Der Streit um Pluralität (eBook)

Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt
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2022 | 1. Auflage
287 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77256-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Streit um Pluralität -  Juliane Rebentisch
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In zehn hochkonzentrierten Kapiteln legt Juliane Rebentisch Hannah Arendts politische Philosophie der Pluralität frei und diskutiert sie im Horizont gegenwärtiger Debatten. Politik und Wahrheit, Flucht und Staatenlosigkeit, Sklaverei und Rassismus, Kolonialismus und Nationalsozialismus, Moral und Erziehung, Diskriminierung und Identität sowie Kapitalismus und Demokratie sind die Stichworte der entsprechenden Auseinandersetzungen. Indem sie den Fokus auf das Motiv der Pluralität legt, lässt Rebentisch in diesen unterschiedlichen thematischen Kontexten jeweils den Zusammenhang von Arendts Gesamtwerk ebenso greifbar werden wie die Widersprüche, die es durchziehen.

Das Buch macht vermittels genauer Lektüren und unter Einbeziehung zeitgeschichtlicher Hintergründe die weitreichenden Implikationen von Arendts Denken sichtbar, und zwar vor allem dadurch, dass es die begrifflichen Sperren, die Arendt selbst diesem Denken setzte, klar herausarbeitet und konsequent kritisiert. Gerade deshalb erweist sich der Streit um Pluralität, der hier mit und gegen Hannah Arendt auf beeindruckende Weise ausgetragen wird, als überaus passende Reverenz an eine Autorin, deren Liebe zur Welt sich auch in der Streitbarkeit ihrer Urteile gezeigt hat.



Juliane Rebentisch, geboren 1970, ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main. 2017 erhielt sie den Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg.

71. Intellektuelle in finsteren Zeiten


Es besteht kein Zweifel, dass die Schriften von Hannah Arendt heute nicht zuletzt aufgrund der Aktualität ihrer Themen wieder mit großem Interesse gelesen werden. Ihre schonungslosen Beschreibungen von Flucht und Staatenlosigkeit, ihre klarsichtige Analyse der Aporien der Menschenrechte sowie ihre eindrücklichen Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Wahrheit haben Eingang in die öffentlichen Debatten unserer Zeit gefunden. Arendts Lebenswirklichkeit war bekanntlich geprägt durch die Erfahrung von Antisemitismus, Staatsterror, Flucht und Staatenlosigkeit und, in den USA, durch die Enthüllungen einer von unwahren Behauptungen, von Täuschung und Selbsttäuschung seitens der US-Regierung durchzogenen Geschichte des Vietnamkriegs. Trotz der historischen Differenz scheinen Arendts Versuche, ihre eigene Gegenwart zu verstehen, in unsere hineinzusprechen. Noch nicht einmal ein halbes Jahrhundert nach Hannah Arendts Tod im Dezember 1975 finden wir uns in einer Situation wieder, in der eine ethnonationalistische Rechte global Triumphe feiert, in der wir bezeugen mussten, wie ein US-Präsident von Anfang bis Ende seiner Amtszeit alles daransetzte, die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu untergraben, und in der die schlimmen Zustände in den immer zahlreicheren und immer größeren Flüchtlingslagern – der Arbeit internationaler Hilfsorganisationen und NGOs zum Trotz – jeden Tag aufs Neue den brutalen Kern nationalstaatlicher Souveränität demonstrieren. »Liest man Hannah Arendt heute […]«, schreibt Richard J. Bernstein, »überkommt ei8nen ein fast schon unheimliches Gefühl zeitgenössischer Relevanz«.[1] 

Sosehr also die Themen begründen, warum Arendt heute posthum als »Denkerin der Stunde« erscheint: Die gegenwärtige Arendt-Renaissance erklärt sich nicht im alleinigen Blick auf die Themen. Es gibt darüber hinaus eine Faszination für die Person der Denkerin selbst, die sich zum einen Hannah Arendts bewegter Biographie im Strudel der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verdankt,[2]  zum anderen aber auch dem intellektuellen Temperament einer Frau, die dieses Jahrhundert in Weisen gedeutet hat, die keineswegs unwidersprochen geblieben sind. Von diesem Temperament zeugen nicht nur einige Bild- und Tonaufnahmen, zum Beispiel das berühmte Fernsehinterview mit Günter Gaus.[3]  Es steckt auch im Ton all ihrer Texte, in der außerordentlichen Unabhängigkeit ihrer Urteile und in der großen 9Konsequenz, mit der sie diese trotz zum Teil erheblichen Gegenwinds und persönlicher Kosten in der Öffentlichkeit vertrat. Die geistesgeschichtliche Bedeutung Hannah Arendts bemisst sich nicht zuletzt an den zum Teil heftigen Kontroversen, die ihre Publikationen in der Öffentlichkeit auslösten.

Arendt war eine streitbare Intellektuelle, und diese Streitbarkeit hat einen Rückhalt in ihren Überzeugungen. Einen regelrechten Bärendienst würde man dem Erbe Hannah Arendts erweisen, würde man ihren Schriften die Autorität heiliger Texte zusprechen und sie so aus dem Raum der lebendigen Auseinandersetzung entfernen. Eine solche Heiligsprechung zu versuchen, wäre vermutlich ohnehin kein sonderlich aussichtsreiches Unterfangen, denn es ist eine der wesentlichen Qualitäten von Arendts Arbeiten, dass sie sich genau dagegen sperren: zu provokativ oft die Thesen, zu sarkastisch häufig der Ton, zu eigensinnig die Argumentation. Zwischen diesem Eigensinn der Texte und den darin entfalteten Thesen besteht ein interner Zusammenhang. Denn dass vom Werk die Person der Autorin nicht abzuziehen ist, dass sie in ihm auf spezifische Weise präsent bleibt, ist keine Äußerlichkeit, wenn es um ein Motiv geht, das sich wie ein roter Faden durch all ihre Publikationen zieht: Pluralität.

