Mehrsprachigkeit (eBook)

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2021 | 3. Auflage
255 Seiten
UTB GmbH (Verlag)
978-3-8463-5652-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mehrsprachigkeit -  Brigitta Busch
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Wer erforschen will, wie wir Sprachen erleben, Sprachen erwerben und mit Sprachen umgehen, findet in diesem Buch aktuelle soziolinguistische Zugänge zur Mehrsprachigkeit - mit Fokus einmal auf handelnde und erlebende Subjekte, dann auf verfestigte Diskurse und Sprachideologien und schließlich auf räumlich und zeitlich situierte Praktiken. Das 2013 von Brigitta Busch vorgestellte sprachbiografische Arbeiten gilt mittlerweile als international anerkannte Methode zur wissenschaftlichen Erhebung und Analyse sprachlicher Repertoires. Die Neuauflage wurde um Passagen zu Gebärdensprachen, zu migrations- und sprachenpolitischen Neuausrichtungen unter dem Vorzeichen sogenannter Sicherheitspolitiken, zu Alltagspraktiken der Mediennutzung sowie zu Sprachregimen in urbanen Räumen und in der Arbeitswelt erweitert.

Prof. Dr. Brigitta Busch lehrt am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Mehrsprachigkeit und aktuell Visualisierung von Sprache insbesondere bei traumatischen Erfahrungen. Sie ist Expertin des Europarates für die Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten.

Einleitung
1 Das Sprachrepertoire – eine Subjektperspektive
1.1 Biografische Zugänge zur Mehrsprachigkeit
1.2 Das sprachliche Repertoire
1.3 Zur Methode biografischer Forschung
1.4 Lebensweltliche Mehrsprachigkeit
1.4.1 „Ein Fuß ist deutsch und ein Fuß slowenisch“
1.4.2 Multilingual aufwachsen
1.4.3 Repertoire und Lebensphasen
1.5 Translokale Biografien
1.5.1 „Wenn man keine Sprache hat…“ –
Sprachwechsel und Sprachverlust
1.5.2 „Wenn ich in einer Sprache bin, habe ich immer
die andere auch im Blick“ – Subjektpositionen und
Sprachideologien
2 Sprachideologien – eine Diskursperspektive
2.1 Zum Konzept ‚Sprachideologien‘
2.2 Ein Exkurs zu Ideologie, Hegemonie und Diskurs
2.3 Sprachenpolitik: Sprachideologien in Aktion
2.3.1 Kategorisierungen von Sprachen
und Sprecher*innen
2.3.2 Nationalsprachen – Das Making-of
2.3.3 Sprachhierarchien – (Post-)Kolonialismus
2.3.4 Der Integration-durch-Sprache-Diskurs
2.3.5 Minderheitensprachen und Sprachenrechte
3 Sprachregime – eine Raumperspektive
3.1 Globalisierung und Sprache
3.2 Sprachliche Praktiken und räumliche Anordnungen
3.2.1 Das Konzept ‚Sprachregime‘
3.2.2 Regionale Mehrsprachigkeit
3.3 Exploration kleinräumiger Sprachregime
und Kommunikationspraktiken
3.3.1 Theoretische und methodische Zugänge
3.3.2 Exploration kleinräumiger Sprachregime
3.4 Multilinguale Sprecher*innen in monolingualen
Institutionen und Organisationen
3.4.1 Sprachmittlung in institutionellen
Zusammenhängen
3.4.2 Administration und Rechtswesen
3.4.3 Gesundheitswesen
3.5 Für eine Schule der Mehrsprachigkeit
3.5.1 Schulsprachprofile
3.5.2 Unterrichtsmodelle im Umgang
mit Mehrsprachigkeit
3.5.3 Eine Pädagogik der Heteroglossie
Anhang
Literaturverzeichnis
Index

