Was ist ein lebenswertes Leben? Philosophische und biographische Zugänge (eBook)
192 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961996-5 (ISBN)
Barbara Schmitz, geboren 1968, ist habilitierte Philosophin. Sie lehrte und forschte an den Universitäten in Basel, Oxford, Freiburg i. Br., Tromsø und Princeton. Sie lebt als Privatdozentin, Lehrbeauftragte und Gymnasiallehrerin bei Basel.
Barbara Schmitz, geboren 1968, ist habilitierte Philosophin. Sie lehrte und forschte an den Universitäten in Basel, Oxford, Freiburg i. Br., Tromsø und Princeton. Sie lebt als Privatdozentin, Lehrbeauftragte und Gymnasiallehrerin bei Basel.
Einleitung
Zugänge zum lebenswerten Leben
1 Was für eine Frage!
Zur Subjektivität des lebenswerten Lebens
2 Ein Paradox?
Warum ein Leben mit Behinderung lebenswert sein kann
3 Würdig leben und die Macht der Normen
Gesellschaft und das lebenswerte Leben
4 Autonomie für soziale Wesen
Selbstbestimmung und das lebenswerte Leben
5 Hauptsache, gesund?
Krankheit und der Sinn im Leben
6 Ein Kind, das anders ist
Genetische Tests, pränatale Diagnostik und das Leben mit einem besonderen Kind
7 Lieber tot als dement?
Alter, Demenz und das lebenswerte Leben
8 »Wo Leben ist, darf Hoffnung sein«
Suizid und Hoffnung
»Warum willst du leben?«
Ein Gespräch zum Schluss
Dank
Anmerkungen
[7]Einleitung
Zugänge zum lebenswerten Leben
An einem frühen Morgen im Sommer 1999 wurde meine Tochter Carlotta geboren. Da die Geburt ein Kaiserschnitt war und sechs Wochen vor dem Termin stattfand, sah ich mein Kind erst einen Tag später: Ein ganz kleines Wesen, das mir vorher so nah gewesen war, lag nun weit weg in einem riesengroßen Brutkasten mit Schläuchen über den ganzen Körper verteilt. An den Händen hatte sie Handschuhe, um zu verhindern, dass sie sich die Kabel ausriss. Ich bat eine Pflegerin der Intensivstation, mir ihre Hände zu zeigen; ganz vorsichtig zog sie den winzigen Fäustling aus, und zum Vorschein kam das, wovon man mir zuvor schon erzählt hatte, was ich aber kaum hatte glauben können: Carlotta hatte zwölf Finger.
So begann mein Leben mit einem Kind, das ein ganz [8]besonderes, ein außergewöhnliches Kind ist. Ich ahnte damals noch nicht, dass Carlottas erste Auffälligkeit von anderen begleitet sein würde, dass sie ein seltenes genetisches Syndrom hat und dass ich ein Kind hatte, das als »geistig behindert« gelten würde. Ich ahnte auch nicht, was das für mein Leben bedeuten würde, wie es mein Denken, meine berufliche Orientierung, meine Einstellungen, meine Haltung dem Leben gegenüber verändern würde. Und ich ahnte ebenso wenig, welch unglaubliches Glück dieses Leben mit Carlotta für mich bereithalten sollte.
Eltern, die ein Kind mit einer Behinderung bekommen, sind meist schockiert, verletzt, traurig und verwirrt. Sie haben Angst vor der Zukunft, die viele Unsicherheiten mit sich bringen wird; sie spüren Wut oder Trauer, weil ihre eigenen Pläne durchkreuzt werden; sie werden mit gesellschaftlichen Reaktionen konfrontiert, mit denen sie nur schwerlich umgehen können, und sie müssen von eigenen Erwartungen Abschied nehmen.
All das war bei mir nicht anders. Ich war 31 Jahre alt, stand kurz vor dem Abschluss meiner Doktorarbeit und hatte eigentlich gar nicht geplant, überhaupt ein Kind zu bekommen. Mein Stipendium lief aus, ich war finanziell nicht abgesichert, und den Vater des Kindes kannte ich erst seit kurzer Zeit. Bereits die Entscheidung, in dieser Situation ein Kind zu bekommen, hatte mir viel Mut abgefordert. Auf ein Kind mit einer Behinderung war ich schlichtweg nicht vorbereitet.
Hinzu kam, dass ich mich mit Philosophie beschäftigte, der Wissenschaft von der Vernunft. Die Furcht vor einem Kind mit einer geistigen Behinderung, die Eltern gewöhnlich noch mehr umtreibt als die Angst vor einer körperlichen Einschränkung, war auch in mir mächtig.
