Landes- und Sozialgeschichte.

Zum Geleit • 9
Prolog • 15
Danksagung • 21
Die zwischen 1937 und 1943 verlegten 1.019 Personen • 25
Die Vorgeschichte bis zum Jahr 1933 • 71
»Ein blühender Staat und eine gute Medicinal-polizey« • 71
Exkurs I: Der angebliche Umgang mit beeinträchtigten Menschen in der Antike • 80
Exkurs II: Martin Luthers Darstellung von Menschen mit Beeinträchtigungen • 82
Eugenik und Rassenhygiene • 93
Erster Weltkrieg und Weimarer Republik • 96
Die Haltung der Evangelischen Kirche und der Inneren Mission (IM) bis 1933 • 101
Die Radikalisierung im Umgang mit »lebensunwertem Leben« von 1933 bis 1939 • 107
Zwangssterilisierungen in den Neinstedter Anstalten • 107
Die »Reinigung des Volkskörpers« in der NS-Propaganda: Die »Reichsärzteführung« und das »Rassenpolitische Amt der NSDAP« • 114
Der Einfluss der Nationalsozialisten und der Deutschen Christen in den Neinstedter Anstalten, 1930-1933 • 118
Die Ideologie der NS-Diktatur: Martin Knolle und Hans Sommerer kommen nach Neinstedt, 1934-1939 • 123
Verlegungen von Neinstedter Pfleglingen in die Landesheilanstalt Jerichow, 30. September 1938 • 129
»Unser Werk. Ein ABC der Inneren Mission«. Eine Veröffentlichung aus dem Jahr 1939 • 134
Der Zweite Weltkrieg und die nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde bis 1941 • 137
Die NS-Kriegszielplanungen • 137
Die »Saarevakuierten« • 139
Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen und Einblicke in das »Euthanasie«-Mordgeschehen • 143
Die »Hartheim«-Statistik • 144
Die erste Phase der »Euthanasie«-Morde, 1939-1940 • 149
Die Kenntnisse über die »Euthanasie«-Morde innerhalb der Inneren Mission • 158
Verlegungen von Neinstedter Bewohnerinnen und Bewohnern in die Zwischenanstalten, 1941 • 164
Die Auseinandersetzungen zwischen dem Neinstedter Direktor Hans Sommerer und dem Anstaltsarzt Hermann Nobbe • 166
Der Krieg gegen die Sowjetunion: Die »Euthanasie«-Morde gehen weiter • 173
Einige Opfer-Biografien (1) • 177
Die »Euthanasie«-Mordanstalt Bernburg • 197
Einige Täter-Biografien (1) • 201
Der bürokratisierte Massenmord • 210
Gehirnentnahmen • 214
Rettungsversuche und »Abrufungen« in die Zwischenanstalten, 1941 • 225
Die Zwischenanstalt Altscherbitz und weitere Einrichtungen im Umfeld der »Euthanasie«-Morde • 231
Die Landesheilanstalt Altscherbitz • 233
Die Landesheilanstalt Haldensleben • 236
Die Landessiechenanstalt Hoym • 238
Die Landesheil- und Pflegeanstalt Pfafferode • 241
Weitere Ereignisse ab dem Frühjahr 1941 • 249
Evakuierungen aus Lübtheen/Mecklenburg in die Neinstedter Anstalten, April 1941 • 249
Die Beendigung der »Aktion T4«, 24. August 1941 • 250
»Eine Kirche, die sich den Mund verbieten lässt, gibt sich selber auf«. Beispiele für den kirchlichen Widerstand • 252
Neinstedt im Herbst 1941: Verlegungen und Todesfälle • 256
Die Abtransporte von Neinstedter Bewohnern im Jahr 1942 • 257
Weitere Opfer-Biografien (2) • 262
Verlegungen von Neinstedter Fürsorgezöglingen in die Landesheilanstalt Uchtspringe, 1943 • 267
Weitere Opfer-Biografien (3) • 274
Weitere Täter-Biografien (2) • 278
Verlegungen von Neinstedter Fürsorgezöglingen in das Landeserziehungsheim Gut Lüben und in die Arbeitsanstalt Schönebeck/Elbe • 280
Die Neinstedter Anstalten in den letzten Kriegsjahren • 285
Einige Besonderheiten: Die Situation der »Selbstzahler« und der »Nichtarier« in den Neinstedter Anstalten • 288
Epilog – was noch zu schreiben bleibt • 293
Abbildungen • 301
Quellen- und Literaturverzeichnis • 317
Personenverzeichnis • 327

Diese Aufarbeitung der Evangelischen Stiftung Neinstedt ist vorbildlich – sie wurde vor 10 Jahren beauftragt und ist noch nicht abgeschlossen. Auf weitere Ergebnisse der Erforschung dieses düsteren Kapitels der Harzgeschichte darf man hoffen. Die Recherchen erfolgen spät, aber sind auch heute noch extrem wichtig.
Friedhart Knolle, in: GESCH-NDS-INFO 1774, 7.8.2022
file:///S:/Nutzer/VRG/Desktop/2022NeinstedtZahlenNamengeben4Rezension.pdf

Erscheinungsdatum
Verlagsort Bielefeld
Sprache deutsch
Maße 170 x 250 mm
Gewicht 795 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Geschichte Teilgebiete der Geschichte Sozialgeschichte
Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Schlagworte Behinderte • Euthanasie • Mordanstalt • Neinstedt • Verlegung • Zwischenanstalten
ISBN-10 3-7395-1343-8 / 3739513438
ISBN-13 978-3-7395-1343-0 / 9783739513430
Zustand Neuware
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