Einleitung

Mehrsprachigkeit ist von einem Randthema zu einem zentralen Thema geworden, sowohl gesellschaftlich-politisch als auch wissenschaftlich betrachtet. Lange Zeit wurde Einsprachigkeit als Normalfall angesehen, Zweioder Mehrsprachigkeit – ob es um einzelne Sprecher*innen, Regionen oder Länder ging – als Sonderfall. Angesichts weltweiter wirtschaftlicher Verflechtungen und politisch-räumlicher Neukonfigurationen, angesichts weitverbreiteter Mobilität, Migration und Teilnahme an transnationalen Kommunikationsnetzwerken, also angesichts von Phänomenen, die unter dem Stichwort ‚Globalisierung‘ zusammengefasst werden, wird Mehrsprachigkeit immer mehr als Teil der Alltagsrealität wahrgenommen.

Der Titel dieses Buchs – Mehrsprachigkeit – beschreibt also ein Alltagsphänomen. Er klingt einfach und zugleich etwas vermessen, denn die Mehrsprachigkeitsforschung hat sich im letzten Jahrzehnt international gesehen zu einem bedeutenden und ständig wachsenden Feld wissenschaftlicher Tätigkeit entwickelt. Das Buch erhebt nicht den Anspruch, einen ausgewogenen Überblick über dieses verästelte und nahezu unüberschaubar gewordene Feld zu geben, in dem sich nicht nur Soziolinguistik, Sprachlehr- und -lernforschung, Psycholinguistik, Neurolinguistik und andere Zweige der Sprachwissenschaft bewegen, sondern darüber hinaus auch andere Disziplinen wie Literaturwissenschaft, Soziologie, Kultur- und Sozialanthropologie oder Politikwissenschaft. Wohl aber sollen in diesem Buch aktuelle Themen, Entwicklungen und Tendenzen in der Mehrsprachigkeitsforschung zur Sprache kommen. [9]

Behandelt werden Konzepte wie Sprachrepertoire, Sprachideologien oder lokale Sprachregime, die vor allem für sprachwissenschaftlich geschulte oder interessierte Leser*innen von Interesse sein werden. Die Kapitel zu Methoden greifen vor allem neuere Zugänge auf. Dazu zählen die biografisch orientierte Forschung oder visuelle Methoden wie Linguistic Landscape oder kreative wie das Zeichnen von Sprachenporträts. Diese Kapitel richten sich über den Kreis von Studierenden der Sprachwissenschaft hinaus auch an solche benachbarter Studienrichtungen wie Philologien, Bildungswissenschaft oder Sozialwissenschaften. Die Darstellung der Themen erfolgt anhand konkreter Beispiele, die sowohl auf meine eigene Forschungspraxis in Österreich, Südosteuropa und Südafrika als auch auf internationale Literatur zurückgreifen. Damit soll das Buch über weite Strecken auch für Leser*innen zugänglich sein, die an Fragen der Mehrsprachigkeit interessiert sind, aber nicht unbedingt über spezifisches Fachwissen verfügen.

Das Buch führt die Lesenden an verschiedene Orte, zum Beispiel in Volksschulen in einem Wiener Gemeindebezirk und einem Arbeiterviertel von Kapstadt, in den Schalterraum der Einwanderungsbehörde in Barcelona oder in eine zweisprachige Gemeinde in Südkärnten. Es lädt dazu ein, sich an diesen verschiedenen Orten mit den Wirkungsmechanismen von Sprachideologien zu beschäftigen: So wird anhand des Asylverfahrens danach gefragt, was geschieht, wenn Sprecher*innen mit einem multilingualen Repertoire auf Institutionen mit einer monolingualen Routine treffen, und es wird gezeigt, wie Sprachtests in den Dienst von Abschottungspolitiken gestellt werden. Am Beispiel von Südosteuropa wird offengelegt, wie aus einer Sprache drei, dann vier wurden, und am Beispiel der österreichischen Statistik, wie aus mehrsprachigen Sprecher*innen einsprachige werden. Und das Buch macht mit Menschen bekannt: Sie erzählen davon, wie sie Ausschluss aufgrund von Sprache erfahren haben, weil sie vom Dorf in die Stadt umgezogen sind; oder davon, wie sie unter Sprachverlust und Sprachwechsel gelitten haben, nachdem sie aus ihrem Land vertrieben wurden; auch davon, wie sie damit umgehen, mit einem Bein in Frankreich und einem in Deutschland zu stehen; oder davon, wie sie ihre sprachlichen Ressourcen spielerisch und kreativ einsetzen.