Heute, mehr als 20 Jahre später, während ich diesen Essay schreibe, tanzt Carlotta neben mir durchs Zimmer. Sie will mir, die ich tänzerisch als völlig unbegabt gelte, die Schritte zeigen. [9]Ich lache und denke, dass ich durch meine wunderbare Tochter so viel lernen und entdecken darf. Das Glück, mit ihr leben zu dürfen, ihre Freude, ihre Liebe, ihre Sicht auf das Leben werden mir immer aufs Neue bewusst.
Im Frühling 2007 starb meine Schwester Ulla. Sie war Krankenschwester in einem Hamburger Spezialkrankenhaus gewesen und hatte gerade eine Weiterbildung in Akupunktur und Naturheilkunde abgeschlossen, um sich mit einer Praxis selbständig zu machen. Sie hatte einen 18-jährigen Sohn, den sie alleinerziehend aufgezogen und mit dem sie gerade die Herausforderungen der Pubertät durchgestanden hatte. Ihr Freundeskreis war dank ihrer mitfühlenden, humorvollen und warmherzigen Ausstrahlung vielfältig, ihr Leben schien so reich. Unsere Beziehung war sehr eng, wir hatten einander bei allen Wechselfällen des Lebens begleitet und waren einander Ratgeber und Stütze gewesen. Als ich von meiner ungeplanten Schwangerschaft erfahren hatte, war sie die Erste gewesen, mit der ich darüber gesprochen hatte, und sie hatte mir bei meinen Zweifeln den weisen Rat gegeben, das Kind zu bekommen.
In einer Aprilnacht nahm sie sich das Leben. Sie war 37 Jahre alt. Diese Nachricht traf mich völlig unvorbereitet, war ein Schock, der mein ganzes Leben veränderte.
Immer wieder tauchten dieselben Fragen auf: Wie hatte das geschehen können? Warum hatte sie sich nicht bei mir gemeldet? Was hatte sie zu diesem Schritt getrieben?
Warum? Warum hatte meine Schwester nicht mehr leben wollen?
Angehörige und Freunde, die einen nahen Menschen durch Suizid verlieren, leiden nicht nur unter der großen Trauer des Verlusts, sondern sie sehen sich Fragen gegenüber, auf die sie keine Antworten finden können: Was hat die verstorbene Person dazu gedrängt, einen solch schrecklichen Schritt zu vollziehen? Warum konnte man selbst nichts tun? Was bringt Menschen in unserer Welt dazu, den Tod dem Leben [10]vorzuziehen? Existentielle Fragen zu Leben und Tod gewinnen eine neue Dimension.
Diese beiden Erfahrungen – mein Leben mit Carlotta und der Abschied von Ulla – haben mein Leben geprägt, und ohne sie wäre dieses Buch nicht geschrieben worden. Als ich vor ein paar Jahren gefragt wurde, einen philosophischen Vortrag zum Thema »Was ist ein lebenswertes Leben?« zu halten, dachte ich an diese beiden Menschen. Carlottas Leben und Ullas Tod werfen die Frage von ganz verschiedenen Seiten auf. Es hat mich verwundert, verwirrt und bestürzt, dass wir in einer Welt leben, in der einerseits Menschen wie Carlotta um ihr Recht auf ein lebenswertes Leben kämpfen müssen und andererseits Menschen wie Ulla ihr Leben nicht mehr als lebenswert ansehen.
Als ich die Titelfrage zum ersten Mal aufgriff, wurde mir klar, dass es sich um eine Suche handelt, die Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen und unter verschiedenen Aspekten beschäftigt. Es wurde mir aber auch bewusst, dass mein Anliegen, darüber einen Vortrag zu halten oder auch ein Buch zu schreiben, vermessen wirken könnte. Kann man zur Beantwortung einer der wichtigsten Fragen überhaupt etwas beitragen? Bald erkannte ich, dass die Frage sich nicht systematisch und linear behandeln lässt, dass es keine eindeutige Antwort gibt, die kontextunabhängig und objektiv Kriterien liefert, um zu bestimmen, was ein lebenswertes Leben ausmacht und wem wir ein solches zuschreiben können.
Es handelt sich hier vielmehr, wie ich im ersten Kapitel erläutern werde, um eine Frage, die die subjektive Antwort eines Individuums verlangt. Eine Antwort, die immer auch die Erfahrungen des jeweiligen Menschen spiegelt.
Diese Einsicht prägt mein Vorgehen. Ich werde in diesem Essay immer wieder Bezug auf biographische Erfahrungen nehmen, werde von mir selbst, von meinem Leben mit Carlotta, von Ulla und ihrem Tod erzählen. Ich werde aber auch [11]Gespräche mit Menschen wiedergeben, die mir von ihren Antworten auf die Frage berichtet haben, und ich werde auch auf schriftliche Erfahrungsberichte zurückgreifen. Keine der in diesem Buch vorgestellten Personen ist fiktiv, keine Geschichte ist erfunden. Manchmal aber habe ich bei den dargestellten Personen den Namen verändert, um die Privatheit ihres Berichts zu schützen. Zwei schriftliche Berichte sind zudem autobiographische Erzählungen.