Tatsächlich steht die Überzeugung, dass menschliche Würde nicht ohne Pluralität gedacht werden kann, im Hintergrund ihrer umstrittensten Interventionen. So grundiert diese Überzeugung ihre Verurteilung der Gedankenlosigkeit als einer banalen, aber darum besonders weitreichenden 10Form des Bösen im Eichmann-Buch ebenso wie ihre eigenwillige Verteidigung sozialer Diskriminierung im Kontext ihrer Auseinandersetzung mit den staatlichen Maßnahmen zur Desegregation an Schulen im US-amerikanischen Little Rock. Sie ist auch zentral für ihre Hauptwerke Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Vita activa und Über die Revolution. Die Überzeugung, dass die Entfaltung menschlicher Würde auf Pluralität angewiesen ist, bestimmt ihren Begriff der Öffentlichkeit und ihre Unterscheidung von Macht und Herrschaft; sie motiviert Arendts Kritik der modernen Arbeitsgesellschaft ebenso wie ihre Aversion gegen die Gleichsetzung von Souveränität und Freiheit sowie den Sog der Brüderlichkeit. Sie ist in ihrer frühen Kritik der Assimilation ebenso präsent wie im Spätwerk über das Denken und Urteilen. Kurz: Arendts Texte können in wesentlichen Zügen als Beiträge zu einer »Apologie der Pluralität«[4]  gelesen werden.

Hebt man das Arendt'sche Begriffsnetz von der Seite der Pluralität hoch, wird jedoch nicht nur ein Zusammenhang des Gesamtwerks deutlich, vielmehr gewinnt der Begriff der Pluralität auch umgekehrt durch die unterschiedlichen Beleuchtungen und Bezüge an Komplexität. Wie ich im Folgenden zu zeigen hoffe, eröffnen sich auf diese Weise überdies Perspektiven auf das Werk Hannah Arendts, die sich im Horizont gegenwärtiger Debatten als einschlägig erweisen, und zwar nicht zuletzt dadurch, dass sie es erlauben, 11Arendt gegen Arendt zu diskutieren. Dass Arendts Schriften zu einer solchen – mit der Autorin gegen sie streitenden – Lektüre einladen, hat indes nicht nur etwas mit dem Gedankenreichtum ihrer Schriften, sondern auch mit der Qualität der Präsenz der Autorin in ihnen zu tun. Denn diese wirkt einer unbedachten Übernahme der Thesen entgegen und fordert stattdessen zur aktiven Stellungnahme heraus. In diesem Effekt zeigt sich, dass sich das Motiv der Pluralität auch noch in der Weise manifestiert, wie Arendt ihre Publikationen, wie sie ihre eigene öffentliche Rolle verstanden hat.

Ihrem Selbstverständnis als öffentliche Intellektuelle kommt man vielleicht dort am nächsten, wo sie über das intellektuelle Profil eines anderen spricht. In ihren »Gedanken zu Lessing«, die sie anlässlich der Entgegennahme des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg 1959 vortrug, zeichnet sie ein Bild Lessings, in dessen Konturen sich die von Arendt selbst erkennen lassen. Lessing wird hier charakterisiert als jemand, der noch dort, wo er sich zum Denken zurückzog, zu anderen hinsprach.[5]  Das Denken, das die westliche philosophische Tradition seit Platon zumeist dem Handeln kontrastiert, weil es mit einem Rückzug von der Welt verbunden ist,[6]  zeichne sich bei Lessing durch einen »heimlichen Bezug« (GL 19) zum Handeln und auf die Welt aus. Bei Arendt ist dieser Bezug freilich nicht heimlich geblieben. Ihre Liebe zur Welt ist sicher ein wesentlicher Grund, weshalb sie sich angesichts des traditionellen 12Spannungsverhältnisses zwischen Philosophie und Politik, zwischen Denken und Handeln trotz ihres Studiums der Philosophie nicht als Philosophin, sondern als politische Theoretikerin (vgl. GG 45) verstand, der es im Denken um die Welt (des Handelns und der Politik) selbst geht. Arendts Selbstverständnis als politische Theoretikerin bezieht sich aber nicht nur auf die Gehalte ihres Denkens oder auf dessen impliziten Bezug zur Öffentlichkeit. Vielmehr geht es auch um die Idee davon, wie dieses Denken in ihren Schriften erscheint, wie es öffentlich auftritt. Auch in diesem Punkt gibt es eine gewisse Resonanz mit ihrer Charakterisierung Lessings.

Mehr noch als der eigenen Position sei Lessing nämlich, wie Arendt betont, dem intersubjektiven Raum verpflichtet gewesen, in dem die eigene Position von anderen verhandelt und also auch bestritten werden kann. Es wäre ein Missverständnis, aus dieser Haltung einen erkenntnistheoretischen Relativismus oder gar eine frivole Indifferenz den eigenen Überzeugungen gegenüber abzuleiten. Lessing war überaus parteiisch und geradezu obsessiv detailversessen in der Sache. Aber jede noch so leidenschaftlich vertretene und hart erarbeitete Überzeugung richtete sich an die Öffentlichkeit als...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg 2017 • Nationalsozialismus • neues Buch • Philosophie • Politsche Philosophie • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste
ISBN-10 3-518-77256-2 / 3518772562
ISBN-13 978-3-518-77256-0 / 9783518772560
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