Essenzialisierende Konzepte von Sprache und Mehrsprachigkeit werden dabei stets einer kritischen Prüfung unterzogen. Demgegenüber stellt das Buch den sprechenden Menschen bzw. das multilinguale Subjekt in den Mittelpunkt, arbeitet die soziale und diskursive Konstruiertheit sprachlicher Kategorien heraus und betrachtet sprachliche Praktiken [10] in unterschiedlichen sozialen Kontexten. Diesen Schwerpunktsetzungen folgend gliedert sich das Buch in drei Teile, welche Mehrsprachigkeit aus der Subjekt-, der Diskurs- und der Raumperspektive in den Blick nehmen.

Zweisprachigkeit, Mehrsprachigkeit, Diversität, Heteroglossie

Mehrsprachigkeit – der Begriff ist nicht ganz unproblematisch und wird innerhalb der angewandten Sprachwissenschaft zunehmend kritisch hinterfragt. Lange Zeit wurde die Beschäftigung mit Mehrsprachigkeit vor allem ausgehend vom englischen Sprachraum unter dem Begriff ‚Bilingualismus-Forschung‘ zusammengefasst, womit die Zweisprachigkeit als Sonderfall von der als Normalfall betrachteten Einsprachigkeit abgegrenzt wurde. Manche benützten in der Folge auch den Begriff ‚Trilingualismus‘, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass oft mehr als zwei Sprachen im Spiel sind. Um die Reihenfolge des Spracherwerbs oder Hierarchisierungen im individuellen sprachlichen Repertoire zu bezeichnen, hat man Begriffe und Abkürzungen wie Erstsprache, Zweitsprache, L1, L2, L3, Ln eingeführt. Das impliziert die Annahme, dass Sprachen klar voneinander abgrenzbar und somit zählbar seien.

Seit einigen Jahren wird in der angewandten Sprachwissenschaft darüber diskutiert, wie aus der Perspektive des Fachs Sprache gefasst und verstanden werden kann. Hinterfragt wird dabei vor allem die Vorstellung von Sprachen als voneinander klar abgegrenzte Entitäten, also die Annahme, dass Sprachen wie etwa Deutsch, Englisch, Russisch im Gebrauch trennscharf unterschieden werden können, was letztlich Auswirkungen auf damit verbundene soziale Zuschreibungen und Abgrenzungen hat (Makoni und Pennycook 2007). Geht man von konkreten sprachlichen Praktiken aus und nimmt eine Sprecher*innenperspektive ein, so kann Sprache nicht als etwas Objekthaftes verstanden werden. Im englischsprachigen Raum wird daher von einigen Autor*innen der Begriff languaging dem Wort language vorgezogen, um das Dynamische und Prozesshafte sprachlicher Hervorbringungen zu unterstreichen (z. B. García 2009).