Die mündlichen und schriftlichen biographischen Berichte bilden die Anstöße zur philosophischen Reflexion, die das Anliegen dieses Essays ist. Individuelle Erfahrungen sind mein Ausgangspunkt für meine philosophischen Fragen, die mit philosophischen Begriffen, Theorien, Positionen und Debatten verbunden werden. Bei dieser Verbindung geht es mir nicht darum, eine eigene philosophische Theorie zu entwickeln oder zu verteidigen; ich will auch keinen unmittelbaren Beitrag zu einer fachphilosophischen Debatte liefern. Wo die Frage vermessen wirkt, muss die Antwort bescheiden ausfallen. Mein Ziel besteht darin, Zugänge zu der Beantwortung der Frage zu schaffen, Wege anzulegen, die man beschreiten kann, wenn man dieser Frage in seinem Leben gegenübersteht. In jedem Kapitel wird ein solcher eigener Zugang entworfen.
Im ersten Kapitel zeige ich, warum nur ein subjektiver Zugang zum lebenswerten Leben angemessen ist. In Kapitel zwei frage ich: Kann ein Leben mit Behinderung lebenswert sein? Warum? Kapitel drei wendet sich der Gesellschaft zu: Inwiefern sind wir immer von den Bildern unserer Gesellschaft geprägt, wenn wir unser Leben bewerten? Was genau Autonomie im Kontext der Titelfrage sein kann, wird in Kapitel vier thematisiert. Kapitel fünf beleuchtet die Fragen: Was ist Krankheit? Welche Verbindung besteht zwischen Krankheit und dem Sinn des Lebens? Im sechsten Kapitel beschreibe ich Szenen aus meinem Leben mit Carlotta und zeige auf, worin das Problem bei pränatalen Entscheidungen besteht und welcher Situation [12]Eltern mit einem Kind mit Behinderung gegenüberstehen. Kapitel sieben widmet sich dem Alter: Wie können wir Demenz verstehen? Inwiefern können auch Personen mit Demenz noch ein lebenswertes Leben haben? Kapitel acht schließlich greift ein Thema auf, das bei Diskussionen über das lebenswerte Leben oft nicht berücksichtigt wird: Suizid.
Bei der Auseinandersetzung mit diesen Themen tauchen oft auch gewichtige ethische Probleme auf wie etwa diejenigen nach den ethischen Grenzen pränataler Diagnostik oder der Rechtfertigung aktiver Sterbehilfe. Zu den komplexen Fragen, die sich in diesen Kontexten stellen, werde ich Lösungen andeuten, sie aber nicht umfassend und abschließend beantworten.
Die philosophische Frage nach dem lebenswerten Leben gleicht einem Wald, mitunter einem Dickicht, in dem die Zugänge häufig verborgen oder unübersichtlich sind. Jeder muss hier letztlich einen eigenen Weg gehen und seine eigenen Antworten finden. Mein Ziel besteht wie gesagt allein darin, Denkanstöße zu liefern, für den Einzelnen und für gesellschaftliche Debatten. Dieser Essay richtet sich somit an alle, die der Frage nach dem lebenswerten...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2022 |
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Reihe/Serie | Reclam. Denkraum |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Barbara Schmitz Beeinträchtigung • Barbara Schmitz Behinderung • Barbara Schmitz Der Wert des Lebens • Barbara Schmitz Euthanasie • Barbara Schmitz Geistige Behinderung • Barbara Schmitz Handicap • Barbara Schmitz Handikap • Barbara Schmitz Inklusion • Barbara Schmitz Selbstmord • Barbara Schmitz Selbsttötung • Barbara Schmitz Sterbehilfe • Barbara Schmitz Suizid • Barbara Schmitz Was ist unwertes Leben • Barbara Schmitz Was macht ein Leben lebenswert • Barbara Schmitz Wert eines Menschenlebens • Philosophie Beeinträchtigung • Philosophie Behinderung • Philosophie Der Wert des Lebens • Philosophie Euthanasie • Philosophie Geistige Einschränkung • Philosophie Handicap • Philosophie Handikap • Philosophie Inklusion • Philosophie Selbstmord • Philosophie Selbsttötung • Philosophie Sterbehilfe • Philosophie Suizid • Philosophie Wert eines Menschenlebens • Was ist unwertes Leben • Was macht ein Leben lebenswert |
ISBN-10 | 3-15-961996-6 / 3159619966 |
ISBN-13 | 978-3-15-961996-5 / 9783159619965 |
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