„Es ist unmöglich, die Sprachen abzuzählen“, gibt Jacques Derrida (1997: 25) zu bedenken. Und er führt weiter aus: „Es gibt keine Abzählbarkeit [comptabilité] der Sprachen, weil die Einheit der Sprache, die sich aller arithmetischen Abzählbarkeit entzieht, niemals bestimmt ist.“ Tatsächlich kommt man, wenn man sich mit konkreten sprachlichen Praktiken, mit Sprache in der Interaktion auseinandersetzt, nicht umhin, sprachliche [11] Differenz und Differenzierung als Ausgangspunkt anzunehmen. Diese sprachliche Vielfalt umfasst eine ganze Bandbreite sprachlicher und kommunikativer Ressourcen – verschiedene Varietäten, Register, Jargons, Genres, Akzente, Stile, mündlich wie schriftlich –, die sich teilweise einem Sprachsystem, teilweise einem anderen zuordnen ließen, teilweise auch mehreren oder keinem. Sprecher*innen bewegen sich in ihrem Alltag gewöhnlich sicher, und ohne sich dessen bewusst zu werden, in dieser komplexen Vielfalt: Sie greifen auf unterschiedliche sprachliche Ressourcen zurück, die beispielsweise für ein kurzes Gespräch auf der Straße auf eine regional gefärbte Umgangssprache verweisen, auf Lingua-franca-Englisch, wenn sie einem Touristen den Weg erklären, auf ein fachsprachliches Register, um über ein Problem am Arbeitsplatz zu sprechen, auf eine literarisch ausgeprägte Standardsprache, wenn sie einen Roman lesen. Jede dieser Arten des Sprachgebrauchs nimmt Bezug auf unterschiedliche sozialideologisch geprägte Diskurse, sie greift auf unterschiedliche individuelle Stimmen zurück und bedient sich sprachlicher Mittel, die auf unterschiedliche geografische, soziale und historische Kontexte verweisen (siehe Kapitel 1.2). Mit der Orientierung auf Redevielfalt stützt sich das Buch auf grundlegende Arbeiten des russischen Literatur- und Sprachwissenschafters Michail Bachtin aus den 1930er Jahren, der mit seinem Konzept der Heteroglossie die Vorstellung in Frage stellt, Sprachen als in sich geschlossene, einheitliche Systeme zu betrachten. Die einheitliche Sprache ist nicht etwas Gegebenes [dan], sagt Bachtin (1979: 164), sondern etwas, das vorgegeben oder vorgeschrieben wird [zadan], und sie steht immer im Gegensatz zur Realität der Heteroglossie, zur „tatsächlichen Redevielfalt“.

Der Begriff ‚Heteroglossie‘ bezeichnet die vielschichtige und facettenreiche Differenzierung, die lebendiger Sprache innewohnt. Bachtin folgend (Todorov 1984: 56) ist es sinnvoll, in der Beschäftigung mit sprachlichen Praktiken in multilingualen Kontexten den Begriff in drei Richtungen zu differenzieren: Multidiskursivität [raznorečie] meint, dass in jedem Sprechen Verweise auf verschiedene Räume und Zeiten enthalten sind, die auf unterschiedliche Weise sozialideologisch konstituiert sind. Jede dieser Zeiten – bestimmte Epochen, Perioden oder Tage – und jeder dieser Räume – Staaten, Altersgruppen, Familien oder Szenen – ist verbunden mit spezifischen Weltsichten und Diskursen. Vielstimmigkeit [raznogolosie] meint, dass wir...

Erscheint lt. Verlag 9.8.2021
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Sprachwissenschaft
Schlagworte Bildungschancen • DAF • DAZ • Deutsch als Fremdsprache • Erstspracherwerb • Fremdspracherwerb • Germanistik • Heterogenität • Lehrbuch Linguistik studieren • Linguistik • Mehrsprachigkeit in der frühkindlichen Bildung • mehrsprachigkeitsforschung • Muttersprache • (Post)-Kolonialismus • Schulsprachprofile • Soziolinguistik • Sprachdidaktik • Sprachenpolitik • Sprachenporträt • Spracherwerb • Sprachunterricht • Sprachwechsel • Sprachwissenschaft • Zweitspracherwerb
ISBN-10 3-8463-5652-2 / 3846356522
ISBN-13 978-3-8463-5652-4 / 9783846356524
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